: Fenster zum Hof
Heute beginnt die 56. Berlinale – mit besonders vielen deutschen Filmen. Jenseits des damit verbundenen Hypes können Filme wie Detlev Bucks „Knallhart“ oder Valerie Grisebachs „Sehnsucht“ vor allem eines: das Bekannte und Alltägliche neu entdecken
VON CRISTINA NORD
Bis vor knapp einem Jahr wohnte ich in Berlin-Neukölln, an der Kreuzung von Sonnenallee und Weichselstraße. Keine schöne Gegend. An der einen Straßenecke ein 99-Cent-Laden, an der anderen ein ehemaliger Kinobau, in den vor langer Zeit eine Plus-Filiale eingezogen war. Bog man in die Weichselstraße ein, stieß man auf eine Hartz-IV-Beratungsstelle, ging man in die entgegengesetzte Richtung, fanden sich kleine, mit Trödel und Tand vollgestopfte Läden; Schleiflack- und Polstermöbel verstellten den Bürgersteig davor – beredte Zeichen einer Ökonomie, die aus zweiter Hand lebte. Und die Menschen? Denen merkte man an, dass sie bessere Tage gesehen hatten. Denn die Armut traf in dieser Gegend von Neukölln fast alle – und trifft sie vermutlich noch heute: die herkunftsdeutschen Alkoholiker, die Eckensteher mit UÇK-Vergangenheit, die Deutschtürken und die Araber.
Als ich vor wenigen Tagen im Kino saß, erlebte ich ein seltsames Déjà-vu: Ich sah auf der Leinwand die Sonnenallee, und zwar nicht das östliche, von Leander Haußmann geadelte Ende, sondern den Abschnitt zwischen Fulda- und Weichselstraße. Ein junger Mann geht dort entlang, die Hände in den Hosentaschen, mit einer ähnlichen Nonchalance, wie sie Julia Hummer in „Gespenster“ an den Tag legte. Vorbei geht er an einem zurückgesetzten Treppenaufgang, der mir in lebendiger Erinnerung ist, weil es dort streng nach Urin roch, vorbei an einem Haus, an dessen Eingangstür mehrere Schilder auf Arztpraxen hinweisen; später treibt sich dieser junge Mann namens Michael am Hermannplatz herum, am ockerfarben ausgekachelten U-Bahnhof Karl-Marx-Straße, und einmal betritt er einen der Ramschläden in der Weichselstraße, um sich im Untergeschoss mit einem schmierigen Hehler zu treffen. Michael ist der Held in Detlev Bucks Gangster- und Coming-of-Age-Film „Knallhart“, einem Film, der dem Berliner Bezirk eine ganz neue Qualität verleiht – nicht nur der entsättigten Farbgestaltung wegen. Denn im Kino erhalten die Neuköllner Straßen einen ungeahnten Glanz. Die große Leinwand veredelt sie so, dass sie das Versprechen von Gefahr und Glamour bergen. Wer diese Straßen zu kennen glaubte, der kann sie hier in neuem Licht entdecken.
Das Bekannte, Alltägliche neu entdecken: Das ist es, was der deutsche Film, der auf der heute beginnenden Berlinale besonders stark vertreten ist, leisten kann. Koproduktionen, Sondervorführungen und Kurzfilme nicht eingerechnet, laufen im Wettbewerb vier deutsche Produktionen, im Panorama acht (darunter „Knallhart“), fünf im Forum, und 13 Filme präsentiert die von Alfred Holighaus betraute Sektion Perspektive Deutsches Kino. Das ist mehr als bei jeder vorangegangenen Berlinale und Grund zur Freude – wenn auch nicht in jenem nationalstolzen Sinne, der Festivalmacher und Filmbranche blendet. Patriotismus ist im Kino, dieser weltumspannenden Kunst, ganz und gar fehl am Platze. Grund zur Freude vielmehr deshalb, weil diese Filme die Lust an der Reflexion und die Neugier auf die Beschaffenheit der Wirklichkeit entfachen. Was zeigt mir das Kino von der Welt, in der ich lebe? Wie präsentiert es mir das, was mich umgibt? Welche Einsichten macht es dadurch möglich, welche Wahrnehmungsweisen, welche Denkräume erschließt es? Was zeigt es von der Art, wie man sich kleidet, wie man redet, wie man einem Beruf nachgeht oder das Arbeitsamt aufsucht, Auto fährt, Zigaretten raucht?
