: „Du schaust immer, ob jemand hinter dir ist“
REVOLUTIONÄRE ZELLEN Sie versteckten sich 22 Jahre vor den Terrorfahndern. Sonja Suder und Christian Gauger über das Leben im Untergrund und das Gefühl, wenn man entdeckt wird
1 Untergetaucht: Im Sommer 1978 bemerken Sonja Suder und Christian Gauger in Frankfurt, dass sie beschattet werden. Sie setzen sich ins Ausland ab und nehmen eine falsche Identität an. Vermutlich lebten sie dann in Frankreich, zuletzt in Lille im Norden des Landes. 1997 erleidet Gauger einen Schlaganfall und verliert seine Erinnerung – an die falsche und an die wahre Identität.
2 Aufgeflogen: Im Jahr 2000 werden sie entdeckt und vor einem Hotel in Paris festgenommen. Getrennt verbringen sie einige Monate in Untersuchungshaft. Inzwischen leben Suder, 77, und Gauger, 68, in Paris. Deutschland fordert von Frankreich die Auslieferung – bisher vergeblich.
3 Beschuldigt: Die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main wirft dem Paar heute vor, 1977 an Anschlägen gegen Firmen sowie 1978 an einem Anschlag auf das Heidelberger Schloss beteiligt gewesen zu sein. Suder wird zudem Beihilfe zum Mord vorgeworfen: beim Überfall auf die Opec-Konferenz 1975 in Wien, bei dem drei Menschen starben. Dieser Vorwurf stützt sich allein auf Aussagen des Exterroristen Hans-Joachim Klein.
VON ANDREAS FANIZADEH
taz: Frau Suder, Herr Gauger, wann merkten Sie erstmals, dass Sie observiert werden?
Sonja Suder: Es war im Sommer 1978. Wir waren gerade vom Urlaub aus Südfrankreich zurück nach Frankfurt gekommen. Wir sind um 6 Uhr morgens los, um unseren Stand auf dem Flohmarkt am Eisernen Steg am Mainufer aufzubauen.
Und da merkten Sie, dass Ihnen jemand folgt?
Suder: Um sechs Uhr morgens ist es auffällig, wenn jemand von deiner Haustür bis zum Flohmarkt hinter dir ist und dann selber keinen Stand aufbaut. Wir haben das am Nachmittag überprüft, und da war es klar: Wir werden überwacht. Es wurde ein heißer Sommertag in Frankfurt am Main, ich glaube im August. Und wir mussten eine Entscheidung treffen.
Warum?
Na ja. Es waren harte Zeiten, ein Jahr nach der Schleyer-Entführung und den Toten in Stammheim. Wir beschlossen wegzugehen.
1978. Wer erinnert sich an 1978, das Jahr, in dem Sonja Suder und Christian Gauger von der Bildfläche verschwanden, um die nächsten 22 Jahre lang unauffindbar zu bleiben? Das Jahr, in dem Argentinien die Fußball-WM gewann. Oder in dem die heutige Vizechefin der Partei Die Linke, Katja Kipping, geboren wurde. Die DDR gab es noch, und Westeuropa befand sich in der Spätphase der Achtundsechzigerbewegung. In Nicaragua stürmten die Sandinisten den Nationalpalast, in Italien ermordeten die Roten Brigaden den Christdemokraten Aldo Moro.
Als der Sprengsatz unversehens explodierte
Und in der Bundesrepublik Deutschland macht sich im Juni 1978 ein – nach Ansicht der Staatsanwaltschaft – Bekannter von Sonja Suder und Christian Gauger daran, eine Bombe am Konsulat Argentiniens in München zu platzieren. Herrmann F. hieß er und soll wie Suder und Gauger im Umfeld der sogenannten Revolutionären Zellen agiert haben. Die RZ waren für den Staatsschutz schwer einzuschätzen, da sie nach ihrer Spaltung 1976/77 ohne erkennbare Steuerung agierten. Die Gruppierung propagierte Anschläge mit Sachschäden und versuchte, anders als die RAF, Opfer zu vermeiden. Suder und Gauger sollen, sagt die Staatsanwaltschaft heute, 1977 an zwei Anschlägen gegen Firmen, die Urangeschäfte mit Südafrika machten, sowie einem Brandanschlag aufs Heidelberger Schloss 1978 beteiligt gewesen sein. Am 15. September 1978 erließ ein Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof deshalb Haftbefehl gegen die zwei.
