: Kindesmisshandlung
Eine Rechtsmedizinerin erzählt
von GABRIELE GOETTLE
Ulrike Böhm, Dr. med., Fachärztin f. Rechtsmedizin, Oberärztin f. d. Bereich Morphologie am Institut f. Rechtsmedizin der Universität Leipzig. Einschulung 1971 in d. 128. Polytechnische Oberschule (spätere Egon-Erwin-Kisch-Schule) in Leipzig. 1986 Abitur. Ausbildung u. Arbeit als Röntgenassistentin. 1990 Studium d. Elektrotechnik a. d. Uni-Leipzig; 1993–1999 Studium der Humanmedizin an der Universität Leipzig; Arbeit am Institut für Rechtsmedizin u. Verfasserin zahlreicher Beiträge i. wissensch. Zeitschriften u. Büchern. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Kindesmisshandlung (u. Bildgebung i. d. Forensik), ihr Forschungsprojekt in Planung: „Tödliche Kindesmisshandlung u. -vernachlässigung in der Bundesrepublik Deutschland vom Jahr 2000–2010“ (als Fortsetzung d. derzeit laufenden Studie f. d. Jahre 1990–1999). Ulrike Böhm wurde 1964 in Leipzig geboren, ihr Vater war Ingenieur, ihre Mutter Krankenschwester, sie selbst ist Mutter dreier Kinder und getrennt lebend.
Züchtigung, züchtig, Zucht, ziehen und Erziehung sind engstens verwandt in der Wortbedeutung. Das Recht auf die Ausübung des väterlichen Züchtigungsrechtes (das bis etwa 1929 auch die Züchtigung der Ehefrau ganz selbstverständlich mit einschloss), galt lange Zeit als unantastbar. Es wurde zwar 1958 aus unserem Bürgerlichen Gesetzbuch gestrichen, aber nicht zugunsten einer gewaltfreien Kindererziehung, sondern weil es – da es dem Vater vorbehalten war – gegen den Gleichheitsgrundsatz verstieß. Ein Züchtigungsverbot wurde nicht ins Gesetz aufgenommen, das kam erst 42 Jahre später. Bis dahin schlugen beide Elternteile straflos und nach Gutdünken. Auch an unseren Schulen gehörten Körperstrafen zum pädagogischen Kanon. In der Weimarer Republik versuchte man sie abzuschaffen, ohne wirklichen Erfolg (wie Erich Fromm in seiner Untersuchung „Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches“ feststellte, waren auch SPD- und KPD-Mitglieder Körperstrafen gegenüber nicht abgeneigt). Die Nazis führten sie dann wieder ein, und auch nach 1945 – von einer kurzen Aussetzung abgesehen – wurden sie wieder eingeführt im westlichen Teil Deutschlands. Die DDR erließ ein Züchtigungsverbot bereits 1949. Die BRD begann die Körperstrafen in ihren Schulen erst 1973 abzuschaffen (auch ich bekam in meiner Schule von den Dominikanern zahllose Tatzen mit dem Rohrstock auf die Handflächen verabreicht, das war in den 50er-Jahren in Karlsruhe). In Baden-Württemberg wurde bis 1976 gezüchtigt, in Bayern bis 1979. Was die körperliche Bestrafung durch die Eltern betrifft, so wurde 1980 im Gesetz die „elterliche Gewalt“ in „elterliche Sorge“ umformuliert, das war alles, und zwar zu einem Zeitpunkt, wo andere Länder in Europa bereits ein Züchtigungsverbot hatten. Erst im Jahr 2000 war dann auch Deutschland soweit. Körperliche Bestrafung ist seitdem unzulässig, ebenso seelische Verletzung und andere entwürdigende Maßnahmen. Erst zu diesem Zeitpunkt wird gewaltfreie Erziehung ein einklagbares Recht unserer Kinder. Der Verstoß dagegen entspricht der Kindesmisshandlung. Dennoch hat weiterhin eine unbekannte Anzahl von Kindern darunter zu leiden. Die Zahlen der schätzenden Experten gehen weit auseinander. Eine Meldepflicht für Kindesmisshandlung gibt es – anders als in vielen anderen Ländern – in Deutschland nicht. Auch nicht für Ärzte. Die unterliegen zudem noch der Schweigepflicht, die sie aber nach Abwägen brechen dürfen, zugunsten des Kindeswohls, denn das ist ein „rechtfertigender Notstand“. So mancher Kinderarzt scheut diesen Schritt.
