: Unvorhergesehene Annäherung
GELEBTE GESCHICHTE Burkhard Seeberg, DKP-Mitglied aus dem westfälischen Münster, lernt bei den Weltfestspielen eine FDJlerin aus Rostock kennen. Sechs Jahre später scheitert ein Fluchtversuch, die beiden kommen ins Gefängnis, werden vom Westen freigekauft, heiraten. Heute erzählt Seeberg diese deutsch-deutsche Geschichte als Zeitzeuge an Schulen
■ Insgesamt acht Millionen Besucher hatten die X. Weltfestspiele der Jugend nach offiziellen Angaben – davon allein 520.000 FDJler. 6.250 Abgesandte schickten die sozialistischen Brüderländer, aus dem „kapitalistischen Ausland“ kamen sogar 6.500 offizielle Gäste. 4.260 hauptamtliche Mitarbeiter der Stasi waren getarnt unterwegs, um den Verlauf der Festivals zu kontrollieren, hinzu kamen 19.800 uniformierte Volkspolizisten. Zu Verhaftungen kam es – wiederum nach behördlichen Angaben – nur in 24 Fällen.
■ Die repressiven Maßnahmen im Vorfeld der Spiele hatten es in sich: Mit 19.779 Bürgerinnen und Bürgern führte die Staatssicherheit Gespräche, 2.293 Personen wurden „vorsorglich“ verhaftet. 800 Menschen mussten die „Hauptstadt der DDR“ für die Zeit der Festspiele verlassen, 574 weitere wurden solange mit einer Urlaubssperre belegt. 477 Personen wurden kurzerhand für krank erklärt – und in die Psychiatrie eingewiesen. (jut)
VON BARBARA BOLLWAHN
Burkhard Seeberg ist Zeit seines Lebens mit den X. Weltfestspielen verbunden. Der 59-Jährige hat einen Sohn, den es ohne das Jugendtreffen von 1973 nicht geben würde. Seeberg ist damals 19, lebt in Münster, ist Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und reist mit einem Tagesvisum von Westberlin in die Hauptstadt der DDR. Dort lernt er ein Mädchen kennen, Heidemarie, eine 16-jährige Schülerin aus Rostock, Mitglied der Freien Deutschen Jugend (FDJ), eine der offiziellen 288.000 Festivaldelegierten der DDR. Eine solche deutsch-deutsche Annäherung hat der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker sicher nicht im Sinn, als er die Weltfestspiele ein „Fest der Lebensfreude“ nennt.
Wenn Burkhard Seeberg heute an der Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz steht, wo er sich damals einige Male mit der Rostockerin verabredet, fällt es dem kräftigen, weißhaarigen Mann mit den blauen Augen schwer, die verblassten Bilder in Einklang zu bringen mit der heutigen Hauptstadt des längst wiedervereinten Deutschlands. „Die Reise mit dem Zug war erschreckend“, erzählt er beim Kaffee in einem Biergarten hinter dem Park Inn, damals ein Interhotel, „ich war der einzige unter 50.“
Fahnen und Trümmer
In Ostberlin angekommen, erlebt er einen Kulturschock: „Die vielen Tribünen, Transparente und Fahnen einerseits, die Kriegstrümmer andererseits.“ Die Atmosphäre aber erscheint ihm „ungezwungen und offen“. Er unterhält sich mit Jugendlichen aus der DDR, anderen Ostblockstaaten und Westeuropa über Vietnam, Laos und Kambodscha, die Befreiungsbewegungen in Afrika, die innerdeutschen Beziehungen.
Durch „einen glücklichen Zufall“ lernt er auf einer Grünanlage beim Roten Rathaus das Mädchen von der Ostsee kennen. „Ich war überrascht, weil sie kein FDJ-Hemd trug“, erinnert er sich. Es erstaunt ihn auch, dass viele Jugendliche aus der DDR offen zugeben, „weniger aus politischen Gründen bei den Weltfestspielen zu sein“. Dabei ist Seeberg sehr an Politik interessiert. Nach einem Motorradunfall hat er die Leichtathletik aufgeben müssen, „ich stürzte mich in die Politik.“ Seit er 16 ist, gehört er der DKP an, er organisiert Schülerstreiks, besucht Marxismusschulungen, lernt einen einstigen Personenschützer des Kommunistenführers Ernst Thälmann kennen. Auf Anraten seiner Partei studiert er Mathematik – weil es bei den Naturwissenschaften keine DKP-Hochschulgruppe gibt.
Stundenlang unterhalten sich der Münsteraner und die Rostockerin über ihre unterschiedlichen Lebensverhältnisse, spazieren durchs Scheunenviertel, setzen sich hin, „wo nette Musik gespielt“ wird, essen in einer Wildgaststätte an der Frankfurter Allee. Etwas verschämt beschreibt Seeberg seine Gefühle: „Wir haben ein bisschen geknutscht, später wurde es emotionaler.“ Drei Tage verbringen sie zusammen, fernab vom offiziellen Programm, das Seeberg gar nicht kennt. Er gehört nicht zur 800-köpfigen offiziellen Delegation westdeutscher Jugendverbände, der ersten, die zu Weltjugendfestspielen fährt. Während sie nachts zu ihrem Schlafquartier in eine Schule nach Lichtenberg muss, fährt er über den Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße nach Westberlin, wo er bei einem Freund übernachtet. „Das war schon deprimierend.“
Bei einer zweiten Tasse Kaffee erzählt Burkhard Seeberg, er habe die DDR damals durch „eine rosarote Brille gesehen“. Den „wahren Sozialismus“ lernt er kennen, als die Weltfestspiele längst vorbei sind und er weiter Kontakt zu Heidemarie hält. Bei seinem ersten Besuch an der Ostsee, zwei Monate nach den Weltfestspielen, spricht ihn ein Stasimann an. „Ich habe mich bei einem Genossen der DKP-Schiedskommission beschwert“, erzählt er, „es gab entsprechende Absprachen zwischen der DKP und der SED.“ Die beiden schreiben sich regelmäßig, als Heidemarie eine Ausbildung in einer Apotheke macht, telefonieren sie manchmal über deren Anschluss. Zwei Jahre nach ihrem Kennenlernen verloben sie sich. Fünfzig-, sechzigmal reist Seeberg in die DDR. Dann lässt er seine DKP-Mitgliedschaft auslaufen. Er hat Angst, dass der Verfassungsschutz auf ihn aufmerksam werden könne.