Dabei ist der Buck’sche Blick auf Neukölln natürlich nur eine von vielen Optionen. Wenn „Knallhart“ daran arbeitet, den pauperisierten Stadtteil im Stile von Scorseses „Mean Streets“ aufzuladen, dann entsteht dabei zwar ein unbekanntes Bild von Neukölln, doch zugleich bleibt der Film der bekannten Genre-Dramaturgie treu. Ein wenig Narzissmus tritt ohnehin zutage, sobald man entdeckt, dass die eigene Wohngegend kinowürdig ist. Wer den eigenen Wasserkocher auf der Leinwand sieht, dessen Leben wird schon nicht ganz bedeutungslos sein.
Doch es steht mehr auf dem Spiel. Das Kino ist imstande, Gesellschaft in Bildern zu reflektieren und so zur Selbstverständigung beizutragen. Nicht im Großen, nicht in der steilen These oder der wohlwollenden Botschaft, sondern im Kleinen, im registrierenden, beobachtenden Modus. Das Kino – gleich ob Spielfilm oder Dokumentarfilm – kann in die Straßen einbiegen, die man meidet; es kann die Tür zur Nachbarwohnung aufstoßen und Geschichten erzählen, von denen man keine Ahnung hat, weil man nie hinter diese Tür schaut. Je mehr sich Gesellschaft ausdifferenziert, umso mehr ihrer Bereiche entziehen sich dem Erfahrungshorizont des Einzelnen. Und in dem Maße, in dem vieles dem partikularen Lebensentwurf fremd bleibt, wächst die Herausforderung, dafür im Kino Bilder zu finden.
Leicht auszuhalten ist der Blick hinter die verschlossene Nachbarstür nicht in jedem Fall: Andres Veiels Panorama-Beitrag „Der Kick“ ist dafür ein gutes Beispiel. Der Film baut auf dem gleichnamigen Theaterstück auf; das wiederum dokumentiert, was Zeugen und Angeklagte im Prozess um einen Mord im nordbrandenburgischen Potzlow aussagten. Drei junge, rechtsgerichtete Männer quälten einen vierten Jugendlichen, bis dieser starb; anschließend verscharrten sie die Leiche bei einer Jauchegrube. Veiel arbeitet mit zwei Darstellern, einem Mann und einer Frau, die in die unterschiedlichen Sprecherrollen schlüpfen und die entsprechenden Aussagen vortragen. „Der Kick“ ist ein statischer, theaternaher Film; niemals verlässt er den Bühnenraum; niemals blendet er dokumentarisches Material ein. In seiner Nüchternheit erschließt er, was in Leuten, die arbeitslos und ohne Perspektive in Brandenburg leben, vorgeht, wie sie die Welt sehen, wie sie sich ein Verbrechen erklären. Und wie sie sich herausreden.
In eine ähnliche Richtung bewegt sich Romuald Karmakar, insofern es auch ihm um die Rekonstruktion einer Binnenperspektive geht: In seinem Panorama-Beitrag „Hamburger Lektionen“ stellt er Vorträge nach, die der damalige Imam der Hamburger Al-Quds-Moschee, Mohammed Fazazi, im Januar 2000 hielt. Fazazi gilt als Vertrauter der Selbstmordpiloten, die die Anschläge vom 11. September 2001 verantworteten. Indem „Hamburger Lektionen“ zwei dieser Vorträge von dem Schauspieler Manfred Zapatka sprechen lässt, vermittelt der Film Einblick in die Weltsicht eines Islamisten.
