: Ich bin hier falsch
MARIO KRÜGER Ein Arbeitslosenleben in Brandenburg an der Havel
VON GABRIELE GOETTLE
„Zur Arbeit, die uns lieb, stehn früh wir auf und gehn mit Freuden dran“ William Shakespeare (und Betriebsparole in der DDR)
Mario Krüger, Handwerker, Maler, Veranstaltungskaufmann, geb. 1960 in Brandenburg/DDR, besuchte bis 1977 d. Polytechnische Oberschule Heinrich Heine u. erlernte dann in einer Facharbeiterausbildung den Beruf des Malers. Nach d. Wende immer wieder arbeitslos, machte mehrere Weiterbildungen u. arbeitete in diversen Kultureinrichtungen. Er ist ledig, hat ein Kind, lebt in Brandenburg a. d. Havel und ist seit über einem Jahr arbeitslos.
Brandenburg, die schöne alte Stadt am Wasser, liegt eingebettet zwischen drei Havelseen und erstreckt sich, teils inselartig angelegt, beiderseits der Havel. Die weitgehend restaurierte Innenstadt wirkt ein bisschen tot, so als sei sie erstarrt in banger Erwartung von Kunden und Touristen. Die flüchten sich aber vorschriftsmäßig in die eben eröffnete St.- Annen-Galerie mitten im Zentrum, ein 20.000 Quadratmeter großes Einkaufscenter mit pseudoklassizistischer Fassade, in dem der triste Alltag aufgedonnert wird zur „Shopping-Erlebniswelt“. Man kann als Fremder aber auch mit der Straßenbahn Nr. 6 hinausfahren in den Norden, nach Hohenstücken, wo die stillgelegte Bevölkerung großflächig in grauen Plattenbauten lebt, über denen der drohende „Rückbau“ schwebt, wie mir ein Bewohner erzählte.
Oder man fährt mit der Nr. 2 bis zur riesigen verglasten Halle des alten Stahl- und Walzwerkes – das einst zum Flick-Konzern gehörte, das Ende der 30er-Jahre zu massiver Rüstungsproduktion benutzt wurde – und in dem die DDR dann „Friedensstahl“ produzierte. Heute zeigt ein von ehemaligen Stahlarbeitern sehr engagiert betriebenes Industriemuseum, wie und was hier von 1914–1993 produziert wurde – und dass die Schließung ein reiner Segen war für Atemluft und Umwelt der Bevölkerung. Mit der dritten der drei Straßenbahnlinien, der Nr. 1, gelangt man hinaus nach Görden, zur inzwischen privatisierten Psychiatrischen Landesklinik, der ehemaligen Landesirrenanstalt, 1911 in Pavillonbauweise errichtet für die Opfer der Industrialisierung. In einer Psychiatrie-Dauerausstellung wird dort der 10.000-fache Krankenmord in dieser Stadt während der NS-Zeit dokumentiert. Man kann auch über viel Kopfsteinpflaster in der Stadt herumstreifen und viel Backsteingotik anschauen. Oder durch die schönen Parks und an den Flussufern entlang spazieren, über die Jahrtausendbrücke, hinüber auf das linke Flussufer in die Neustadt.
Hier wohnt Mario, nahe am Theater, in einer renovierten Altbausiedlung aus den 20er-Jahren. Seine kleine Zweizimmerwohnung ist liebevoll eingerichtet, die einfallsreiche Verwendung vieler Fundstücke gibt ihr einen sehr persönlichen Charme. Aus dem Sperrmüll eines Chinarestaurants hat er sich ein imposantes chinesisches Bett und schöne Regale gebaut, große bemalte ehemalige Decken-Leuchtelemente zieren die Wand. Im Wohnzimmer steht auf einem schallisolierten Podest sein Schlagzeug. In einem Vitrinen- Schränkchen im Flur bewahrt er seine kleine Feuerzeugsammlung auf. In der Küche, an die Wand über dem Herd, hat er, freihändig mit Pinsel, in tadelloser Druckschrift ein Kochrezept geschrieben. Man sieht, er hat Schriftmalerei gelernt. Wir nehmen Platz am Wohnzimmertisch, Mario schenkt Kaffee ein und erzählt. Er spricht Berliner Dialekt:
„Mein Vater war Gaststättenleiter im Ratskeller, meine Mutter war bei der Post. Und ich wollte Maler, Tapezierer und Dekorateur werden, eigentlich deshalb, weil auch mein Großvater ein Maler- und Tapezierergeschäft hatte. So mit 16, 17, wo ich gelernt habe, das war dann auch die Zeit, in der ich viel angeeckt bin damals. Lange Haare waren angesagt. Wir wurden auch geprägt durch die 68er Bewegung im Westen. War schon so! Mit 8 Jahren habe ich das im Westfernsehen gesehen, Ho Chi Minh, Vietnamdemonstration, Dutschke-Attentat und alles, später dann die RAF. Im Westfernsehen hieß die übrigens Baader-Meinhof-Bande, in unseren Nachrichten immer nur Baader-Meinhof-Gruppe. Na ja, und die ganzen Jahre über haben wir natürlich die Musik auf den Westsendern im Radio gehört.
