Zwischen Krieg und Hedonismus

VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG Die Reihe „Sights of Memory“ zeigt acht libanesische Filme aus allen Genres und offenbart eine fragmentierte und vom Bürgerkrieg gezeichnete Gesellschaft

„My Heart Beats Only for Her“ macht deutlich, dass es auch so etwas wie eine Erotik des bewaffneten Kampfs gibt

VON BERT REBHANDL

Wenn sich in einer dicht besiedelten Stadt wie Beirut unvermutet ein Leerraum auftut, dann muss es damit wohl eine besondere Bewandtnis haben. So ist es jedenfalls bei dem Viertel Karantina, das heute vor allem als eine Ruinenlandschaft erscheint. Die Geschichte des Landes hat sich hier eingeschrieben, doch man muss sie lesbar machen, wie es Nadim Mishlawi in seinem Dokumentarfilm „Sector Zero“ tut. Er durchstreift mit der Kamera die verfallenen Gebäude und lässt dazwischen Intellektuelle zu Wort kommen, die sich Gedanken über die fragmentierte Gesellschaft ihres Landes machen. Karantina war einmal ein Krankenhaus, das für Quarantänemaßnahmen genutzt wurde – Pilger, die von der Hadsch aus Mekka zurückkamen, mussten hier Station machen, aber auch Überlebende des Armenier-Genozids zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Später befand sich hier ein Schlachthof, noch später wurden hier Partys gefeiert.

Karantina ist so etwas wie der Libanon in nuce, ein Land zwischen Krieg und Hedonismus, zwischen Orientierung an Paris und an Teheran. Ein Land, das zwischen 1975 und 1990 einen Bürgerkrieg erlebte, mit dessen Bewältigung es immer noch zu tun hat. Das Kino trägt dazu seinen Teil bei, wie aus der sehr interessanten Reihe „Sights of Memory“ hervorgeht. Acht Arbeiten aus allen Genres und aus den Jahren 2005 bis 2012, das reicht schon für eine dichte Bestandsaufnahme und auch für einen Aufweis des therapeutischen Potenzials, das im Akt des Filmens, des Aufnehmens und Betrachtens von Bildern liegt. Im Falle von Assaad Shaftari und Maryam Saiidi, die in dem Dokumentarfilm „Sleepless Nights“ aufeinander treffen, sind die Filmemacher eine Instanz, die diese Konfrontation eines ehemaligen christlichen Milizionärs und der Mutter eines 1982 verschwundenen jungen Kommunisten vermitteln.

Der Libanon war immer schon ein geopolitischer Knotenpunkt, ein multikulturelles Labor, das durch Fundamentalismen religiöser und politischer Art gefährdet war, aber auch reich durch Verbindungen in alle Himmelsrichtungen. Der Dokumentarfilm „My Heart Beats Only for Her“ zeichnet sich besonders durch seine originelle Form aus, mit der er verschiedene Formen von Internationalismus aufgreift – den der kommunistischen Kader, die in den siebziger Jahren zur Ausbildung nach Vietnam fuhren, aber auch den der Businesseliten, die in den Golfemiraten ihren Bezugspunkt gefunden haben. Das Herz schlägt hier bezeichnenderweise nicht für eine Geliebte oder einen Geliebten, sondern für eine politische Organisation – die Fatah. Es zählt zu den Qualitäten von „My Heart Beats Only for Her“, dass er deutlich macht, dass es auch so etwas wie eine Erotik des bewaffneten Kampfs gibt, eine Triebstruktur der Weltverbesserung, die häufig destruktiv wird; hier schließt sich ein Kreis zu „Sector Zero“, in dem Freuds Kulturtheorie unvermutet wieder ins Spiel kommt.

In den Spielfilmen sind es zumeist einzelne Protagonisten, denen wir dabei zusehen, wie sie eine Gesellschaft durchqueren, die sowohl räumlich wie zeitlich zahlreiche Spuren der jüngsten Geschichte enthält. „A Perfect Day“ von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige erzählt von einem jungen Mann, der nach vielen Jahren seinen Vater für tot erklären lässt; dass ihn gleichzeitig seine Freundin verlassen hat, lässt ihn zu einem Irrläufer in einem scheinbar ganz auf die hektische Gegenwart konzentrierten Beirut werden. In „Al Jabal“ („Der Berg“) von Ghassan Salhab findet sich die gegenläufige Tendenz: Ein Mann, der als ein bekannter Sänger erkannt wird, zieht sich in ein Hotel in den Bergen zurück, stellt jeden persönlichen Kontakt zur Welt ein (auch der Room Service muss draußen bleiben) und beginnt zu schreiben. Auch das ist ein Weg, sich einem Trauma zu nähern, von dem der Film ein vieldeutiges Bild gibt. So bleiben Katharsis und Interpretation in der Schwebe. Nicht der schlechteste Weg zu einer Vergangenheitsbewältigung.

■ Sights of Memory – Filme aus dem Libanon: Arsenal, Potsdamer Straße 2, bis 29. 9., Programm: www.arsenal-berlin.de