Falls sich Gauger, Suder und F. tatsächlich kannten, wie die Staatsanwaltschaft glaubt, dann dürften sie sich 1978 darin einig gewesen sein, Argentinien als Unrechtsstaat zu betrachten. Die Militärs hatten dort 1976 geputscht und in der Folge über 30.000 Menschen ermorden lassen. In diesem Land fand unter skandalösen Umständen die Fußballweltmeisterschaft statt. Und die sozialliberale Koalition in Bonn tolerierte Geschäfte deutscher Firmen mit der argentinischen Diktatur, während sie in argentinische Folterhaft geratenen deutschen Staatsbürgern nur zögerlich half. Es gab also wahrnehmbare Missstände, auch wenn nur wenige wie Hermann F. deshalb versuchten, ein Loch in die Mauer des argentinischen Konsulats zu bomben. Zu dem Anschlag auf das Konsulat kam es nie. Für Hermann F., den mutmaßlichen Bekannten Suders und Gaugers, verlief die Vorbereitung fatal. Der Sprengsatz explodierte am 23. Juni in Heidelberg vorzeitig, F. verlor beide Beine und Augen.
Der Schwerverletzte wurde damals offenbar noch in der Uniklinik Heidelberg von Fahndern vernommen. Über Wochen und Monate hinweg, sagen Freunde und Anwälte, isolierten die Ermittler F., um an Informationen über die Organisationsstruktur der Revolutionären Zellen zu gelangen. Auch über Suder und Gauger. Die Ermittler protokollierten, was ihnen F. unter Medikamenteneinfluss und ohne Rechtsbeistand eigener Wahl gesagt haben soll – und was er später widerrief.
Wenige Wochen nach F.s Unfall bemerkten Suder und Gauger die Observationsteams in Frankfurt – und entzogen sich ihnen. Seither sollen sie irgendwo im Ausland gelebt haben und – so sie es vorher waren – nicht mehr im Zusammenhang mit den RZ aktiv gewesen sein.
Der Tatverdacht gegen Suder und Gauger „stützt sich im Wesentlichen auf die Angaben des Zeugen F. von 1978,“ bestätigt die Frankfurter Staatsanwaltschaft jetzt auf Nachfrage. Erst 1999 kam laut der Behörde ein weiterer Verdacht gegen Sonja Suder hinzu. Vorwurf: Beteiligung am Opec-Überfall 1975 in Wien und Beihilfe zum Mord. Die Verjährungsfrist für die Anschläge, die Gauger und Suder ursprünglich zur Last gelegt wurden, beträgt 20 Jahre. Sie wäre 1998 verstrichen. Doch, so sagt die Staatsanwaltschaft, die Verjährung sei „mehrfach unterbrochen“ worden und sie könne „maximal bis zur doppelten Zeit – also 40 Jahre – laufen“. Aus einer Brandstiftung von 1978 (Verjährungsfrist: 10 Jahre) kann eine menschengefährdende Brandstiftung (Verjährungsfrist: 20 Jahre) werden und die Verjährungsfrist auf 40 Jahre ausgedehnt werden.
2000 kam es zur spektakulären Enttarnung und Festnahme der beiden „RZ-Rentner“ in Paris, wie sie genannt wurden. Seither ringen deutsche und französische Behörden zäh um Suder und Gauger. 2001 wies Frankreich ein Auslieferungsbegehren der Deutschen ab. Nun könnte sich das Blatt aufgrund des neuen EU-Haftbefehls gegen die zwei Siebziger-Jahre-Linken wenden. Im Moment liegt der Fall beim französischen Verfassungsgericht. Ob Frankreich ausliefert, ist völlig ungewiss.
2010. Paris, St. Deniz, nahe der Universität 8. Auf sehr kleinen Grundstücken stehen sehr kleine Häuser, in der Ferne sieht man die Kulisse einiger Hochhäuser. Ein nasskalter Tag, kaum Menschen auf den Straßen. In einem der Häuschen, oder besser gesagt: in einem winzigen Teil eines dieser Häuschen leben seit ihrer Enttarnung und vorübergehenden Inhaftierung Sonja Suder und Christian Gauger. Sonja Suder ist mittlerweile 77 Jahre alt, Christian Gauger 68. Sie waren schon vor ihrer Flucht 1978 ein Paar. Es ist das erste Mal, dass sie mit der deutschen Presse sprechen. Es gibt Tee und Gebäck zum Gespräch. Ihre Wohnküche ist keine 16 Quadratmeter groß.