Wir, das war damals eine kleine Gruppe hier in der Stadt, die nicht so mitgemacht hat, wie man sollte. Da ist man natürlich aufgefallen, unangenehm aufgefallen, und entsprechend wurde dann auf uns reagiert. Mich hat man erst mal weg geschickt. Ich hab dann außerhalb lernen müssen, in Jüterbog, in einer Berufsfachschule. Wie ein Internat war das, mit geregelten Zeiten für Schularbeit, Abendbrot und Ausgang. Ich war ganz gut, sogar in Staatsbürgerkunde, aber ich habe natürlich meine Kritik geäußert am System. Und die Folgen hat man mich dann auch spüren lassen.
Der Beruf hat mir eigentlich Spaß gemacht, aber es war dann so, dass ich in eine Brigade gekommen bin im neuen Elektro-Stahlwerk – das hatten ausländische Firmen aufgebaut, heute ist es in italienischer Hand und gehört dem Riva-Konzern –, und dort hat man mich in den Keller gesteckt. Ein halbes Jahr habe ich keine Sonne mehr gesehen und von morgens bis abends nur Rohre grau angestrichen, bis ich eine Allergie gekriegt habe. Eine Farbenallergie, durch die ganzen Ausdünstungen und Gifte. Ich bekam vom Arzt ein Attest, dass ich nichts mehr mit Ölfarben zu tun haben darf, dass ich nur noch mit natürlichen Stoffen arbeiten soll, mit Leimfarben, also mit Kreide, Latex usw. Ich habe dann da gekündigt.
In der DDR war es so: Wer ein viertel Jahr ohne Arbeit war, wurde schon als kriminell gefährdet registriert, denn Arbeit gab es ja genug. Sie hatten mich ja sowieso schon auf dem Kieker, deswegen war es gut, dass mein Bruder im Kraftwerk gearbeitet hat und dort auch in der Gewerkschaftsleitung war. Durch ihn habe ich dann ganz schnell eine neue Arbeit gekriegt. Das war ein Kohlekraftwerk, hier in Brandenburg. Da habe ich dann 12 Jahre lang gearbeitet, aber nicht mehr direkt als Maler. Zuerst als Kranfahrer – ich habe den Kranfahrer-Führerschein gemacht –, aber ich hätte mich lieber zum Kesselwärter qualifiziert. Man ließ mich aber nicht, weil ich als politisch unzuverlässig eingestuft wurde. Ich war dann aber doch mit am Kessel und habe ganz gut verdient. Ab und zu musste ich Schilder malen. Es war immer mal was zu beschriften, diese Elektrokästen zum Beispiel. Es hieß immer: Mach dies mal, mach das mal!
Ach so, und zwischendurch haben sie mich ja noch zur Nationalen Volksarmee eingezogen für eineinhalb Jahre! Wollt ihr das auch hören? Gut, also ich hatte einen Antrag gestellt auf Dienst ohne Waffe, man musste dann als Bausoldat schuften, aber ich wurde nicht berücksichtigt. Im Gegenteil! Nachdem ich dem Einberufungsbefehl nicht Folge geleistet hatte, haben sie mich erst mal in den Armeeknast nach Hohenstücken, dann nach Oranienburg gesteckt. Und nach der Grundausbildung haben sie mich in eine besonders brutale Einheit getan. Das war 84/85. Ich wurde mit dem Jeep rausgefahren in den Wald, da standen Uniformierte mit geschorener Glatze – was ja sonst bei der NVA verboten war, weil, so sahen die Russen aus! Die deutschen Soldaten hatten Kultur, einen ordentlichen Haarschnitt über den Ohren. Von den 20 Mann mit Unteroffizier wurde grade Überfall und Hinterhalt trainiert, also wie man einem anderen von hinten in die Kniekehlen springt, im Fallen ihm die Augen ausdrückt, oder mit dem Messer zusticht, damit der Mann beim Abrollen keinen Mucks mehr macht, im Ernstfall. Lautloses Töten heißt das.
