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Er lässt sich nicht abschütteln

HOCH OBEN Der Musikjournalist Paul Morley hat eine Mentalitätsgeschichte Nordenglands verfasst

Wenn der Regen hier fällt, dann meint er es auch so.“ Glaubt man Paul Morley, und dafür gibt es triftige Gründe, dann haben die gefürchteten Wetterkapriolen „hoch oben“ in Nordengland einen tieferen Sinn: Sie beschreiben einen permanenten Ausnahmezustand. „Hier beginnen Verbrechen, Ideen, Wagnisse, öffentliches Leben und private Entwürfe“, schreibt der Autor.

Dem gefühlten Norden spürt der 56-Jährige in Eisenbahnviadukten nach, die „wie fettige Finger einer gespreizten Hand“ aussehen, und in verrotteten Wohnsiedlungen, die denjenigen von Le Corbusier nachempfunden sind. Er findet ihn auch im ersten Buch eines Cultural-Studies-Forschers („The Uses of Literacy“ von Richard Hoggart, 1957), in intakten Klassengegensätzen, im Frauenbild der Fernsehserie „Coronation Street“, in Politikerkarrieren, KünstlerInnenbiografien, wissenschaftlichen Erfindungen, Fußballmatches, Ernährungsgewohnheiten und dem Konzert der Sex Pistols in der Free Trade Hall in Manchester 1976.

„The North“ ist so etwas wie Sisyphos-Arbeit. Wie in einem Schnittmuster durchpflügt Morley kreuz und quer die Gegenden. Gelegentlich banal, historisch exakt, aber auch erschlagend in seinem Detailreichtum. Ausschweifend, poetisch und gleichzeitig peinsam in seinen Seiten füllenden Aufzählungen.

„The North“ ist eine packend geschriebene Mentalitätsgeschichte. Und es ist eine autobiografische Odyssee. Allmählich fächert Morley darin eine tragische Familiengeschichte auf, mit einer kranken Mutter, einem Vater, der sich das Leben nimmt, und einem Sohn, der sein Heil in der Popmusik sucht und Musikjournalist wird. Diese zwei Bücher in einem, mit gegenläufiger Chronologie und zwei unterschiedlichen Schrifttypen, sind in eins gesetzt.

„Northern Songs“ haben die aus Liverpool stammenden Beatles einst ihren Musikverlag getauft. „Northern Soul“ heißt die im Norden der britischen Insel entstandene Leidenschaft für die härteren Soul-Single-B-Seiten und tougheren US-Interpreten. Das begründet Morley so: „Wenn man aus dem Norden kommt, begleitet er einen überallhin. Man kann ihn nie abschütteln.“ Aus dem Adjektiv „Northern“ spreche eine Geisteshaltung, aber auch ein Minderwertigkeitskomplex.

„Goodneet“ sagt der erste Moderator mit nordenglischem Akzent, den die BBC ab 1941 einsetzte. Nur deshalb, weil der Nazi-Feindsender seine Propaganda diesem Akzent nicht angleichen konnte. Als feines Englisch gilt die Sprache, wie sie im Süden und in der Hauptstadt gesprochen wird.

Nordengland ist für Morley ein Konzept mit einer „absoluten Wahrheit“. Es findet sich in der Literatur: „Imprisoned in a Liverpool of self, I haunted the gutted arcades of the past“, so beginnt die erste publizierte Kurzgeschichte des Liverpooler Schriftstellers Malcolm Lowry. Daraus spreche der Kolonialismus. Lowry sollte zum Vorbild für die Situationisten werden. Rauheit als Schutz: In den Worten der Schauspielerin Vivienne Wood: „Im Norden ist der Satz ,Deine Performance hat mir nichts ausgemacht‘ Zeichen von Zuneigung.“

Nordengland ist mehr als nur eine geografische, nach Autonomie strebende Region. Es ist fortschrittlich und rückständig zugleich. Mit Stolz verteidigt, aber mit Makel behaftet. Morley macht das am kehligen und klumpigen Klang der Stimmen fest. Eingegraben habe sich der Norden früh, zu sehen am „Nico-Ditch“, einem Flut- oder Wehrgraben, vermutlich angelegt im 7. Jahrhundert als Schutz vor den Wikingern auf dem Gebiet des heutigen Manchester.

Im 18. Jahrhundert nahm dort die Industrialisierung ihren Anfang. In Manchester wurde das erste Fließband in einer Fabrik installiert, hier herrschte bittere Armut. Aber hier stellten die Gebrüder Lever auch die erste Seife auf industrielle Weise her, die den Schmutz abzuwaschen half – wenigstens für Momente. JULIAN WEBER

Paul Morley: „The North (And Almost Everything in It)“. Bloomsbury, London 2013, 582 Seiten, 25,49 Euro

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