: Folklore auf der Hipstermeile
NEUKÖLLN Der gebürtige Pakistaner Asim Munir verkauft im Neuköllner Norden bayerische Trachten – unter anderem nach China und in die USA. Das typische Deutschland, das im Ausland oft mit Dirndln verbunden wird, kenne er aber gar nicht, sagt Munir
■ Gebiet: Der Bezirk ist 44,93 Quadratkilometer groß und erstreckt sich vom Südrand Kreuzbergs bis an die Brandenburger Stadtgrenze Berlins.
■ Bevölkerung: In Neukölln leben mit etwa 320.000 Menschen fast 10 Prozent aller BerlinerInnen. 51 Prozent der NeuköllnerInnen leben im nördlichen Drittel des Bezirks.
■ Miete: Der durchschnittliche Mietpreis in Neukölln liegt laut dem Mietspiegel der Internetplattform Immowelt je nach Wohnungsgröße zwischen 7,60 und 8,17 Euro. Das entspricht etwa dem Berliner Durchschnitt von 7,96 Euro pro Quadratmeter. Die Mietpreise im Bezirk sind laut Berliner Mietspiegel seit 2007 um 23 Prozent gestiegen.
■ Migrationshintergrund: Der Anteil der MigrantInnen innerhalb der Neuköllner Bevölkerung liegt bei 41,1 Prozent, der Ausländeranteil liegt bei bei 22,3 Prozent. Die Einwanderer stammen aus mehr als 140 verschiedenen Herkunftsländern. Während der Migrantenanteil im Norden des Bezirks bei über 52 Prozent liegt, betrifft er im Süden etwa 29 Prozent.
■ Soziales: Die Arbeitslosenquote liegt im Bezirk Neukölln mit 17,2 Prozent (Stand Februar 2013) deutlich über dem Berliner Durchschnitt, der bei 11,8 Prozent liegt. (akw)
VON ALKE WIERTH
Ein überdimensionales Hotdog auf haarigen Fliegenbeinen hängt im Schaufenster eines Galeriecafés in der Nordneuköllner Bürknerstraße. Eine Ecke weiter zieht die schlichte Eleganz dänischer Wohnzimmermöbel aus den sechziger Jahren die Blicke an. Dazwischen ein spanischer, ein polnischer, ein deutscher Buchladen, Bars und Cafés – und die kleinen Ateliers vieler junger Mode-, Schmuck- oder Sonst-was-DesignerInnen aus aller Herren Länder, die sich hier zwischen Maybachufer, Kottbusser Damm und Sonnenallee niedergelassen haben.
Das Geschäft von Asim Munir fällt zwischen den ambitioniert dekorierten Schaufenstern kaum ins Auge. Hier verhindert pastellfarbenes Transparentpapier den Blick ins Innere des kleinen Ladenlokals. Nur ein Zettel an der Tür gibt einen Hinweis darauf, mit welcher für Neukölln eher ungewöhnlichen Ware hier gehandelt wird: „Trachtendiscount“ steht da handgeschrieben, dabei eine Handynummer und kurze Öffnungszeiten.
Passende Mieder
Was sich hinter der Tür verbirgt, passt auf den ersten Blick so gar nicht in den hippen Kiez. Rot-weiß-kariert, rosa-gold-geblümt oder in klassischem Grün lagern hier deckenhoch Dirndln. Die Silber- und Goldketten der passenden Mieder blitzen aus Plastikverpackungen, Hirschhornknöpfe leuchten hell von derb-braunen Wildlederhosen.
Ganz oberflächlich betrachtet könnte der Dirndl-Händler selbst durchaus als typisch bayerisch durchgehen: Zu lockeren Jeans trägt der 1,90-Meter-Mann ein zünftig kariertes Hemd, er lacht gern und viel und sein Gesicht schmückt ein wallender Vollbart. Doch Bayer ist der 36-Jährige ganz und gar nicht. Zwar ist Munir in der Nähe von Bergen aufgewachsen, doch es waren die des Himalaja, nicht die der Alpen. Der Trachtenhändler ist in Pakistan geboren, in der Stadt Sialkot an der nordöstlichen Grenze des Landes zu Indien, berühmt für ihre Textilproduktion. Mit zehn wanderte er zu Verwandten nach Großbritannien aus, wo er später Wirtschaft studierte. Vor 13 Jahren kam er dann nach Berlin: als Mitglied eines Familienunternehmens, das weltweit mit Textilien handelt.