Ich habe mich gemeldet und gesagt: Genosse Unteroffizier, ich bin hier falsch! Später musste ich zum Offizier und der hat gesagt: Sie sind aus Brandenburg? Hier sind Sie in Beelitz, beide Orte fangen mit B an. Sie bekommen jetzt zwei Minuten Zeit, um sich zu entscheiden, ob Sie hier mitmachen. Ansonsten fängt der nächste Ort, an den wir sie bringen, auch mit B an!
Es war klar, was er meinte. In den Knast nach Bautzen, das wollte keiner. Also habe ich mich gefügt und das durchgezogen, diese Ausbildung bei den Fernaufklärern. Es war hart und brutal, was da abging. Und es war streng geheim! Das mussten wir extra unterschreiben, dass wir niemals darüber sprechen. Unser Einsatzgebiet wäre in erster Linie Westberlin gewesen, im Ernstfall sollten wir in 5er-Gruppen Westberlin unterwandern, Leute ausschalten und wichtige Stellen wie Rundfunk, Post, Bahnhöfe usw. unter unsere Kontrolle bringe und übernehmen. Na ja, letzten Endes kam’s dann umgekehrt“, sagt er lachend. „Und danach bin ich wieder ins Kraftwerk, ich hatte eigentlich einen Ausreiseantrag stellen wollen, aber dann lernte ich eine Frau kennen und bald schon kam ein Kind. So ist das?“
Mario schlägt vor, eine Pause zu machen: „Ich dachte, wir essen was zusammen, Königsberger Klopse mit Kapernsoße, ja? Habe ich selber gemacht!“
Während des Essens, das sehr wohlschmeckend ist, erzählt er uns ein wenig über die Lage in der Stadt Brandenburg: „Ja, die Stadt ist heute hergerichtet. Sie hat sich sehr verändert, in jeder Beziehung. Es sind viele Leute und auch viele meiner Freunde weggezogen, nach Berlin oder sonst wohin. Und das geht weiter so. Zu DDR-Zeiten lebten hier 100.000 Einwohner, jetzt sind es 30.000 weniger. Wir haben heute mehr als 15 Prozent Arbeitslose, glaub ich. Offiziell! Da werden aber die ganzen Leute, die in Maßnahmen gesteckt werden, die 1-Euro-Jobber usw., gar nicht mitgezählt. In Wirklichkeit sind das wesentlich mehr, die ohne eine richtige Erwerbsarbeit sind. Wesentlich! Es ist einfach so: Alles, worauf wir mal gehofft hatten, woran wir mal geglaubt haben nach der Wende, ist aufgelöst. In Lügen aufgelöst, in Luft! Es wurde alles zugemacht, ohne Ersatz zu schaffen.
Hier gab es Schwerindustrie, Stahl und Stahlwalzwerk. Davon gab’s zwei, das neue Elektrostahlwerk und das alte Stahlwerk mit den Siemens-Martin-Öfen, das ihr gesehen habt, also den Rest davon, mit nur noch einem Ofen, das Industriemuseum. Heute ist auf dem ehemaligen Werksgelände so ein bisschen Gewerbe angesiedelt, aber da gibt’s kaum Arbeitsplätze, im Vergleich zu früher kann man das vergessen. In den Werken waren ja allein schon mehr als 10.000 Leute beschäftigt. Das Elektrostahlwerk – wo ich gearbeitet habe als Maler – das arbeitet noch, aber mit viel weniger Leuten. Es wurde 1980 in Betrieb genommen und nach der Wende 91/92 verkauft an die Italiener, an den Riva-Konzern.
Dann gab’s noch das Getriebewerk, die Elisabeth-Hütte, es gab textile Verpackung und was weiß ich, Brandenburger Kinderbekleidung – ein Riesenbetrieb. Sie mussten sogar Arbeitskräfte aus Kuba und Vietnam holen, Frauen und Mädchen, die hier genäht haben. Alwo gab’s noch, Wolle-und Spinnereiwerke, die Kammgarnspinnerei, eine Keksfabrik und andere, also richtig voll mit Betrieben waren wir hier. Und heute ist das eine Stadt, die keine Arbeit mehr hat! Nur noch ein bisschen Dienstleistungsgewerbe! Mittlerweile habe ich den Eindruck, dass der größte Arbeitgeber der Stadt das Arbeitsamt selber ist.“ Er lacht.