Am Leipziger Institut für Rechtsmedizin arbeitet Frau Dr. Ulrike Böhm mit einem kleinen Team seit längerem an einer Studie über „Tödliche Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung in der BRD vom 3. Oktober 1990 bis 31 Dezember 1999“. Wir sind um 8.30 Uhr morgens verabredet. Ihr Institut, 1900 gegründet und eines der ältesten in Deutschland, liegt an der Johannisstraße südöstlich der Leipziger Altstadt, direkt bei den Universitätskliniken, und schräg gegenüber vom Friedenspark, der bis 1970 der Neue Johannisfriedhof war. Die unscheinbare Fassade des dreistöckigen Gebäudes ist mit dicken alten Wurzeln von wildem Wein überzogen, noch sind sie kahl. Später im Jahr irgendwann, werden seine Blätter blutrot die Wand bedecken, und auch die eisernen schwarzen Lettern in Fraktur über dem Portal: Institut für Gerichtliche Medizin. Wir klingeln und werden nach einigem Warten und nach Nennung des Namens und Anliegens eingelassen. Jedes Rechtsmedizinische Institut wird fest verschlossen gehalten, von alters her. Eine gestrenge Pförtnerin empfängt uns im Hochparterre und leitet uns weiter, zwei Stockwerke höher, zu Frau Dr. Böhm. Ihr winziges mansardenartiges Arbeitszimmer wird beherrscht von einem mit Schriftstücken bedeckten Schreibtisch, hinter dem sie Platz nimmt. Zwischen ihm und den Bücher- und Aktenregalen ist gerade noch Platz für zwei Stühle und meine Aktentasche. Das Telefon klingelt unentwegt, im Nebenhaus dröhnt ein Presslufthammer.
„Gerade wird unser Hörsaal renoviert“, erklärt Frau Dr. Böhm, „überhaupt geht bei uns alles etwas drunter und drüber, Sie haben ja sicher die Todesanzeige gesehen auf unserer Internetseite, unser Institutsdirektor Prof. Kleemann ist im Februar 2006 gestorben. Mit ihm habe ich ja an der Studie gearbeitet. Die ursprüngliche Idee stammt übrigens von seinem Vorgänger, Prof. Reinhard Vock, der hier von 1995 bis zu seinem Tod im Jahr 2000 kommissarischer Direktor war. Er kam von der Uni Würzburg und hatte die Idee und Teile der vorhergehenden Studie schon von dort mitgebracht. Diese Vock-Studie besteht aus zwei Teilen, als ‚Tödliche Kindesmisshandlung (durch physische Gewalteinwirkung) in der Bundesrepublik Deutschland im Zeitraum von 1. 1. 1985–2. 10. 1990‘ und ‚Tödliche Kindesmisshandlung (durch psychische Gewalteinwirkung) in der DDR im Zeitraum vom 1. 1. 1985–2. 10. 1990‘. Das waren multizentrische Studien an denen eben die Gerichtsmediziner aus Ost und West mitgearbeitet haben. Die Studien wurden getrennt publiziert, und es war die erste Untersuchung dieser Art. Und seine Idee war dann, den folgenden Zeitraum auch zu erfassen und so wurden Fälle gesammelt von 1990–1999. Und dann ist er eben gestorben. Dann wurde erst mal alles so liegen gelassen. 2001 haben dann Prof. Kleemann und ich angefangen, alles zu sichten. Das Aktenmaterial war ja noch gar nicht geordnet. Es war ganz unklar, was überhaupt da war. Wir haben im Prinzip erst mal zwei Jahre gebraucht, eine Ordnung da reinzubringen. Nebenher hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft dieses Vock-Projekt unterstützt, und die haben sich natürlich immer gemeldet und gefragt, was ist denn jetzt. Nur, wir machen das ja nebenbei und haben eigentlich überhaupt keine Zeit.