Kurz vor dem Uniabschluss untergetaucht
Wie ist das, wenn man deutsche Firmen wegen ihrer Geschäfte mit dem Apartheidstaat Südafrika attackierte, dann abtauchte, ein klandestines Leben in Frankreich führte, um Jahrzehnte später enttarnt und verhaftet zu werden? Suder und Gauger lächeln. Darüber reden sie nicht. Die beiden suchen das Gespräch mit der taz unter der Voraussetzung, dass sie keine Fragen beantworten müssen, die für die Verfahren juristisch relevant sein könnten. Sie sagen nicht, ob und, wenn ja, wofür sie Verantwortung tragen.
taz: Wie lange leben Sie schon im Exil?
Sonja Suder: Seit 1978.
Sie haben vorher in Frankfurt am Main gelebt?
Suder: Ja, ich hab Medizin studiert. Als wir weg sind, war ich fast fertig.
Wie alt waren Sie damals?
Suder: Da muss ich um die 45 gewesen sein.
Und Sie, Herr Gauger?
Christian Gauger: Ich hab auch in Frankfurt gelebt. Ich hatte ein Diplom in Psychologie und bei den Sonderpädagogen an der Uni gearbeitet.
Als wissenschaftlicher Mitarbeiter?
Gauger: Nein, als wissenschaftlich Bediensteter. So hieß das damals.
Gauger mustert den Journalisten. Er nippt an seiner Tasse, trinkt wie Suder Kräutertee, ist konzentriert, ruhig. Sein schneeweißes Haar hat er hinten zum Zopf zusammengebunden, das Gesicht rahmt ein kurz geschnittener weißgrauer Bart. Mit seinem Blümchenhemd und dem leichten hessischen Dialekt könnte er direkt aus einem Antiquariat in Frankfurt-Bockenheim marschieren. Sonja Suder hat die Gesprächsführung. Ihre 77 Jahre merkt man ihr nicht an. Eine agile, lebhafte und spontane Persönlichkeit mit resoluter Stimme, schwarz und sportlich gekleidet, und mit kürzerem, dunklem Haar.
Das Zimmer in St. Deniz ist mit gebrauchten Holzmöbeln eingerichtet, gemütlich und unaufwendig, so wie man es aus vielen Wohngemeinschaften der Alternativszene kennt. Antikonsumismus scheint eine praktische Ideologie für das spartanische Leben in der Klandestinität, ohne Rente und festes Einkommen. Neben Büchern fallen unzählige Messerbänkchen in den Regalen auf. Messerbänkchen benutzt man in Frankreich gern zur Ablage des Bestecks zwischen den Gängen, um den Tisch nicht zu beschmutzen. Sie sind aus Porzellan und Edelmetall, aus verschiedenen Mineralien, schlicht oder kunstvoll gefertigt. Jeder Mensch hat ein Hobby, und das Sammeln von Messerbänkchen ist das von Christian Gauger. Er erzählt langsam, fast schleppend. 1997 hatte er einen Schlaganfall und musste wiederbelebt werden.
taz: Wie war die Situation, als Sie im Jahr 2000 festgenommen wurden?
Suder: Wir waren gerade in Paris und sind aus dem Hotel rausgekommen. Es ging alles sehr schnell: Hände hoch! Und dann Arme und Gesicht zur Wand.
Französische Polizei?
Suder: Ja. Französische Polizei.
Keine Deutschen dabei?
Suder: Nee, erst später im Bullenrevier, da waren dann auch Deutsche dabei. Die haben sich zwar nicht sehen lassen, du hast sie aber gehört, wie sie miteinander sprachen.
Ist es Ihnen wichtig, dass wir von „Bullen“ reden?
Suder [lacht]: Nein, wir können auch Polizei sagen.
Hatten Sie damit gerechnet, 2000 geschnappt zu werden?
Suder: Nee. Nicht zu diesem speziellen Zeitpunkt, auch wenn du eine Einstellung zu deinem Leben hast, als könne es jederzeit passieren. Man weiß ja nie, was gerade tatsächlich läuft. Insofern rechnest du prinzipiell damit.
Also, es gab keinerlei konkrete Hinweise, die Sie bemerkten?