„Na ja, und dann war hier Garnisonstadt, fast immer schon. Aber die Stadt war mal reich. Hier wurden ja in den 20er-Jahren die meisten Kinderwagen Fahrräder und Autos von ganz Deutschland gebaut. Bei Brennabor, der Fahrrad- und Autofabrik der Gebrüder Reichstein. Im Krieg wurden dann dort Rüstungsgüter produziert. Nach dem Krieg haben die Russen die Reste demontiert und dann war der VEB Brandenburger Traktorenwerke bzw. das Getriebewerk drin, bis zur Wende. Später wurde saniert und ausgebaut, heute sind da Künstlerateliers und eine Kunsthalle.
So, jetzt komme ich wieder zum Kraftwerk, wo ich 12 Jahre gearbeitet habe, bis 1991. Und da ging es dann auch schon los mit dem Arbeitsplatzabbau. Anfangs, gleich nach der Wende, haben wir im Kraftwerk noch Unterschriften gesammelt für die Zulassung des Neuen Forums. Das war ziemlich schwierig. Plötzlich waren da aber überall lauter DVU-Aufkleber. Ich hab die natürlich gleich abgemacht. Und bald ist dann auch das Betriebsklima massiv schlechter geworden. Innerhalb von 2 Jahren. Es wurde das Konkurrenzverhalten der Beschäftigten untereinander dermaßen aggressiv, nur, damit man nicht der Erste ist, dem gekündigt wird. Mit Mobbing und Denunziationen, das war unglaublich. Dann wurde mein Schichtleiter in den Vorruhestand geschickt und ich sollte den Kessel übernehmen. Das, was ich immer wollte. Aber da war ja nichts mehr investiert worden und dementsprechend gefährlich wurde die Anlage. Also ich hatte eine richtige Angst davor, weil man wirklich mit hohen Drücken gearbeitet hat. Ich bin dann gegangen.
Damals bestand grade die Möglichkeit, in den Fontane-Club einzusteigen – das war unser schönes Kulturhaus, direkt am Wasser gelegen. Heute ist es privatisiert. Wir waren ja auch sehr engagiert für Jazz, auch schon zur DDR-Zeit, und haben den Club dann politisch umgedreht. Wir waren die erste Szene-Kneipe der Stadt, ich war fest angestellt als gastronomischer Leiter. Es gab Fördermittel, es gab Musik, Lesungen, ein Kinosaal ist dort, also querbeet. Das war die beste Zeit damals, die kreativste. Alle waren voller Hoffnungen und Ideen. Und dann gab es natürlich politisch Ärger. Unsere Fördermittel wurden gestrichen und unsere kleine Zeitung konnte nicht mehr erscheinen. Damit war das erst mal vorbei.
Ich habe dann in verschiedenen Kultureinrichtungen gearbeitet. Zwischendurch war ich immer kurz arbeitslos. Erst kam ein selbst verwaltetes Jugendprojekt im Haus der Offiziere der ehemaligen sowjetischen Streitkräfte, dann habe ich Projektarbeit gemacht für den Kultur- und Gewerbehof Brennabor. Das lief über Fördermittel der EU und ich war fest angestellt, bis es auslief.
Um 2000 habe ich wieder im Fontane-Club angefangen als Tontechniker. Sie hatten sich einen neuen Geschäftsführer geholt aus Westberlin, Volker Hugo, ein guter Mann mit vielen Verbindungen zu Bands und Künstlern, auch international. Und obwohl es sehr gut lief, haben sie ihm nach einem halben Jahr den Vertrag nicht verlängert, ohne Begründung. Von heute aus gesehen ist klar, das waren alles die Vorbereitungen zur Privatisierung. Wir haben vergeblich dagegen angekämpft, das Objekt gehörte ja der Stadt, war eine Schenkung in den 20er-Jahren. Sie haben es einfach verscherbelt. Wir haben uns beworben um den Betrieb nach der Privatisierung, haben aber den Zuschlag als politisch Unliebsame natürlich nicht gekriegt. Wir wollten ja was anderes als nur eine schicke Kneipe.
