: Judo hilft gegen Abschiebung
Knapp 200.000 Ausländer leben in einem Schwebezustand in Deutschland, mehr als die Hälfte von ihnen schon seit über fünf Jahren. Babek ist schon seit sieben Jahren hier
VON INGA RAHMSDORF
Bei jedem Schritt quietschen seine Sohlen auf dem glänzenden Parkett. Der junge Mann mit den schwarzen, stoppeligen Haaren bleibt vor einem Bild von Rembrandt stehen. Seine Begleiterin blickt ihn auffordernd an. Er beginnt zu erzählen. Vom Leben des Malers und von den Figuren auf dem Bild. Ein Museumsbesucher kommt dazu. „Sind Sie einer der Studenten, die hier Führungen machen?“, fragt er.
Babek schüttelt überrascht den Kopf. Fast jeden Donnerstagabend kommt der 19-Jährige in die Gemäldegalerie. „Hier ist mein zweites Zuhause“, sagt er. Gerne würde er eines Tages hier arbeiten. Aber ob er studieren wird, ist noch nicht sicher, obwohl er dieses Jahr Abitur macht. Babek und seine Familie leben als Flüchtlinge in Berlin – geduldete Flüchtlinge dürfen in Deutschland nicht studieren.
Babek ist in Aserbaidschan geboren. Als 12-Jähriger musste er 1998 mit seiner Familie fliehen. Sie landeten in Berlin. Bekannte oder Familie hatten sie hier nicht. In Deutschland haben Babeks Eltern ihm erklärt, warum sie das Land verlassen mussten. So erst hat er erfahren, wie seine Großmutter starb. „Sie wurde umgebracht. Jemand warf ihr einen Stein an den Kopf.“ Babek unterbricht die Erzählung. Manchmal plagen ihn noch heute Albträume.
Babek ist armenischer Herkunft und gehört einer Minderheit in Aserbaidschan an. Das Land steht seit Jahren im Konflikt mit seinem Nachbarstaat Armenien. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion starben 1991 tausende Menschen bei einer blutigen Auseinandersetzung. Die Situation für Armenier in Aserbaidschan erschwerte sich.
Babek wünscht sich seit langem, einmal nach Paris zu fahren. Den Louvre will er besuchen. Bis vor ein paar Monaten durfte er noch nicht einmal mit der S-Bahn nach Potsdam. Für ihn galt die Residenzpflicht, die es Flüchtlingen verbietet, ihren Wohnort zu verlassen.
Etwa 200.000 Menschen leben als „geduldete Flüchtlinge“ in Deutschland. Sie sind nicht als Asylbewerber anerkannt, können aber auch nicht in ihre Heimat zurückkehren, weil dort Krieg herrscht, sie Verfolgungen ausgesetzt wären. Ihre Duldung wird nur für einen kurzen Zeitraum verlängert: manchmal einen Monat, höchstens drei Jahre. Zirka 120.000 von ihnen leben schon mehr als fünf Jahre hier.
Vergangene Woche hat Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble große Hoffnungen bei geduldeten Ausländern geweckt: „Wenn die Menschen im Land sind und auch keine Chance besteht, sie aus dem Lande herauszubringen, wenn man sie vielleicht auch gar nicht abschieben kann, muss man Regelungen finden, damit umzugehen“, sagte er am Rande eines Treffens mit europäischen Amtskollegen. Diese Nachricht ist umso wichtiger für die Flüchtlinge, seit die Organisation Pro Asyl bekannt gab, dass derzeit in den Bundesländern besondere Anstrengungen unternommen würden, bisher geduldete Ausländer abzuschieben.
Sechs Monate, so lautete im Januar 2006 die letzte Entscheidung für Babek, seine beiden Schwestern und seine Eltern. Im kommenden Juli müssen sie wieder zur Ausländerbehörde und auf den nächsten Stempel hoffen. Sicherheit gibt es nie. Ihr Asylantrag wurde zweimal abgelehnt. Das ist keine Ausnahme. Im Jahr 2005 wurden von 42.908 Asylanträgen nur 411 anerkannt – weniger als ein Prozent.
