: Sind Femen reaktionär?Ja
Nackt Der medienwirksame Agitprop von Femen ist umstritten. Jahrelang wurde die kämpferische Frauengruppe von einem Mann gelenkt
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Miriam Gebhardt, 51, ist Historikerin und schrieb „Alice im Niemandsland“
Endlich, dachte ich beim ersten Blick auf Femen, endlich tut sich wieder was. Jahrzehntelang ernährte der deutsche Feminismus nur noch Alice Schwarzer, ein paar Unifrauen und Gleichstellungsbeauftragte. Dann das Déjà-vu: Kampf gegen Kopftuch, gegen Prostitution und gegen die böse Unterhaltungsindustrie. Femen will uns umerziehen. Denn anscheinend wissen Frauen nicht, was sie tun, wenn sie Kopftuch tragen, sich prostituieren oder bei Misswahlen mitmachen. Das ist Steinzeitfeminismus, der höchstens noch in die Ukraine passt. Ich warte weiter auf einen Feminismus, der Lebensentwürfe geschlechtsneutral erweitern hilft. Der die widersprüchlichen Glücksvorstellungen zwischen Tradition und Moderne ernst nimmt, ohne Umerziehungsprogramm. Ein nackter Busen macht noch kein liberales Weltbild.
Stevie Meriel Schmiedel, 41, ist Genderforscherin und Gründerin von Pinkstinks
Femen haben Feminismus, zusammen mit #Aufschrei, One Billion Rising, Pinkstinks und vielen anderen 2013 in den Medien gehalten. Aber zu welchem Preis? Bei Femen Deutschland engagieren sich Frauen, die schnell viel bewirken wollen. Dass sie dabei diskriminieren, finden sie nicht. Aufmerksamkeit generieren und Wandel bewirken sind nicht dasselbe. #Aufschrei bewirkte einen Zuwachs an Beschwerden bei offiziellen Stellen. Femen bewirkten, dass GNTM, „Germany‘s Next Top Model“, unverdient viel Presse hatte. In ihren Aktionen wurde Musliminnen und Prostituierten ihre Freiheit abgesprochen. Rechtsradikale Symbole wurden für den Effekt legitimiert. #Aufschrei wirkte ohne Pin-up-Taktik und brennende Kreuze. Gegen GNTM gab es 2013 Kritik wie nie. Doch dass Heidi noch eine Staffel drehen will, verdanken wir auch Femen. Schade. Femen, bitte: Innehalten und nachdenken!
Dieter Rucht, 67, erforscht Soziale Bewegungen in der Bundesrepublik DeutschlandFemen ist ein clever betriebenes Selbstvermarktungsprojekt mit erklärter feministischer Zielrichtung. Die ungewöhnliche Aufmerksamkeit für das Projekt verdankt sich dem Voyeurismus der Medien („sex sells“) und der Herkunft der AktivistInnen aus einem autoritär regierten Land. Das lässt ihre Auftritte als mutig und glaubwürdig erscheinen. Ob jedoch die feministische Botschaft ankommt, ist fraglich. Einmal mehr gilt: The medium (der blanke Busen) is the message. Ginge es wirklich um anderes, könnte sich Femen mit Feministinnen im Ausland enger austauschen, mehr als Slogans anbieten, die eigene Finanzierung offenlegen und die dubiose Rolle von Wiktor Swjazki klären, der seit Bestehen der Gruppe die Fäden zu ziehen scheint. Die Parolen der Gruppe sind gewiss nicht reaktionär. Aber progressiv ist deshalb Femen keineswegs.
Natascha Nassir-Shahnian, 27, ist Politikwissenschaftlerin und kommentierte per Mail
Femen stehen für die Freiheit der Frau. Aber was bedeutet das in patriarchalen Gesellschaften und wer beansprucht diese Freiheit für wen? Mit dem Entblößen von Frauenkörpern, die Schönheits- und Gendernormen entsprechen, kann in der sexistischen Allgegenwart kein feministischer Blumentopf gewonnen werden. Aus feministischer Sicht ist vieles an Femen problematisch, von der Reproduktion bestimmter Schönheitsideale über nationalistische Bezüge wie Flaggen in Brustoptik bis hin zu hierarchischen Strukturen und Boot-Camps. Inhaltlich ist vor allem die medienwirksame Inszenierung von antimuslimischem Rassismus zu kritisieren. Paternalismus und Nacktheit – das ist nicht feministisch.