Suder: Nee. Obwohl die sicher schon eine Weile an uns dran waren.
Wissen Sie, wie man Sie nach 22 Jahren aufspüren konnte?
Suder: Es ist unklar. Wir hatten damals ein Treffen mit einer Verwandten. Vielleicht haben sie sich irgendwie an die drangeklemmt.
Meinen Sie, Sie hatten die ganzen Jahre ein Zielfahndungskommando am Hals?
Suder: Ich glaube, nicht. Bis zu den Aussagen von Hans-Joachim Klein 1998/99 waren wir zeitweise wohl nicht einmal europaweit zur Fahndung ausgeschrieben. Das muss sich danach geändert haben.
Hans-Joachim Klein war am Opec-Überfall in Wien 1975 beteiligt. Er distanzierte sich danach vom Terrorismus, wurde aber erst 1998 von Zielfahndern in Frankreich gestellt. Nach seiner Verhaftung behauptete er 1999 erstmals, Sonja Suder könne als Logistikerin am Opec-Anschlag beteiligt gewesen sein. Bis 1999 gab es keinen internationalen Haftbefehl?
Suder: Nein, das sagen unsere Anwälte. Deswegen haben wir wahrscheinlich vorher auch ziemlich unsere Ruhe gehabt.
Herr Gauger, Sie halten sich sehr zurück? Möchten Sie an unserem Gespräch nicht richtig teilnehmen?
Gauger: Ich habe an vieles keine eigene Erinnerung. Ich hatte einen Schlaganfall und lag im Koma.
Wann war das?
Suder: 1997.
Gauger: Ich hatte einen Herzstillstand. War praktisch tot. Sonja hat mich wiederbelebt. [Herzstillstand und Schlaganfall und die damit einhergehende Beeinträchtigung von Gehirn und Erinnerungsvermögen bestätigen medizinische Gutachten aus Frankreich.]
War Ihre falsche Identität so gut, dass Sie ärztliche Betreuung in Anspruch nehmen konnten?
Suder: Mussten! Allein wegen der Kontrolle und der Medikamente. Die Reha hab ich dann selber mit ihm gemacht. Das war schon eine sehr blöde Situation.
Und Sie flogen nicht auf?
Suder: Nein. Manchmal hat man zwar tief Luft geholt, aber bei unserem Alter, da sind die Leute nicht mehr so misstrauisch.
Gauger: Ich hatte vollständig meine Erinnerung verloren.
Aber Sonja Suder haben Sie wiedererkannt?
Suder: Was mich auch gewundert hat, muss ich sagen.
Gauger: Aber ich hab vorher nicht gewusst, dass sie existierte, erst als sie ins Zimmer zurückkam, hab ich sie erkannt.
Was ist das für ein Gefühl, wenn man alles vergessen hat, im Untergrund lebt und einer einzigen Person vertrauen muss, die einen lehrt, wer man ist?
Gauger: Da kam irgendwann die Furcht: Oh Scheiße, was ist, wenn ich jetzt blöd bleibe. Als ich diese Furcht bekam, war das aber auch zugleich der Punkt, an dem ich merkte, dass ich jetzt wieder selber denken kann. Das hat ein Weilchen gedauert.
Sonja Suder musste Ihnen auch erzählen, weswegen Sie im Untergrund lebten?
Gauger: Ja. Aber ich weiß natürlich nicht, ob sie mir alles erzählt hat. Das weiß ich einfach nicht.
Suder: Das kannst du ja auch nicht. Du kannst ja nicht ein ganzes Leben erzählen. Wenn jemand fragt und wenn man mit bestimmten Reha-Büchern arbeitet, kann man einiges re-erzählen, aber man darf ja auch einen Kopf nicht überhäufen. Das geht Stückchen für Stückchen.
1997 und 2000 – zwischen Herzstillstand und Verhaftung lag gar nicht so viel Zeit.
Suder: Ja, aber er war schon stabilisiert. Der Punkt, von dem er vorhin sprach, das war nach anderthalb Jahren Reha. Aber bis heute fragt mich der Christian nach Dingen aus seiner Vergangenheit, und wir setzen die Reha praktisch fort.
Sie sind nach der Verhaftung sofort getrennt worden?
Suder: Ja, sofort.
Haben Sie noch Familie in Deutschland?
Suder: Ja. Wir haben beide zu unseren Schwestern Kontakt.