Aber wir wollten es natürlich gerne machen. Es ist ja ein ganz einzigartiges Projekt. Hier in Deutschland hat es so eine Erhebung noch nie gegeben, wie viele Kinder tatsächlich von ihren Eltern totgeprügelt oder vernachlässigt wurden. Also es wurden von den Rechtsmedizinischen Instituten in ganz Deutschland die Fälle von tödlicher Kindesmisshandlung hier gesammelt, die haben uns die Aktenzeichen gemeldet und dann sind wir an die Staatsanwaltschaften herangetreten und haben von denen die Ermittlungsakten bekommen. Die Urteile, die Urteilsbegründungen, die psychiatrischen Gutachten usw. – also die gesamte Akte im Original! Das ist sehr ungewöhnlich, denn welche Behörde gibt ihre Akten aus der Hand? Wir wurden auch alle vereidigt. Die Arbeitsgruppe besteht, seit Prof. Kleemann tot ist, aus fünf Leuten. Also vier Promovenden und ich machen diese Arbeit, die eben unheimlich aufwendig ist. Was wir machen wollen, ist ja nicht nur Statistik, wir wollen ja eine epidemiologische Aufarbeitung der Fälle machen, ein Risikoprofil festlegen, in welchen Familien passiert so was, unter welchen Bedingungen usw., damit rechtzeitig Interventionen erfolgen können. Und es soll ein kleines Handbuch entstehen, eine Zusammenfassung der typischen Warnsignale und Verletzungsmuster, für die Kinderärzte, für die Polizei z. B. Weil wir eben die Vorstellung haben, dass bei rechtzeitiger Erkennung von Misshandlung vorher schon eingegriffen werden kann, also bevor die Kinder zu uns kommen.
Die Studie umfasst einen Zeitraum von knapp zehn Jahren, vom 3. 10. 90 – also dem Vereinigungstag – bis zum 31. 12. 1999, Ost und West, die gesamte neue Bundesrepublik. Die vorhergehende Studie von Vock hatte im Vergleich gezeigt, dass es da nicht so die ganz großen Unterschiede gab, trotz unterschiedlicher Gesellschaftsordnung. Die Probleme liegen wo anders. Früher, in der DDR war es nämlich so, dass es eine ‚Anordnung über die ärztliche Leichenschau‘ gab, mit einer Sektionspflicht für verstorbene Kinder. Also alle verstorbenen Kinder bis zum 16. Lebensjahr mussten seziert werden. Daher liegen eben auch über die Anzahl der tödlichen Kindesmisshandlung in der DDR verlässliche Daten vor. Dann wurde das ja an den Westen angeglichen, und seither muss eben nur noch obduziert werden, wenn der Staatsanwalt es anordnet. Das heißt, wenn keine sorgfältige Leichenschau vom Arzt, der den Totenschein ausstellt, gemacht wird, wenn er blaue Flecken übersieht oder keine da sind, aber innere alte oder neue Verletzungen, dann wird das Kind bestattet, ohne aufzufallen. Ohne dass die Todesursache erkannt und dokumentiert wurde. Experten schätzen, dass ca. 40 Prozent aller Leichenschau-Diagnosen falsch sind. Deshalb muss man sagen, dass es eine gewisse Dunkelziffer gibt, deshalb wollen wir es vergleichen mit der Todesursachenstatistik und was es da sonst noch gibt. Aber für unsere Studie selbst, da werden dann nur die Fälle erfasst, die durch Misshandlung oder Vernachlässigung zu Tode kommen. Also Misshandlung und Vernachlässigung, und zwar im Sinne einer ‚Erziehungsmaßnahme‘. So hat es Prof. Vock damals gesagt. Auch das ‚Schütteltrauma‘ gehört da mit rein. Was nicht rein gehört, sind Mord, Sexualdelikte oder religiöser Wahn der Mütter, auch nicht der ‚erweiterte