: Die Lust am Abschneiden
Wenn sich kerngesunde Menschen eine Behinderung wünschen, dann lässt das auf ein Problem im Oberstübchen schließen – oder auf eine Modekrankheit namens „Body Integrity Identity Disorder“
von Cigdem Akyol
Markus ist misstrauisch. Wochenlang meldet er sich nur per E-Mail und will genau wissen, worum es eigentlich geht. Er ist zurückhaltend, denn auch im riesigen World Wide Web fühlt er sich nicht sicher. Schließlich gibt es genügend Spanner, die Menschen wie ihn beleidigen. Denn Markus möchte sein linkes Bein amputieren lassen. Ein vollkommen gesundes Bein. Er empfindet es nicht als Fremdkörper, es gefällt ihm nicht. „Es passt einfach nicht zu meinem Erscheinungsbild“, sagt Markus lapidar. „Außerdem fände ich mich mit einem Bein erotischer“.
Menschen wie Markus kennen die Wenigsten. Dabei ist er einer von hunderten, die sich auf deutschen Internetseiten, in Foren und Blogs dazu bekennen, endlich behindert sein zu wollen. Die Betroffenen bleiben unter sich, geredet wird nur im Netz. Die Warnung steht bereits im Eingangsbereich des Forums, welches man mit einem Passwort betreten kann. Die Botschaft ist eindeutig: Gäste sind hier unerwünscht. „Redet nicht mit Journalisten“, warnt ein User die anderen Mitglieder. „Denkt daran, was nach 1933 mit Behinderten geschah.“ Sie sollen wegbleiben, die Spinner, die sich durch die Seiten klicken, um die User zu beschimpfen oder mit Fragen zu nerven. Sie haben keine Lust, sich zu verteidigen.
Body Integrity Identity Disorder (BIID) heißt die Krankheit, Körper-Integritäts-Identitäts-Störung, bei der die Betroffenen den Wunsch haben, als überflüssig empfundene Gliedmaßen zu amputieren. Meistens wollen sie ein Bein oder einen Arm loswerden, um einen gewünschten Idealzustand zu erreichen.
Seltener ist die Sehnsucht nach einer Amputation mehrerer Körperteile. Einige wenige wünschen sich eine Querschnittslähmung. So wurde im Forum des Bochumer Medizin-Ethikforums eine E-Mail veröffentlicht, die an Ärzte bundesweit gesendet wurde. Ein nach eigenen Angaben 39-jähriger Deutscher suchte „nach einer Möglichkeit, meine innere Identität als Mensch mit einer Querschnittslähmung zu realisieren“. Seit seinem sechsten Lebensjahr verspüre er den Wunsch, nicht mehr laufen zu können. „Meine Neigung und die Notwendigkeit, sie zu verstecken, hat als Kind und Jugendlicher meine Seele stark verletzt“, schildert er. „Mir sind die negativen Folgen einer Querschnittslähmung bekannt. Ich bitte Sie, mit mir gemeinsam zu erreichen, dass bei mir die Durchtrennung meines Rückenmarks durchgeführt werden möge“, schrieb er.
Die tieferen Ursachen für die Krankheit zu benennen, fällt der Medizin bis heute schwer. Fest steht nur, dass die BIID-Betroffenen eine behinderungsbringende Operation als Vervollständigung ihres Köpers und nicht als Verstümmelung empfinden. Als Fünfjähriger sah Markus zum ersten Mal in seinem Leben einen beinamputierten Mann, und die Faszination prägt ihn noch heute. „Er hatte den Zustand, den ich seitdem anstrebe“, erzählt der 39-Jährige. Die Sehnsucht verschwand nicht mehr, im Gegenteil: Sie wurde immer stärker. Vor drei Jahren entdeckte er das Internet. Endlich konnte er sich mit anderen austauschen und über seine Sehnsucht sprechen. Hier lernte er Gleichgesinnte kennen, mit denen er „pretendet“. Gemeinsam geben sie vor, behindert zu sein, indem sie sich mit einem Rollstuhl, einem weggebundenen Körperteil oder Krücken durch den Alltag bewegen. Aber zwischen den zwei Lebenswelten gibt es eine strikte Grenze. Denn die Angst, ertappt zu werden, ist immer da, und deswegen fahren sie in eine fremde Stadt. Dieses Vorspielen eines nicht vorhandenen Zustandes wird „Pretending“ genannt.
Mediziner und Psychologen streiten in Fachjournalen über die Grenzen der körperlichen Selbstbestimmung. Darf es ein Recht auf vorsätzliche Behinderung geben? Dürfen gesunde Gliedmaßen auf Rezept amputiert werden? Ist ein Arzt dem Wohl oder Willen eines Patienten gegenüber verpflichtet? Die Persönlichkeitsstörung wird seit 1977 in medizinischen Fachzeitschriften diskutiert. Damals nannte ein amerikanischer Psychiater das Phänomen Apotemnophilie: die Lust am Abschneiden.
Im Jahr 2000 dann veröffentlichte der New Yorker Kinderpsychologe Gregg Furth das bisher einzige Buch über BIID. Darin stellt er die These auf, dass „Therapie, Medikamente und Operationen eingesetzt werden dürfen, damit die Betroffenen vollständig leben können“.