Seit 2001 organisieren sich junge Flüchtlinge. Mit dem Projekt „Hier geblieben!“ machen sie auf sich aufmerksam und setzen sich gegen die Residenzpflicht, das Studienverbot und Abschiebungen ein. Babek ist nervös, als er mit dem Fahrstuhl in den fünften Stock zum Büro des Beratungs- und Betreuungszentrums für junge Flüchtlinge (BBZ) im Berliner Stadtteil Moabit fährt. Gleichzeitig mit ihm treffen andere junge Männer und Frauen ein. Verschiedene Akzente begleiten die Begrüßungen, die auf Deutsch quer durch die Räume fliegen. Walid Chahrour kommt aus seinem Büro. Der große Mann mit dem Schnauzbart und dem offenen Blick ist der Projektleiter. Als er Babek sieht, streckt er ihm die Hand entgegen. „Bist du das erste Mal hier?“, fragt er.
Etwa 25 Männer und Frauen versammeln sich in einem Raum, alles Flüchtlinge. Die Tagesordnungspunkte werden besprochen. „Wer schreibt Protokoll?“, fragt ein junger Mann mit Brille. Er selbst übernimmt die Redeleitung. Ibrahim berichtet detailliert von den neuen Regelungen für Kosovo-Albaner. Jemand unterbricht ihn. „Ist es sicher, dass die Auflagen so bleiben?“ Artan hört genau hin. Der 21-jährige Kosovo-Albaner kam vor sieben Jahren nach Deutschland. Allein. „Meine ganze Familie ist tot“, sagt er. Sein Blick bleibt fest, doch die Augen zucken kurz. Bis er 18 wurde, lebte er in einem Heim mit anderen Flüchtlingen. Jetzt droht ihm die Abschiebung. „Ich habe keinen Kontakt mehr dorthin. Meine Freunde sind alle hier.“ Vor einem Jahr hat er seine vierte Ausbildung angefangen. Zum Bürokaufmann. Gerne würde er sie abschließen. „Wenn das klappt.“ Die vorherigen Ausbildungen musste er abbrechen, weil er keine Arbeitserlaubnis vorweisen konnte. Ein psychologisches Gutachten über seine traumatischen Erfahrungen liegt vor. Doch bisher hat er noch keine Antwort von der Härtefallkommission.
Auch Babeks Familie hat sich an die Kommission gewandt. Dort können Flüchtlinge in einer besonders schwierigen Lage ein Aufenthaltsrecht erhalten. Aber nur in Einzelfällen wird die Härtefallregelung, wie bei Babeks Familie, angewendet.
Im Januar 2006 wurde ihre Duldung in eine sechsmonatige Aufenthaltserlaubnis umgewandelt. „Seit einem Monat dürfen wir endlich arbeiten“, erzählt Babek, „und die Residenzpflicht wurde aufgehoben.“ Nach acht Jahren. Fast entschuldigend und optimistisch erklärt er: „Die Frau auf dem Amt hat gesagt, es geht alles Schritt für Schritt.“ Dabei sind es eher Trippelschritte, mit denen sich die deutsche Bürokratie den Asyl- und Aufnahmeverfahren widmet. Fast alle in der Initiative „Hier geblieben!“ leben seit Jahren in der Unsicherheit, abgeschoben werden zu können.
Babek redet nicht gerne darüber. Heute fühlt er sich als Deutscher und hier zu Hause. Mit seinen Eltern spricht er Deutsch und Aserbaidschanisch. „Ich will meinen Eltern die Sprache beibringen“, erzählt er. Wieder nach Aserbaidschan zu müssen kann und will er sich nicht vorstellen. Babek ist begeistert von Deutschland. „Hier ist alles so friedlich“, sagt er.
