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Archiv-Artikel

„Ich brauche keine WM“

UNMUT Eine Protestwelle erschüttert Brasilien. Ein Jahr vor der Fußballweltmeisterschaft protestieren Hunderttausende im ganzen Land gegen überhöhte Preise im Nahverkehr und teure Sportspektakel

AUS RIO DE JANEIRO ANDREAS BEHN

Die Demonstranten haben ihr Versprechen gehalten. „Wenn sich nichts ändert, werden wir Brasilien lahmlegen,“ skandieren sie seit Beginn der Proteste vor gut zwei Wochen. Am Montagnachmittag strömten dann Zigtausende auf die Straßen in mehreren Städten. Lautstark protestierten sie gegen die Verschwendung öffentlicher Gelder, verfehlte Stadtpolitik und korrupte Politiker. Es waren die größten Proteste seit 20 Jahren in dem Land, das derzeit Gastgeber des Confederations Cup ist, des Probeturniers für die Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien.

In der Nacht auf Dienstag schlug die Wut in Gewalt um. Im Zentrum von Rio de Janeiro spielten sich gespenstische Szenen ab: Hunderte Demonstranten stürmten das Landesparlament, die wenigen Polizisten im Gebäude konnte es kaum verteidigen. Auf der majestätischen Eingangstreppe zerrten Vermummte an Absperrgittern, während andere fröhlich die Nationalflagge schwenkten. Es wurde scharf geschossen, Autos und Barrikaden brannten in den umliegenden Straßen.

In fast allen Großstädten des Landes gab es Protestmärsche. In der Hauptstadt Brasília stürmten die Demonstranten das Gelände des Nationalkongresses, einige Hundert besetzten das Dach des Gebäudes. In São Paulo führte der Protestmarsch durch ein Reichenviertel, später ging es ebenfalls zum Landesparlament. Anders als in Rio de Janeiro kam es hier nicht zu Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Auslöser der Protestwelle war die Anhebung der Busfahrpreise um rund 7 Prozent. Seit Jahren kämpft die Bewegung für kostenfreie öffentliche Transportmittel (Movimento Passe Livre, MPL) gegen deren Privatisierung und horrende Preise für einen miserablen Service. Bereits am vergangenen Donnerstag war die Polizei mit Tränengas, Pfefferspray und brutaler Gewalt gegen die Demonstranten vorgegangen. Über zehn Journalisten wurden von Gummigeschossen getroffen, mehrere während ihrer Arbeit festgenommen.

Image als Fußballland

Bei einem Dialogversuch auf Einladung der Stadtregierung von São Paulo beharrte die MPL darauf, ausschließlich über eine Rücknahme der Preiserhöhung zu verhandeln. Längst kann sie nicht mehr im Namen aller Demonstranten sprechen. Es gehe um viel mehr als die Preiserhöhung, sagte eine Demonstrantin, „die Lebenshaltungskosten sind einfach nicht mehr zu bezahlen.“ Die Transparente sind eindeutig: „Brasilien ist endlich aufgewacht“, „Es geht nicht um 20 Centavos [Preiserhöhung], es geht um Rechte“. Oder: „Ich brauche keine WM, ich will Bildung und Gesundheit“.

Allein in Rio de Janeiro sollen knapp hunderttausend Menschen an dem Marsch teilgenommen haben. Der große Zulauf steht im Zusammenhang mit den Polizeiübergriffen der letzten Wochen. Auffällig war, dass diesmal kein einziger Polizist die Großdemo begleitete. Erst bei den Angriffen auf die Parlamentsgebäude griff die Polizei ein. In Rio de Janeiro ist zumindest ein Demonstrant von scharfer Munition am Arm getroffen worden.

Die Regierung hat verstanden, dass es dem Image des Landes nicht gut tut, zur Zeit des Confederations Cup und vor den Augen der Weltöffentlichkeit mit hartem Gummi auf Protestierende und Journalisten zu schießen. Doch jetzt steht sogar das Image Brasiliens als Fußballland infrage, denn der Unmut richtet sich gegen die Großevents des Sports: die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 in Rio, für die zusammen mindestens 20 Milliarden Euro an Steuergeldern ausgegeben werden.

Statt sich auf das Fußballfest im kommenden Jahr zu freuen, fragen sich die Leute, warum „ihre“ Stadien plötzlich privatisiert werden, warum die Eintrittskarten unerschwinglich werden, warum der private Weltfußballverband Fifa bestimmen kann, was die Fans essen und trinken. Profitieren – da sind sich fast alle einig – wird kaum ein Brasilianer von dem Spektakel, ganz im Gegensatz zu den Sponsoren und korrupten Fußballfunktionären.

Der gemeinsame Nenner des Protests ist die Unzufriedenheit, sei es mit selbstherrlichen, korrupten Politikern oder den prekären öffentlichen Diensten. Das politische Spektrum auf den Demonstrationen ist allerdings sehr breit. Die einen schwingen rote Flaggen linker Splitterparteien, andere fordern, „Parteien und Gewerkschaften sollen den selbstbestimmten Protest nicht vereinnahmen“. Als ein Lautsprecherwagen die Nationalhymne anstimmt, singen viele mit, andere beginnen ein Pfeifkonzert.

Global Player

Fraglos sind die Proteste schon jetzt zu einem Problem für die Regierung geworden. Präsidentin Dilma Rousseff wurde vom Ausmaß des Unmuts offenbar überrascht. Für sie sind die Großevents ein Schritt in Richtung Global Player – die Regionalmacht Brasilien hat mittlerweile die siebtgrößte Volkswirtschaft und möchte auf internationalem Parkett eine wichtige Rolle spielen.

Auch zu Hause kann die Mitte-links-Regierung der Arbeiterpartei PT auf zehn erfolgreiche Jahre zurückblicken. Durch effektive Sozialprogramme geht die Armut zurück, und immer mehr Menschen profitieren von dem langen Wirtschaftsaufschwung. Trotz der Protestwelle erfreut sich die Regierung Rousseff immer noch sehr guter Umfragewerte.

Obwohl auch Dilma Rousseff von den Demonstranten aufs Korn genommen wird, kann die Bewegung nicht als Opposition zur PT-Regierung gewertet werden, was derzeit vor allem die rechte Presse sowie konservative Parteien tun. Sie sprechen von Inflation und anderen Missständen – in der Hoffnung, die wahrscheinliche Wiederwahl von Rousseff im kommenden Jahr zu erschweren.

Ein Zurück zur konservativen Politik vergangener Jahre will die Protestbewegung jedoch nicht. Die Demonstranten wollen mehr Demokratie, mehr soziale Politik und mehr Rechte. Deswegen fordern sie den Rücktritt des Gouverneurs und des Bürgermeisters von Rio de Janeiro – beides stramm rechte Politiker, aber Teil der breiten Koalition von Dilma Rousseff.

Gesellschaft + Kultur SEITE 14, 15