Suizid‘, also wenn Eltern erst ihre Kinder und dann sich selbst umbringen. Und drin haben wir auch nicht die ‚Aussetzung‘ oder das, was früher die ‚Kindstötung‘ war, innerhalb der ersten vier Wochen nach der Geburt. Das ist ein anderes Delikt, kommt aber sehr häufig vor, häufiger, als man weiß. Im Rahmen des Dienstes fischen wir ja auch Kindesleichen aus der Elbe, oder sie werden sonst wo aufgefunden. Zahlenmäßig ist das Verhältnis zwischen dieser und der von uns untersuchten Gruppe so, dass mehr Kinder ausgesetzt als zu Tode geprügelt werden, würde ich mal so vermuten.“ Das Telefon klingelt, Frau Dr. Böhm blickt, wie bei den vergangenen Malen aufs Display. Diesmal nimmt sie ab und sagt: „Ja, ich komme.“ Sie erklärt uns mit entschuldigendem Lächeln: „Ich muss jetzt mal schnell runter in den Seziersaal und eine Abnahme machen, bin aber gleich wieder da.“
Einige Zeit später kommt sie zurück, setzt sich hinter ihren Schreibtisch und sagt; während sie sich dem Computer zuwendet um etwas für uns aufzurufen: „Das musste sein! In der Gerichtsmedizin ist es so, dass immer zwei obduzieren – bei klinischen Sektionen macht das nur einer –, aber wir Rechtsmediziner müssen gemeinsam zu einem Urteil kommen. Bei Meinungsverschiedenheiten müssten wir im Prinzip so lange diskutieren, bis wir einer Meinung sind. Letzten Endes ist es im Streitfall dann aber so, dass das, was die Oberärztin sagt und wofür sie ihre Unterschriften geben muss, das ist dann die ‚gemeinsame Meinung‘; wie überall! In der Regel gibt es aber gar keine unterschiedlichen Meinungen.“ Sie hat das Gesuchte im Computer gefunden. „So, das ist ein Vortrag zu unserer Studie zur Kindesmisshandlung, den ich voriges Jahr vor dem Arbeitskreis an der Uni gehalten habe. Diesen Arbeitskreis gibt es, glaube ich, seit mehr als sechs Jahren. Er heißt ‚Arbeitskreis für Kindesmisshandlung‘ und wird geleitet von einer Kinderpsychologin, Dr. Petra Nickel, von der Uni-Kinderklinik Leipzig. Das ist sozusagen eine Privatinitiative hier in Leipzig, zur besseren Vorbeugung. Und zweimal im Jahr werden eben auch Vorträge gehalten von Experten, vor Kinderärzten, Psychologen, Jugendamtsmitarbeiterinnen usw. Im Prinzip geht es dabei um die Verbesserung der Früherkennung, damit den Kindern rascher und rechtzeitig geholfen werden kann. In der Praxis hat sich das dann so entwickelt, dass die Kindergärtnerin oder der Kinderarzt bei sichtbaren verdächtigen Verletzungen usw. das Kind dann auch weiterleiten, oder es wird hier bei uns vorgestellt und von uns untersucht. Viele denken ja, bei der Gerichtsmedizin, da geht es um Tote, um Klärung der Todesursachen. Das macht grade noch zehn Prozent unserer Arbeit aus. Maximum! Wir machen viel mehr Untersuchungen an Lebenden, an solchen Personen zum Beispiel, die Verkehrsunfälle hatten, an Erwachsenen die geschlagen wurden, an Frauen, die vergewaltigt wurden, wir untersuchen auch die Täter, auch Messerstechereien usw. Und im Verdachtsfall auf Kindesmisshandlung, schau’n wir eben auch die Kinder an. Das haben wir uns in Leipzig selber aufgebaut, hier in der Rechtsmedizin, zusammen mit den Kollegen vom Arbeitskreis. Denn wir Rechtsmediziner haben einfach die meisten Erfahrungen damit, wie man z. B. eine Sturzverletzung von einer Misshandlung