Mit Trachtenmode, Dirndln und Lederhosen hat Munir dabei eigentlich nicht viel am Hut. Er selbst habe im Leben noch keine Krachlederne getragen, sagt er lachend. Und das Oktoberfest in München hat er sich ein einziges Mal angesehen. Nein, schockiert sei er nicht gewesen, sagt er, wieder lachend: „Ich habe ja gewusst, wie es da zugeht.“
Religion ist Privatsache
Seins ist das Feiern auf diese Art aber nicht: Munir trinkt keinen Alkohol, er ist gläubiger Muslim, und seine Religion sei ihm wichtig, sagt er – „aber Privatsache“. Dass der Gedankengang „Pakistan – Islam – Terroranschläge“ meist sofort erfolgt, wenn er sein Herkunftsland und seine Religion erwähnt, lässt das Lachen des Mittdreißigers ersterben. Hinter alldem stecke „Politik“, sagt er. Er selbst jedoch redet lieber übers Geschäft.
Das boomt, je näher das Oktoberfest rückt, das längst nicht mehr nur in München gefeiert wird. „Es geht im März los“, sagt Munir, „und jetzt, im Sommer, beginnt die Hochsaison.“ Neuköllner Laufkundschaft ist es nicht, an die Asim Munir seine Produkte verkauft – sein Geschäft macht er im Internet. Um die 300 Bestellungen täglich würden derzeit verschickt: „An Kunden in Deutschland, Österreich, der Schweiz, aber auch in Japan, China und den USA.“
Etwa 400 verschiedene Dirndlnmodelle hat der Trachtenversand im Lager, erklärt Munirs Mitarbeiter Amir Corbic, die Preise liegen zwischen 50 und 150 Euro. Hergestellt würden die Sachen „im Ausland“, genauer will er nicht werden: Der Markt sei umkämpft, die Konkurrenz hart, so der in Berlin geborene Sohn von Einwanderern aus dem damaligen Jugoslawien.
Eine türkischstämmige Mitarbeiterin wiederum übernimmt Verpackung und Verschickung. Rosa und rot gehe derzeit am besten, sagt sie. Echte Klassiker oder dauerhafte Kundenlieblinge gebe es aber nicht: „Das wechselt so schnell wie die Mode.“ Wer bei Munirs Trachtendiscount kaufe, wolle eben auch nicht „das Dirndl fürs Leben“, so Corbic. „Unsere Kunden werfen das alte Kleid nach dem Oktoberfest lieber weg.“ Dann sei es durchgeschwitzt und schmutzig, „und im nächsten Jahr wird ein neues gekauft.“ Auch er hat noch nie selbst Lederhosen getragen.
Dass sie hier verkaufen, was vielerorts in der Welt als typisch deutsches Kulturgut gilt, wischen beide mit der gleichen Handbewegung weg: Ach was! Dirndl, das sei mittlerweile einfach Teil der Mode „weltweit“, sagt Corbic.
Das Einwandererkind Corbic ist vor 31 Jahren hier im Kiez geboren, hat hier Grundschule und Gymnasium besucht – und den Pakistaner Munir „beim Crepeessen“ kennengelernt, so Corbic. Ob er Arbeit suche, habe der ihn gefragt, ob er Englisch könne? Mittlerweile sind die beiden seit zehn Jahren ein Team. „Und Freunde“, sagt Corbic.
Es ist das Team hinter der unscheinbaren Tür des Ladens, das den Trachtendiscount dann doch wieder haargenau in den Neuköllner Norden passen lässt. Beruflich reise er durch die Welt, „aber der Kiez hier ist mein Dorf“, sagt Amir Corbic: „Hier kenne ich jeden.“ Und wen er nicht kennt, der wird kennengelernt.
„Zweiseitig“ sehe er die Veränderung seines Heimatbezirks. „Auf der einen Seite ist es toll, dass man jetzt jeden Abend etwas Neues mit Menschen aus der ganzen Welt erleben kann. Ich habe jetzt einen Freund in Tokio!“ Aber es sterbe mit dem Zuzug und den steigenden Mieten auch „ein Stück Berliner Kultur“, die typische Eckkneipe etwa. Wenn auch noch die türkischen Männercafés schließen müssten, „dann reicht es“, sagt Corbic. Dann verliere der Kiez seinen Charme. Aber daran glaubt er nicht: Der Boom sei doch schon wieder vorbei.
Chef Munir bewegt die Veränderung im Kiez nicht – ihm falle sie gar nicht auf. Seit Jahren lebt er auf der anderen Kanalseite im benachbarten Kreuzberg: multikulti, belebt, bunt. Da fühlt er sich zu Hause. Ein „typisch deutsches Deutschland“, sagt der Trachtenhändler, wie es im Ausland oft mit dem Bild von Dirndln und Lederhosen transportiert wird, habe er nie kennengelernt. Seine Heimat sei „da, wo die Familie ist“, sagt der Vater von vier Kindern. Und die lebt auf der ganzen Welt.