Schließlich heckt er einen Fluchtplan aus, um seine Freundin aus der DDR zu holen. Den Pass einer Münsteraner Freundin, die Heidemarie ähnlich sieht, lässt er fälschen, von Schönefeld fliegt das Paar nach Budapest, von wo es nach Österreich gehen soll. Doch weil ein Stempel im Pass fehlt, werden sie festgenommen. Seeberg wird wegen „Menschenhandel“ zu drei Jahren Haft verurteilt, seine Verlobte wegen „versuchter Republikflucht“ zu zwei Jahren und zwei Monaten. Beide werden vom Westen freigekauft – für jeweils 70.000 D-Mark. Sie heiraten in Münster, sie studiert Medizin, er wird EDV-Berater, nachdem er das Studium abgebrochen und eine kaufmännische Lehre gemacht hat. Zu den Unterlagen, die Seeberg von damals noch hat, gehört auch ein Telegramm von Stasichef Erich Mielke, der den zuständigen Genossen dankt, dass es „in dieser Angelegenheit gelang, die operativen Interessen des MfS voll zu wahren“.
■ 3. Mai 1971: Walter Ulbricht übergibt – „aus Gesundheitsgründen“ – das Amt als Erster Sekretär des ZK der SED an Erich Honecker.
■ Januar 1972: Das Internationale Vorbereitungskomitee fällt den Beschluss, die X. Weltfestspiele der Jugend nach 1951 zum zweiten Mal in Ostberlin durchzuführen.
■ 1. März 1973: Die SED lässt Westjournalisten als Korrespondenten in der DDR zu.
■ 29. März 1973: „Die Legende von Paul und Paula“ wird im Kosmos-Kino uraufgeführt. Drei Millionen DDR-Bürger sehen den Film im ersten Jahr. Vorher kommt es fast zum Aufführungsverbot – bis Erich Honecker persönlich den künftigen Ost-Blockbuster freigibt. Den Puhdys gelingt mit der Filmmusik der Durchbruch.
■ 21. Juni 1973: Der Grundlagenvertrag zwischen DDR und Bundesrepublik tritt in Kraft, der Ende 1972 zusammen mit dem Transitabkommen unterzeichnet worden ist. Artikel 1 sieht die „Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen auf gleichberechtigter Basis“ vor.
■ 28. Juli 1973: Die X. Weltjugendfestspiele werden in Ostberlin eröffnet. Erich Honecker: „Mögen Sie erlebnisreiche Tage der freundschaftlichen Begegnung, der freimütigen Diskussion, der Freude und des Frohsinns bringen! Mögen die Tage (…) neuer Impuls im Kampf für die Gegenwartsinteressen und die Zukunftsideale der Weltjugend sein!“
■ 1. August 1973: Walter Ulbricht stirbt mit 80 Jahren. Seine angeblich letzten Worte: „Die Weltfestspiele, die sollen weitergehen.“
■ 5. August 1973: Die Weltjugendfestspiele enden.
■ 2. November 1973: Der Grundstein für den Palast der Republik wird gelegt.
■ 11. Januar 1974: Die Defa-Dokumentation „Wer die Erde liebt“ über die Festspiele wird ausgestrahlt. Der propagandistische, aber sehenswerte und sehr bunte Film kann im Netz angesehen werden: tinyurl.com/ddr1973.
Ahnungslose Schüler
Seine Geschichte erzählt Seeberg an Schulen in Westfalen, als Zeitzeuge der Gedenkstätte Hohenschönhausen – der zentralen Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit, wo er siebeneinhalb Wochen in Einzelhaft verbracht hat, bevor er in den Stasiknast nach Bautzen kam. Die ersten Auftritte fielen ihm schwer, mittlerweile sind sie fast Routine. Fünfzig- bis sechzigmal – so oft, wie er damals in die DDR gereist ist – hat er Jugendlichen schon von der DKP berichtet, den Weltfestspielen, den Spitzeln, dem Gefängnis. „Von zehn Schulen wissen die Schüler an zwei Schulen ein bisschen“, beschreibt er seine Erfahrungen. Oft wüssten sie nicht einmal, dass es verschiedene Währungen gab.
Burkhard Seeberg bedauert nichts, auch nicht die Haftzeit. Mehr setzt ihm das Scheitern der Ehe vor gut zehn Jahren zu. Doch es bleibt der gemeinsame Sohn, Bodo, 21 Jahre alt. Sein Name ist inspiriert von der Ballade „Bodo, genannt der Rote“ des westdeutschen Liedermachers Franz Josef Degenhardt. Der ist bei den X. Weltfestspielen aufgetreten. Burkhard Seeberg hat ihn aber nicht gehört. Für ihn spielte die Musik woanders.