Herr Gauger, dann können Sie also jetzt selbstständig überprüfen, ob es stimmt, was Ihnen Frau Suder erzählt hat?
Gauger: Ja, zumindest das ist leichter geworden.
Wie war Ihre Lage bei den Vernehmungen nach der Verhaftung?
Suder: Wenn du vorher ausgemacht hast: „Wenn einmal was passiert, dann kein Wort, keine Aussage“, dann hast du ein sehr sicheres Gefühl.
Wie lange waren Sie beim ersten Verfahren 2000/2001 in Untersuchungshaft?
Suder: Nicht ganz drei Monate. Christian saß in Paris, das Frauengefängnis war außerhalb.
War dies Ihr erster Aufenthalt im Gefängnis?
SONJA SUDER
Suder: Ja, ich war Ende 60, Christian Anfang 60.
Wie war das im Gefängnis?
Suder: Man sagt, die französischen seien die schrecklichsten Gefängnisse der Welt. Aber ich kann das nicht sagen. Ich kam in eine Zelle und hatte ganz normalen Hofgang. Ich bin gleich auf ein paar Baskinnen gestoßen. Von da an wurde mir alles, was ich brauchte, wie von allein organisiert, natürlich unter der Hand. Ich war also gleich ein bisschen privilegiert. Diese Solidarität war faszinierend.
Was war das Belastendste im Gefängnis?
Suder: Eigentlich der Krach. An jedem Zugang sind Eisentüren, die permanent aufgeschlossen und wieder zugeknallt werden. Das ist ein fortwährendes Knallen. Ein unglaublicher Krach. Das Eingeschlossensein selber war für mich nicht so schlimm, da befasst du dich ja auch vorher schon ein wenig mit. Du musst sofort schauen, das man etwas tun kann, Sport treiben, lesen.
Herr Gauger, wie ging es Ihnen?
Gauger: Beim Hofgang ist gleich einer auf mich zugekommen. Der wusste schon Bescheid. Da war ich dann immer mit dem und noch einem anderen zusammen beim Hofgang. In der Zelle waren wir zu dritt. Unangenehm waren die Stockbetten. Im dritten oben, das ist doch ganz schön hoch, da kann dir schwindlig werden. Ansonsten: Mäuse und Kakerlaken, das sind doch Haustiere. Besser als eine weiß gekachelte Einzelzelle, wo du niemanden siehst und hörst.
Was denkt man, wenn man nach mehr als zwanzig Jahren im Exil verhaftet wird?
Suder: Jetzt hat’s uns doch noch erwischt.
Gauger: Und ich hab gedacht: Das muss doch nicht sein.
Sie wissen, was Ihnen konkret vorgeworfen wird?
Suder: Drei Anschläge, zwei gegen das Atomprogramm des damaligen Apartheidregimes in Südafrika und ein Anschlag gegen die Stadtsanierung in Heidelberg. Und mir zusätzlich Wien. Diese Opec-Geschichte. Und damit die Behauptung: Beihilfe zum Mord. In Frankreich wäre auch dies verjährt. Das Einzige, was hier nicht verjährt, sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Überraschte Sie der Vorwurf der Beteiligung am Opec-Anschlag?
Suder: Ja.
1975. Kleins Festnahme 1998 kam genauso aus heiterem Himmel wie seine Behauptungen von einer Tatbeteiligung Suders. Klein hatte im Dezember 1975 einem Kommando unter Führung von Ilich Ramírez Sánchez, genannt „Carlos“, angehört, das in Wien für den Tod von drei Menschen verantwortlich war. Dem bei der Aktion selber angeschossenen Klein gelang mit anderen Kommandomitgliedern und Opec-Ministern als Geiseln die Flucht. 1976 entführte dann ein deutsch-palästinensisches Kommando eine Air-France-Maschine nach Entebbe; dabei starben Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann, die als Köpfe der frühen RZ gelten. Die RZ formierten sich danach neu und gingen auf Distanz zu nahöstlichen Gruppierungen und Gestalten wie Carlos. Sie kritisierten Antiamerikanismus und Antizionismus in der „antiimperialistischen Linken“ und propagierten Anschläge, die keine Todesopfer fordern sollten.