Damit waren wir alle arbeitslos, und die 60 bis 70 Leute, die da verkehrten, die hatten nun auch keinen Ort mehr, wo sie sich treffen konnten oder wollten. Ich habe dann eine Umschulung gemacht zum Veranstaltungskaufmann übers Arbeitsamt und habe mich beworben für die Theater-Klause, zusammen mit einer Kollegin aus der Gastronomie.
Leider haben wir auch hier den Zuschlag nicht gekriegt, obwohl man mir ja vom Theater her absolut Hoffnungen gemacht hatte. Na, ich war schon sehr enttäuscht. Dann hat der Intendant gesagt: Pass auf, du kriegst den Job als Betriebshandwerker. Der es jetzt macht, geht dann und dann in Rente. Gut, habe ich also mit befristetem Arbeitsvertrag so lange gejobbt im Theater, habe auch die Klause quasi restauriert, so wie sie ursprünglich mal war, Bar mit Goldrand und alles. Immer mit dieser Hoffnung, dass ich eine Festanstellung kriege.
Dann ging der endlich in Rente, aber ich habe den Job wieder nicht gekriegt, und zwar deshalb, weil ich keinen Grundkurs in Elektrotechnik hatte. Hat mir keiner gesagt, dass ich den brauche. Sonst hätte ich den nämlich gemacht, in einem viertel Jahr während der Wartezeit!
So, und nun hänge ich jetzt hier fest, bin arbeitslos und kriege keinen Fuß mehr in die Tür. Nirgends. Wenn ich das schon höre, von diesen Politikern da, die Arbeitslosen sind faul, dann packt mich die Wut. Es gibt ja nicht zu viele Faule, es gibt zu wenig Arbeitsplätze! Sie nehmen uns die sozialen Errungenschaften Stück für Stück weg, die unsere Vorfahren erkämpft haben, und wir Arbeitslose müssen uns auch noch als Drückeberger beleidigen lassen. Ja wer hat denn die ganzen Werte geschaffen?! Die doch nicht! Na gut, es hat ja keinen Sinn? Mir bleibt jetzt nur noch der Schritt in die Selbstständigkeit. Aber da geht auch nichts voran.
Das alles hat mir total die Kraft genommen. Gut, ich muss hier nicht verhungern, klar, aber dafür darf ich mich schikanieren lassen vom Arbeitsamt. Gleich beim ersten Arbeitslosengeld haben sie mir 150 Euro abgezogen, als Sanktion. Man muss sich drei Monate bevor der Arbeitsvertrag ausläuft bereits arbeitslos melden – versteht ja kein Mensch. Und ich bin aus Versehen drei Tage zu spät hingegangen. Das wird hart bestraft. Und das, während andere straflos Steuern hinterziehen dürfen, in Milliardenhöhe auf ihren Auslandskonten. Hauptsache sie melden es, sobald sie erwischt werden. Das erkläre mal einem Normalbürger!
Das nächste Mal habe ich selbst einen Termin gemacht mit meiner Arbeitsberaterin. Es ging um mein Weiterkommen, damit ich mich bald selbstständig machen kann als Raumausstatter. Das muss ja alles fristgerecht beantragt werden und dauert ewig. Der Termin sollte 9 Wochen später sein. Ich habe gedacht, ich werde da noch mal benachrichtigt, dem war aber nicht so. Ich habe ihn versäumt. Um einen Tag! Wieder 150 Euro Abzug!
Zum neu anberaumten Termin war dann aber meine Sachbearbeiterin nicht da. Darüber wurde ich natürlich nicht informiert! Ich saß da, habe gewartet, war sauer, bin kurz laut geworden und habe verlangt, jemand von der Teamleitung zu sprechen. Nach insgesamt vier Stunden Wartezeit hatte ich den Termin. Ich durfte vorsprechen.
Zwei Teamleiter vom Arbeitsamt in Armani-Anzügen haben mich von oben herab abgefertigt, wollten keine Einzelfallprüfung akzeptieren und sagten: Es bleibt bei der Sanktion. 150 Euro! Ich habe gesagt: Also Sie brauchen sich nicht zu wundern über den Unmut in der Bevölkerung. Es kann passieren, dass eines Tages Leute draußen auf der Straße stehen, mit Knüppeln in der Hand, die ihrer Wut freien Lauf lassen. Dann möchte ich nicht in Ihrer Haut strecken! Danach bin ich raus. Mir wurde dann vom Arbeitsamt schriftlich mitgeteilt, dass ich ein halbes Jahr Hausverbot habe. Sie haben behauptet, ich hätte sie bedroht.
