Eine Frau wie ich

Wie das Leben in die Literatur kommt und die Literatur in ein Romanleben eingreift: Elke Schmitters neuer Roman „Veras Tochter“

von GERRIT BARTELS

Auch Marcel Reich-Ranicki hat einen Auftritt in Elke Schmitters neuem Roman „Veras Tochter“. Katharina, die Tochter von Vera, schaut sich das „Literarische Quartett“ an, und zwar die Ausgabe, in der Elke Schmitters Debütroman „Frau Sartoris“ vorgestellt wird. Reich-Ranicki lobt ihn in höchsten Tönen, erkennt aber eine kleine Schwäche: „Diese Tochter, eine merkwürdig blasse Figur, die hätte es gar nicht gebraucht.“ Als hätte sie sich Jahre später davon inspirieren lassen, hat Elke Schmitter diese Tochter mit mehr Fleisch und Blut ausgestattet und ihr jetzt die Roman-Hauptrolle gegeben: besagte Katharina, eine Frau Anfang vierzig, Übersetzerin in Köln. Eine gewisse Blässe ist ihr aber weiter zu Eigen: „Eine Frau wie ich“, beschreibt sie sich rückblickend, „trug selbst gestrickte Pullover und ein bisschen zu weite Jeans […] und kaufte Lidschatten und Badeöl im Body Shop, gab Geld für Bio-Gemüse aus und ging in die Sneak-Previews.“

Eines Tages blättert Katharina beim Friseur in einer Frauenzeitschrift, liest eine Kurzrezension von „Frau Sartoris“ und begreift: „Das konnte kein Zufall sein.“ Eine Frau, die aus ihrer Ehe ausbrechen will, in einen Autounfall mit Todesfolge verwickelt ist, Fahrerflucht begeht – diese Frau, Margarete, Frau Sartoris, muss im richtigen Leben, dem von Schmitters neuem Roman, ihre Mutter Vera gewesen sein. Also macht sich Katharina an die Erinnerungsarbeit. Sie erinnert sich an die Zeit ihrer ersten Liebe und der Ehe ihrer Eltern, überlegt, warum diese sie plötzlich auf ein Internat schickten, fragt sich, ob ihr erster Lover, Robert, verunglückte oder absichtlich überfahren wurde, von Vera. Darüber hinaus empfiehlt ihr eine befreundete Rechtsanwältin, juristisch gegen den Roman vorzugehen, von wegen Persönlichkeitsschutz, aber auch, um von der Schriftstellerin Elke Schmitter mehr über die Umstände von Roberts Tod zu erfahren.

Ja, wie Elke Schmitter hier an ihr Debüt anknüpft, wie sie ihren Erfolgsroman als literarisch-dramaturgisches Konstrukt verwendet, ist zunächst kompliziert und auch nicht unprätentiös. Schmitter spielt raffiniert mit dem Verhältnis von Leben und Literatur, überführt das Leben in die Literatur und die Literatur ein weiteres Mal in Literatur; sie zeigt, wie die Literatur in das Leben ihrer Heldin eingreift, wie die Lektüre von „Frau Sartoris“ einen Erinnerungsprozess in Gang setzt und Katharina darüber nachdenkt, wie sie wurde, was sie ist. Gerade in diesen Passagen wird aus der Literatur dann wieder das pralle Leben, selbst wenn das von Katharina sich alles andere als prächtig darstellt.

Natürlich ist „Veras Tochter“ schön zitatistisch – vielleicht hat Schmitter zuletzt einfach zu viel Philip Roth gelesen, nicht nur, weil am Ende die Schriftstellerin Elke Schmitter einen Brief an Katharina schreibt. Zudem kann man diesen Roman als Reaktion auf die gerichtlichen Verbote der Romane von Maxim Biller und Alban Nikolai Herbst lesen. Schmitter erläutert in dem Brief, wie eng ihre Grenzen sind, wie nah an ihrem Leben auch ihre Literatur ist. Und trotzdem: „Ein Roman kann wie das Leben sein, aber das Leben ist kein Roman.“

Schmitters Roman ist vor allem das Psychogramm einer urbanen Durchschnittsfrau, aufgewachsen in einem provinziellen Durchschnittshaushalt der Sechziger- und Siebzigerjahre. Immerhin ist diese Frau im Besitz „einer tauben Stelle vielleicht in meiner Herzgegend“, in die plötzlich wieder Leben kommt. Wie das vonstatten geht, wie diese Durchschnittsfrau sich und ihrer Existenz auf den Grund geht, wie sie hinterfragt, warum dieses „selbstverständliche Glück“ der anderen nie das ihre war, wie sie versucht, an ihren Lebensknackpunkt zu gelangen, ohne ihn vollständig zu erfassen, das wiederum ist überdurchschnittlich.

Denn trotz der ambitionierten Romankonstruktion wirkt „Veras Tochter“ wie aus einem Guss; schön gelingen Schmitter die Übergänge, wechselt Katharina die Bewusstseinsebenen zwischen damals und heute. Anders als etwa Judith Kuckart in ihrem Roman „Kaiserstraße“ schmeißt Schmitter auch nicht mit haufenweise Requisiten herum, um die Atmosphäre einer bestimmten Zeit auferstehen zu lassen: Sie arrangiert hier ein kleines typisches Setting, droppt dort einen Markennamen, schmückt hier ein bisschen und dort und beschreibt so gekonnt eine enge Welt der Siebzigerjahre; eine Welt, die in der Person von Katharina auch später in Westberlin, wo sie studiert, und dann in Köln nicht viel mehr Welthaltigkeit bekommt: Deutschland, deine Zeiten, deine Menschen, muff, muff!

Monieren könnte man höchstens, dass Schmitter vielleicht eine Idee zu viel Muskeln zeigt. Wenn es um den Gefühlshaushalt ihrer Heldin geht, deren Sehnsüchte und Empfindungen, setzt sie immer noch mal einen drauf, kommt sie mit noch einem Bild mehr, obwohl man als Leser lange verstanden hat, wie sich da eine fühlt. So reicht es etwa nicht, dass sich Katharina im Internat zu Gast fühlt wie an einer Raststätte, „wo man eine Cola kauft, vielleicht einen Kaffee trinkt, die Karte studiert“. Nein, da muss ergänzt werden: „Es kann einem gleichgültig sein, ob die Bedienung nett ist und die Toilette sauber, der Kaffee lauwarm – man kommt nie mehr zurück.“

Vielleicht muss das aber so sein in einem Roman, der der berühmte schwierige dritte ist: Nach dem Erfolg von „Frau Sartoris“ und einem schwächeren zweiten muss Schmitter erst wieder ein Maß finden zwischen erfolgreichem Erzählen und dem eigenen literarischen Anspruch. Sicher dürfte sein, dass Marcel Reich-Ranicki nicht noch einmal den Bestsellerkatalysator macht und auch nicht in Schmitters nächstem Roman auftaucht – die Beachtung aber, die „Frau Sartoris“ zuteil wurde, hätte auch „Veras Tochter“ verdient.

Elke Schmitter: „Veras Tochter“. Berlin Verlag, Berlin 2006, 175 Seiten, 16 Euro