Der Psychologe hatte nicht nur wissenschaftliches Interesse an dem Thema. Furth selber wünscht sich seit seiner Kindheit die Amputation seines rechten Beines. Bisher wartet er vergeblich auf eine Operation. Denn ein Arzt darf einem völlig gesunden Menschen nicht das Bein amputieren, nur weil dieser es wünscht. Eine restriktive Medizinethik erlaubt solche Eingriffe nicht.
Der heute gängige Begriff BIID wurde von dem schottischen Arzt Robert Smith geprägt. Er hatte im Jahr 2000 zwei Beinamputationen an gesunden Patienten vorgenommen. Die BBC dokumentierte die Eingriffe und strahlte eine Reportage aus. Daraufhin verboten die Ärztekammer und das Schottische Nationalparlament weitere Eingriffe. Die Öffentlichkeit missbillige solche Operationen, hieß es damals. Und man befürchtete einen Ansturm ausländischer BIID-Betroffener.
Der Amerikaner Michael First veröffentlichte im letzten Jahr eine Studie, die auf der telefonischen Befragung von 52 Betroffenen beruhte. Der Psychiater von der Columbia-Universität in New York zog die Bilanz, dass eine therapeutische Behandlung zwecklos sei. Nur die ersehnte Amputation könne die Identität der Betroffenen mit ihrem Körper in Einklang bringen, warb er um Verständnis.
Das sind Debatten, die in Deutschland kaum geführt werde. „Von erforscht kann einfach nicht die Rede sein“, bemängelt Jakob Pastötter. „Es gibt nur sehr wenige Aufsätze über BIID, und diese kranken daran, dass sie nur mit sehr wenigen Beispielen arbeiten.“ Der deutsche Sexualwissenschaftler, der an der Universität in Florida unterrichtet, weiß, dass der „Wissenschaft harte empirische Fakten fehlen“. Gerade in Deutschland, wo die Forschungsgelder sehr knapp sind, werden Krankheiten, die nur Minderheiten betreffen, kaum erforscht. Und genau das ist BIID auch, eine Krankheit, die nur wenige betrifft.
„Wir wissen nicht, woher BIID kommt“, sagt Pastötter. „Der Wunsch nach einer Amputation könne zwar gedämpft werden, aber auf Dauer kann keine Medizin ihn unterdrücken“: Dennoch würde Pastötter nicht so weit gehen und die Amputation als Behandlungsmethode sehen. „Denn es fehlen Langzeitstudien, und deswegen weiß niemand, ob Amputierte ihren Wunsch vielleicht Jahre später bereuen könnten“, sagt er. Das Einzige, was die Wissenschaft mit Sicherheit weiß, ist, dass über 90 Prozent der Betroffenen Männer sind.
Das merkt man auch, wenn man die Internetforen betritt. Die wenigen Frauen, die in den Foren schreiben, fragen selbst nach weiblichen BIID-Kranken. Das Forum ist mehr als eine Zuflucht für die Betroffenen, es ist eine Gemeinschaft. Die Mitglieder versuchen sich gegenseitig zu stützen und zu helfen. „Ich bin ziemlich verzweifelt, weil sich mein Wunsch trotz aller Ablenkung nicht mehr unterdrücken lässt“, schreibt Susanne. Sie möchte sich ihr linkes Bein amputieren lassen, und fragt die anderen Mitglieder im Forum nach Tipps. Überhaupt ist die Suche nach bereitwilligen Ärzten das Hauptthema in dem Forum.
Einen Arzt zu finden, der ihm sein Bein amputiert, diese Hoffnung hat Markus fast schon aufgegeben. Als er einen Mediziner kontaktierte, der Geschlechtsumwandlungen vornimmt, wurde er nach eigenem Empfinden herablassend behandelt. Auch eine jahrelange Psychotherapie hat ihm nicht geholfen, den Wunsch nach einer Amputation zu dämmen. „Mittlerweile habe ich Angst vor meiner eigenen Entschlossenheit“, erzählt er. In dem er viel arbeitet, versucht er sich abzulenken. „Der Gedanke ist aber immer da.“
Als Außendienstler reist er viel, und wenn er in einer fremden Stadt in einem Hotelzimmer übernachtet, versucht er sich an der Umsetzung. Markus spritzt sich Lidocain – ein lokales Betäubungsmittel – in sein Knie. In den folgenden Stunden spürt er dann sein Bein nicht mehr. Ein Zustand, den er immer sehr genießt. Mehrmals schon hat er sich sein Bein abgebunden, um die Durchblutung zu unterbinden. Aber die Wirkung des Lidocain reichte nie lange genug aus, um ein Absterben des Gewebes zu erreichen.
Bisher scheiterten seine Selbstamputationsversuche. Schon einmal hat er sich auf Schienen gelegt, aber als ein Zug heranraste, konnte er nicht mehr liegen bleiben. „Wegen dem Lokführer.“ Er will niemanden in seine bizarre Welt zwingen.
Seiner Ehefrau erzählte er im letzten Jahr von seiner Sehnsucht, ganz beiläufig bei einem Glas Wein. Sie möchte nicht darüber reden, sie kann es nicht. Die Krankheit ihres Mannes blendet sie aus dem gemeinsamen Leben aus.
Der Kreislauf soll aber endlich aufhören. Markus nimmt der ständige Schwebezustand nervlich mit. Sollte er dieses Jahr keinen Arzt in Deutschland finden, der ihn amputiert, dann will er selbst Hand an sich anlegen.
Es wird keine übereilte Entscheidung sein – Markus hat sie schon gefällt, als er fünf Jahre alt war.