Auf Nachfrage bestätigt die Staatsanwaltschaft Frankfurt heute, dass es bis 1999 und außer Kleins Aussagen keinerlei Hinweise gegeben habe, Suder könne in die frühe Phase der RZ bis 1976 involviert gewesen sein. Klein, dessen Glaubwürdigkeit oft mit der des ehemaligen RAF-Mitglieds und -Geschichtenerzählers Peter-Jürgen Boock verglichen wird, bezichtigte 1999 RZ-Mitglieder und andere Personen, am Wiener Opec-Überfall beteiligt gewesen zu sein. Rudolf Schindler wurde deswegen bereits 2001 vor dem Landgericht Frankfurt der Prozess gemacht. Und er wurde, entgegen Kleins Aussagen, vom Vorwurf der Mittäterschaft am Opec-Überfall freigesprochen. Das Gericht bezweifelte Kleins „Identifizierungssicherheit bei der Lichtbildvorlage vom 2. 9. 1999“. Bei dieser beschuldigte er neben Schindler auch Suder, „obwohl er diesbezüglich zuvor nie von einer weiteren Frau gesprochen hat“, befand das Gericht schon 2001. Außer Kleins Aussagen hat die Staatsanwaltschaft auch heute nichts gegen Suder in Sachen Opec in der Hand.
taz: Wie präsent waren Ihnen all die Jahre die Vorwürfe aus den Siebzigern, aus einer immer weiter zurückliegenden Phase Ihres Lebens? Konnten Sie ein normales Leben führen?
Suder: Erst mal nicht. Da schaust du ja immer, ob jemand hinter dir her ist. Deutsch spricht.
Gauger: Möglichst kein Kontakt zu Deutschen, das ist sehr wichtig.
Frau Suder, Herr Gauger, kam Ihnen in all den Jahren nicht auch einmal in den Sinn: Die Geschichte liegt so lange zurück, was soll das, wir wollen zurück und stellen uns der Vergangenheit?
Suder: Also mir nicht. Und dir, Christian?
Gauger: Doch, wenn die Haftbefehle aufgehoben worden wären.
Suder: Sehr witzig. Jetzt ist aber klar: Sollte Frankreich dem Auslieferungsbegehren stattgeben, werden wir uns dem Verfahren in Deutschland stellen.
Die Gruppierung, der Sie angehört haben sollen, hat sich Anfang der Neunzigerjahre endgültig aufgelöst. Hatte das zuletzt irgendwelche Auswirkungen auf das Verfahren?
Suder: Juristisch keine. Nachdem die neue EU-Rechtsprechung kam, sind wir 2007 ein zweites Mal in Frankreich verhaftet worden. Christian für vierzehn Tage und ich für einen Monat. Und seit 2009 müssen wir täglich mit der Auslieferung rechnen, obwohl das französische Gericht eine Auslieferung 2001 bereits abgelehnt hatte.
Nach Ihrer Enttarnung im Jahr 2000 und der Niederschlagung des Auslieferungsverfahrens lebten Sie in Paris erstmals wieder legal. Wie war das für Sie?
Suder: Wenn du ständig mit einer Legende lebst, kannst du keine wirklichen Freundschaften aufbauen. Wir lebten all die Jahre eher zurückgezogen. In Paris hatten wir zunächst gar keine Kontakte. Unsere Anwältin hatte dann für uns einen italienischen Genossen aufgetrieben, damit wir überhaupt eine Wohnadresse vorweisen konnten, um aus dem Gefängnis rauskommen zu können. Dann hat uns eine sehr nette Frau aufgenommen. Ich glaube, in Deutschland wäre das alles etwas schwieriger gewesen. Aber die republikanische Kultur in Frankreich hat eine reiche, jahrhundertealte Tradition, Exilanten einen Zufluchtsort zu geben. Menschen, die wir nicht kannten, haben uns für ein halbes Jahr ihr Haus überlassen, sind in ihr Haus nach Südfrankreich gefahren und so konnten wir uns erst mal hier in Paris eine eigene Wohnung suchen. Die haben uns und unsere Geschichte praktisch kaum gekannt und haben einfach geholfen. Wir waren auch schnell integriert in die große italienische Exilszene um die geflüchteten Militanten aus den Siebzigern, mit ihren Diskussionen und Festen. Sie sind sehr solidarisch. Da haben wir viel Glück gehabt.
■ Andreas Fanizadeh, 47, leitet das taz-Kulturressort. In den Neunzigern war er verantwortlich für den ID Verlag, Spezialgebiet: Geschichte der militanten Linken