Nein
Reyhan Sahin aka Lady Bitch Ray, 32, ist Rapperin, Feministin und Buchautorin
Ich finde die Ansichten Alice Schwarzers zum muslimischen Kopftuch reaktionär, aber nicht Femen. Ich kenne die Femen-Germany-Gründerinnen persönlich. Das sind junge Frauen, die gegen die Zwangsprostitution im Hamburger Rotlichtmilieu, gegen Sexismus und patriarchische Wertevermittlung in Heidi Klums „Germany’s Next Top Model“ agieren und dafür ihren Körper einsetzen. Welche Frauen sind sonst so mutig und setzen ihre eigene Existenz aufs Spiel? Falls sich wirklich entpuppen sollte, dass ein Schwanz die ukrainische Femen-Truppe gecastet und gelenkt hat, würde es dem vaginalen Selbstbestimmungsprinzip widersprechen und ich fände es ziemlich scheiße. Auch lässt sich über die Ansicht Femens zur muslimischen Verschleierung streiten. Dies ist jedoch kein Grund, ihre Ansichten komplett über Bord zu werfen. Von mir an alle Bitches im Land: Steht auf und zeigt Votze! Fight for your rights und solidarisiert euch, Bitches!
Irmingard Schewe-Gerigk, 65, ist Vorsitzende der Organisation Terre des Femmes
Die Femen-Aktivistinnen haben durch den gezielten Einsatz ihrer nackten Oberkörper eine neue, wenn auch umstrittene, Form des Widerstands gefunden. Sie haben es durch Provokation geschafft, das Thema Sexismus auf die Titelseiten zu bringen und somit Öffentlichkeit geschaffen. Das ist gut so. Da nicht jede Person gleichermaßen für die besonders in Osteuropa sehr gefährlichen Aktionen geeignet ist, wird eine strenge Auswahl vorgenommen. Physische und psychische Stabilität sind Voraussetzung. Es gibt Informationen über Auswahlkriterien und hierarchische Strukturen, die zu kritisieren wären. Aber reaktionär ist diese Gruppe deshalb nicht. Es käme auch niemand auf die Idee, Greenpeace zu verurteilen, weil auch sie eine für Außenstehende undurchschaubare Auswahl der AktivistInnen vornehmen.
Heike Walk, 47 , ist Geschäftsführerin des Berliner Instituts für ProtestforschungReaktionär finde ich die Femen-Aktivistinnen ganz und gar nicht. Wenn wir den Begriff ernst nehmen, dann sind die Aktionen der Frauen genau das Gegenteil: Sie wollen auf eine bestehende gesellschaftliche Ungerechtigkeit hinweisen und damit Veränderungen herbeiführen. Einige der Frauen riskieren bei ihrem Protest gegen Prostitution und Frauenfeindlichkeit sehr viel, und das finde ich beeindruckend. Es ist offensichtlich, dass sie durch ihre besondere Protestform in erster Linie für Irritation sorgen wollen, und damit reagieren sie gleichzeitig auch auf ein Phänomen, das schon lange bekannt ist: Um eine große öffentliche Aufmerksamkeit zu erreichen, sind spektakuläre und besonders kreative Protestaktionen gefragt. Erst durch die provokativen Aktionsformen haben Femen eine wachsende Aufmerksamkeit erzielt.
Martin Niewendick, 26, ist taz-Leser und kommentierte den sonntaz-Streit per MailGroße Teile der linken und feministischen Szene haben ein Problem mit einer neuen Spießigkeit. Falsch verstandener Antisexismus wird zu einer Tugend-Hysterie umgedeutet, die den menschlichen Körper als schlecht definiert. Das spiegelt sich in der Ablehnung der Protestform von Femen wider. Dabei ist das Blankziehen zum einen strategisch richtig, da es Aufmerksamkeit erregt. Zum anderen ist es politisch richtig, weil Frauen sich die Hoheit über ihren Körper zurückholen. Dabei hat ihnen niemand reinzureden – weder das Patriarchat noch spießige Linke, die Körperfeindlichkeit mit Emanzipation verwechseln.