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„Jungen werden nicht benachteiligt“

ERZIEHERINNEN Kinder wählen oft von sich aus stereotype Rollen. Das muss nicht so sein, sagt die Psychologin Bettina Hannover

Bettina Hannover

■ ist Psychologin, lehrt an der FU Berlin. Dort leitet die Professorin das Projekt „Geschlechtsspezifische Sozialbeziehungen als Determinanten früher Bildungsprozesse“.

INTERVIEW ANNA LEHMANN

taz: Frau Hannover, 97 von 100 Erzieherinnen sind weiblich. Werden Jungen dadurch diskriminiert?

Bettina Hannover: Dafür gibt es zumindest im schulischen Bereich keinerlei Belege. Zum Beispiel wurde in der Grundschul-Lese-Untersuchung Iglu untersucht, ob sich das Geschlecht der Lehrperson auf die Lesekompetenz der Kinder auswirkt. Das ist nicht der Fall. Wir untersuchen gerade, ob Erzieherinnen im Kindergarten unterschiedlich mit Jungen und Mädchen umgehen.

Was haben Sie herausgefunden?

Jungen gelingt es seltener, eine qualitativ gute Beziehung zur Erzieherin aufzubauen.

Liegt das an der Erzieherin oder an den Jungen?

An beiden. Die Erzieherinnen unterstützen Aktivitäten weniger, die eher Jungen mögen, wie etwa Fußballspielen und Toben. Erzieherinnen basteln oder backen lieber mit den Kindern, bieten also Aktivitäten an, die man eher Mädchen zuschreibt. Die Jungen gehen umgekehrt auf die Spiel- und Lernangebote der Erzieherinnen weniger ein als die Mädchen.

Erzieherinnen sollen also mehr Fußball spielen und raufen?

Erzieherinnen sollten am besten sagen: Ich spiele zwar nicht so gern Fußball, Toben ist auch nicht so mein Fall. Aber ich mache das jetzt trotzdem mal. Prinzipiell müssen wir darauf achten, welche Modelle wir abgeben. Das gilt auch für die Lehrerinnen und Lehrer in der Schule und ebenso für die Eltern. Wenn zum Beispiel die Mutter immer mit dem Kind zum Einkaufen fährt und der Vater ist fast nie dabei, sitzt er möglicherweise später beim Autofahren automatisch am Steuer. Daraus lernen die Kinder auf subtile Weise Geschlechterstereotype und reproduzieren sie später im eigenen Verhalten.

Lesen ist laut der Iglu-Studie eher eine Mädchensache. Woran liegt es, dass Jungs nicht so gern lesen?

Wir wissen aus der Entwicklungspsychologie, dass Kinder ab etwa drei Jahren stark darauf bedacht sind, keine Geschlechterstereotypen zu verletzen. Beispielsweise Mädchen, die Fußball spielen und viel herumtollen, sind bei anderen Kindern ebenso unbeliebt wie Jungen, die mit Puppen spielen und einen Kuchen backen. Wenn Jungen nun in der Kita lernen, dass eine Erzieherin vorzugsweise mit den Mädchen liest, Lesen also offensichtlich Mädchensache ist, dann entwickeln Jungen eine höhere Distanz zu dieser Aktivität.

Ließe sich die Leseunlust einiger Jungen dadurch beheben, dass mehr männliche Erzieher im Kindergärten arbeiten?

Das kann man mit wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht untermauern. Aber es wäre gut, wenn auch in dieser Berufsgruppe Frauen und Männer gleichermaßen eine Perspektiven- und Erfahrungsvielfalt einbringen würden.

Ein Schulbuchverlag gibt getrennte Diktate heraus: „Vorbereitung auf das Endspiel“ für Jungs und „Die Modenschau“ für Mädchen. Ist das hilfreich?

Das ist totaler Blödsinn. Hier werden schlicht Geschlechterstereotype reproduziert. Das trägt mit Sicherheit dazu bei, dass die Kinder sich noch stärker an den Vorstellungen ausrichten, wie Jungen und Mädchen zu sein haben.

Was wäre sinnvoller?

Es kann immer nur um die individuelle Förderung gehen. Das heißt, wir müssen die Voraussetzungen jedes einzelnen Kindes in den Blick nehmen. Das biologische Geschlecht ist dabei nur eines von vielen Merkmalen, die diese individuellen Lernvoraussetzungen beeinflussen und prägen.

Was heißt das für die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher?

In der Ausbildung sollte das Wissen darüber vermittelt werden, was Geschlechtsstereotype sind und wie sie wirken. Und wie sie eben auch von Erzieherinnen und Erziehern vermittelt werden und sich in der Interessen- und Leistungsentwicklung von Mädchen und Jungen niederschlagen.

Damit Jungs nicht mehr benachteiligt werden?

Jungs werden nicht benachteiligt. Die Debatte, die wir zurzeit führen, ignoriert vollkommen, dass junge Männer im Berufsleben nach wie vor erfolgreicher sind als junge Frauen. Jungen schneiden zwar im Bildungssystem an bestimmten Stellen schlechter ab. Aber sie setzen später ihren Schulerfolg wirkungsvoller als junge Frauen in eine erfolgreiche berufliche Karriere um. In der Arbeitswelt geht es also nach wie vor darum, strukturelle Benachteiligungen von Frauen abzubauen.

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