Der nächste Tagesordnungspunkt der Flüchtlinge ist die Konferenz der Innenminister, die im Mai 2006 stattfindet. Darin setzen sie ihre Hoffnung. Die Initiative „Hier geblieben!“ will die Konferenz mit Aktionen begleiten und auf ihre Situation aufmerksam machen. Geplant ist ein Fußballspiel zwischen Flüchtlingen und den Innenministern. Der Hamburger Fußballverein St. Pauli soll die Schirmherrschaft übernehmen. Außerdem suchen sie noch einen Trainer. Dafür wollen sie Bundestrainer Jürgen Klinsmann ansprechen. „Fair Play – auch in der Zuwanderungspolitik!“ – so das Motto.
Nazliye schreibt die wichtigsten Punkte der Besprechung auf. Die 19-Jährige macht eine Ausbildung zur Arzthelferin. Als Nazliye ein Jahr alt war, kam sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Kurden mussten aus der Türkei fliehen. Heute, über 17 Jahre später, sollen ihre Mutter und der Bruder abgeschoben werden. Der Härtefallkommission reicht der schlecht bezahlte Arbeitsplatz der Mutter in einer Bäckerei und als Putzfrau nicht aus. Nazliyes Bruder ist seit eineinhalb Monaten im Krankenhaus. Mit Depressionen. Er ist suizidgefährdet.
„Mich ärgert es, dass sie einen Jugendlichen in ein Land schicken wollen, das er nicht kennt“, sagt Nazliye. „Das finde ich respektlos.“ Ihre Eltern sind getrennt. Der Vater wurde vor sechs Jahren abgeschoben. Nazliye darf bleiben, vorerst. Sie hat eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. „Ich habe immer gekämpft“, sagt sie energisch. „Ich fühle mich wie eine Deutsche, auch wenn ich nicht so aussehe.“
Auch Babeks Familie muss immer wieder neu ihr Engagement und ihre Entschlossenheit, hier zu bleiben, beweisen. Um das zu dokumentieren, haben alle eine große Sammlung angelegt: Bescheinigungen von Babeks Judowettkämpfen, Belege von den sozialen Diensten der Eltern, die Schulzeugnisse der Kinder, die Urkunde vom Modewettbewerb der jüngeren Schwester haben sie bei der Ausländerbehörde eingereicht. Das Archiv dieser Dokumente ist ihre wertvollste Habe. Von solchen Nachweisen und von viel Glück hängt die Eintrittskarte nach Deutschland ab, die nur selten an Flüchtlinge vergeben wird.
Neben Babek sitzt Minh. Er rutscht auf seinem Stuhl hin und her und lacht viel. Wenn man nichts davon wüsste, würde man ihm seine schwierige Situation nicht anmerken. „Ich kann nicht hier bleiben, und ich kann nicht zurück“, sagt er. Der 23-Jährige zieht ein grünes Papier aus seinem Portemonnaie. „Hier steht: Studieren nicht gestattet, Arbeiten nicht gestattet. Jeden Tag starre ich auf meinen Pass und weiß nicht weiter. Vielleicht gibt es ja im Paradies einen Platz für mich. Hier jedenfalls gibt es keinen.“ Minh ist vor fünf Jahren allein aus Nordvietnam nach Deutschland gekommen. Er will Politik studieren.
Rukiya und Menice halten sich während der Besprechung zurück. Sie sind noch nicht lange bei der Initiative. Die beiden Schwestern mit den langen, schwarzen Haaren besuchen die neunte und zehnte Klasse. Vor zehn Jahren sind sie nach Deutschland gekommen. „Seitdem sitzt mein Vater zu Hause. Er hat keine Arbeitserlaubnis. Da muss man ja verrückt werden, wenn man zehn Jahre nicht arbeiten darf“, sagt Rukiya kopfschüttelnd.
Der Asylantrag ihrer Familie wurde abgelehnt, und jetzt hat auch die Härtefallkommission ihren Antrag zurückgewiesen. Ihnen droht die Abschiebung. Untereinander sprechen die beiden Deutsch. Mit ihren Eltern meist Kurdisch. „Ich will nicht in die Türkei zurück“, sagt Menice, die Jüngere der beiden. „Das ist ein fremdes Land, und ich kann kein Türkisch.“
INGA RAHMSDORF, 27, lebt als freie Autorin und Politikwissenschaftlerin in Berlin