Und 150 Euro, das ist für so einen Teamleiter vielleicht kein Geld, aber für mich ist das absolut einschneidend, denn ich komme überhaupt nicht mehr rum und muss mir was borgen. Ich kann euch das mal vorrechnen: Ich bekommen vom Amt als Regelsatz 359 Euro monatlich zum Lebensunterhalt, davon muss man auch die Stromkosten zahlen und Warmwasser. 330 Euro bekommt man für Heizung und Unterkunft – das reicht aber nie, schon gar nicht nach einem so kalten Winter, deshalb muss man sich das auch vom Lebensunterhalt abknapsen – und dann kriege ich noch 87 Euro, befristeter Zuschlag nach § 24 SGB II, weil ich ja gearbeitet habe vorher.
Meine Wohnung hier, die ich mir damals genommen habe, weil ich ja sicher war, dass ich im Theater fest angestellt werde, die hat 10 Quadratmeter mehr als erlaubt. Eine angemessene Wohnung darf maximal 50 Quadratmeter groß sein.
Die Mehrkosten muss ich selber tragen, die gehen auch vom Lebensunterhalt ab. Abziehen muss ich auch noch monatlich 75 Euro Schuldentilgung für einen Kredit über 2.000 Euro, den ich damals für Renovierung und Einrichtung der Wohnung aufgenommen habe. Da werde ich noch ein Jahr dran sitzen. Und geht mal der Kühlschrank kaputt oder der Computer oder was, dann ist das eine Katastrophe, da ist kein Geld für da. Ich hatte zum Beispiel eine Wurzelbehandlung am Backenzahn. 250 Euro! Das übernimmt die Kasse nicht, auch nicht das Amt. Das musst du selber zahlen. Übernommen wird nur noch Ziehenlassen! Vorne, die Schneidezähne, damit es keine Probleme gibt bei der Arbeitssuche. Oder du musst die Schmerzen aushalten und warten, ob sie von selber weggehen.
Was da normalerweise vom Regelsatz zum Leben übrig bleibt, das könnt ihr euch leicht ausrechnen. Meist so gut wie nichts!
Zum Glück kann ich auch mal bei der Mutter mitessen. Die lebt alleine, mein Vater ist schon gestorben. Sie hat Leukämie und hatte auch noch einen Oberschenkelhalsbruch, nun kann sie kaum gehen. Ich bin täglich dort, helfe ihr, mach bisschen sauber, kaufe ein, damit sie nicht ins Heim muss. Ich gehe auch mit zu den Arztbesuchen, sonst fällt sie vielleicht wieder. Also wenn ich meine Freundin und meine Freunde nicht hätte und meine Musik, mir würde die Decke auf den Kopf fallen.
Ich habe Fernsehen, Radio, Internet, aber es ist so, dass alles in den eigenen vier Wänden stattfindet. Anfang der 90er-Jahre gab es in Brandenburg noch einen Kulturbeitrag für Arbeitslose, den hat die SPD abgeschafft, wie so vieles hier. Jedenfalls, Kneipe, Kino, Café, Theater, Schwimmbad sind nicht drin bei mir, Zeitung und Bücher auch nicht. Auto habe ich sowieso keins, auch keine Monatskarte, ich mache alle Wege mit dem Fahrrad, oder wie jetzt, bei Schnee, gehe ich zu Fuß. Und, das ist doch komisch, ich habe wieder keine Reisefreiheit.“ Er lacht. „Nicht ohne Kohle! Außerdem muss ich jederzeit dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.
Also ich sehe schwarz, auch wie sie das ausnutzen mit der Wirtschaftskrise. Man zwingt die Leute in sinnlose Beschäftigungsgesellschaften – das habe ich auch hinter mir – in 1-Euro- Jobs und höhlt einfach den ersten Arbeitsmarkt aus. Mindestlöhne wollen sie nicht und die Firmen werden doch geradezu eingeladen zum Betrug mit Kurzarbeitergeld und Qualifizierung. Oder andere Leute, die arbeiten 40 Stunden voll für einen Hungerlohn und müssen unterstützt werden. Dem Absinken nach unten sind alle Türen und Tore geöffnet worden. Hier geht doch alles zu Ende! So ähnlich war es auch damals 89 beim Untergang der DDR.“
Eben rief Mario an: „Ich war heute bei der Fallmanagerin, die krank war, und sie war überraschend kooperativ. Das hat mir wieder etwas Hoffnung gemacht.“