Im Wettbewerb darf man auf Hans-Christian Schmids „Requiem“ gespannt sein; der Spielfilm geht auf einen fait divers zurück, einen Fall von Teufelsaustreibung, der sich Mitte der 70er-Jahre in Süddeutschland zutrug. Und natürlich freut man sich auf Valeska Grisebachs zweiten Langfilm „Sehnsucht“ – wie in ihrem Debüt „Mein Stern“ (2001) arbeitete die Regisseurin mit Laiendarstellern; es geht um ein Paar, das sich seit Kindertagen kennt; die beiden leben auf einem Dorf in der Nähe von Berlin. Bei einer Reise in eine größere Stadt, die der Mann mit seinen Kollegen von der freiwilligen Feuerwehr unternimmt, verliebt er sich in eine andere Frau. Weder er noch die Geliebte noch die Ehefrau finden sich in dem Dreieck zurecht.
Von einem Paar in der Krise handelt auch Ulrich Köhlers schöner Forums-Beitrag „Montag kommen die Fenster“. Wie ist es, wenn man angekommen ist in seinem Leben, mit festem Partner, Tochter, Haus und fester Stelle; wenn man Mitte 30 ist und merkt, dass es von hier aus jetzt immer so weitergeht? Weil sie diesen Gedanken nicht aushält, bricht die Hauptfigur des Filmes, die Ärztin Nina (Isabelle Menke), aus ihrem Alltag aus. Köhler zeigt das in der ihm eigenen Zurückhaltung; weit entfernt ist er von der Tristesse, die so vielen deutschen Beziehungsfilmen der überkommenen Geschlechterrollen und der angestrengten Komik wegen eigen ist.
Der Gabe des Kinos, Gesellschaft im Kleinen, im Privaten zu reflektieren, kommt umso größere Bedeutung zu, als sich die Medien, deren Aufgabe diese Reflexion wäre, immer mehr der Schnelligkeit verpflichten: dem schnellen Bild, der schnellen Analyse, dem sofortigen Bescheidwissen. Dabei entstehen Pauschalurteile und Halbwissen. Je genauer aber man sich eine Sache anschaut, umso weniger angemessen wird man dies finden. Zu entdecken, dass hinter den Gemeinplätzen ein Raum liegt, von dem ausgehend man die Dinge neu diskutieren kann, dabei kann und soll das Kino helfen.
Wie hilfreich der genaue, unaufgeregte Blick im Zusammenhang mit der aktuellen Debatte um Migration und Islam sein kann, zeigt der Forums-Beitrag von Aysun Bademsoy. Ihre Dokumentation „Am Rande der Städte“ porträtiert in lockeren Skizzen Türken, die in Deutschland gelebt und gearbeitet hatten, bevor sie in die Türkei zurückkehrten. Heute leben sie am Rand von Küstenstädten, in vergleichsweise exklusiven Hochhaussiedlungen am Meer. Der etwa 55 Jahre alte Inhaber einer Reinigung beschreibt, wie ihn Deutschland „die Arbeit“ gelehrt habe, das frühe Aufstehen, die langen Arbeitsstunden. Eine junge Frau sehnt sich nach Rindswurst und Knödeln. Ein Ehepaar klagt, dass es nicht nach Deutschland reisen könne, um den dort gebliebenen Sohn samt der Enkelkinder zu besuchen. Der Mann hat Schwierigkeiten, auf Deutsch das Wort für Enkelkind zu finden, die Frau korrigiert ihn. Ein Visum zu erhalten, sagt sie, sei nahezu unmöglich, in jedem Fall mit viel Aufwand verbunden. Schließlich setzen sich die beiden auf die Couch und singen ein Lied: „Deutschland, bitteres Land, nie lächelt es einen an. Deutschland, Land voller Trauer, wo man nicht lacht.“
Lässt man das Klischee von der mediterranen Lebenslust und dem gefühlskalten Norden einmal beiseite, so erzählt dieses Lied von einer unerträglichen Situation: Es ist unerträglich, in ein Land zu gehen, dessen Bewohner einen nicht als Menschen, sondern nur als Arbeitskraft sehen. Es ist unerträglich, 20, 30 Jahre in einem solchen Land zu verbringen, ohne hinterher für einen Besuch zurückkehren zu können. Bademsoys Film gelingt es, etwas wachzurufen, was sich aus der öffentlichen Debatte um Migration verabschiedet hat: Empathie.
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