unterscheidet. Und wenn wir den Verdacht dann bestätigen, dann beraten wir auch gemeinsam mit den Kollegen über Hilfsangebote. Dann sagen die Kinderärzte, o. k. wir gucken uns die jetzt jede Woche an, später schau’n wir die Kinder zweimal im Monat an, oder wir rufen eben auch das Jugendamt. Das kommt alles auf den Schweregrad an. Wir nehmen das sehr genau, weil wir ja vorbeugen wollen. Wenn wir das Kind dann bei uns auf dem Tisch haben, ist es ja zu spät. Bei den Beratungen sind auch Psychologen mit dabei. Wir sagen, wie schwer die Verletzungen sind, die Kollegen erwägen, wie ist der familiäre und sonstige Hintergrund, wie ist die Prognose, was ist zu tun. Das ist für uns (Kinderärzte und Rechtsmediziner) die Stufenleiter, die wir gehen: ein Misshandlungsverdacht. Wir diagnostizieren sorgfältig. Bestätigen oder lehnen ab (nicht jeder Verdacht auf Misshandlung ist auch wirklich eine). Dann machen wir die Hilfsangebote und Kontrolluntersuchungen. Also ich muss sagen, wir haben das hier in Leipzig ganz gut organisiert. Wir haben hier im Jahr 2000 unser letztes zu Tode misshandeltes Kind gehabt und seither keines mehr!
Das schreiben wir uns schon auch auf unsere Fahnen, weil wir eben relativ viel an Antigewaltarbeit gemacht haben. Das Problem ist nur, dass es eben keinen Paragrafen gibt, der sagt, bei Kindesmisshandlung passiert das und das. Es werden immer verschiedene andere Paragrafen herangezogen, z. B. Körperverletzung, Körperverletzung mit Todesfolge, Misshandlung von Schutzbefohlenen usw. Aber das ist die Angelegenheit der Juristen. Wir können nur sagen, dieses Kind ist misshandelt worden, es zeigt Zeichen wiederholter Gewaltanwendung. Das sind z. B. bestimmte Narben oder ältere Hämatome – Sie finden bei misshandelten Kindern oft frische und alte Hämatome gleichzeitig, manchmal Knochenbrüche, die schlecht verheilt sind, also nicht behandelt wurden und solche Sachen –, und das steht dann natürlich im Widerspruch zu den Erklärungen der Eltern. Die bringen ja nicht ihr Kind und sagen, wir haben es misshandelt, sondern sie erzählen, es sei vom Wickeltisch gefallen, hat sich gestoßen usw., und dann muss man eben sagen, das stimmt nicht, und weshalb das nicht stimmt. Unser Leitsymptom ist, dass es meist eine ‚Mehrzeitigkeit‘ gibt, also auch die Spuren der alten Gewalteinwirkungen. Und es gibt einfach Regionen am Körper, da muss man sagen, die Verletzungen sind nicht durch einen Sturz, sondern durch einen Schlag verursacht worden. Oder beim ‚Schütteltrauma‘, das kommt zustande, wenn man ein Baby schüttelt, das seinen Kopf noch nicht selber halten kann. Das kommt häufiger vor als bekannt ist. Z. B. das Kind schreit und schreit, die Eltern wollen schlafen oder fernsehen, und einer von beiden nimmt dann das Kind an den Oberarmen, hebt es hoch und schüttelt es, um es einzuschüchtern und zur Ruhe zu bringen. Die Folge ist, es reißen die Venen zwischen Gehirn und Schädeldecke, dadurch tritt dann Blut aus, der Hirndruck steigt durch die Hirnblutung, dem Kind wird schlecht, vor Schmerz wird es bewusstlos. Die Hälfte der Kinder sterben daran. Die andere Hälfte überlebt, bleibt aber geschädigt. Es gibt zwar auch äußere Zeichen nach dieser Misshandlung, aber wenn der Arzt, der den Tod feststellen soll, da so ein vier oder fünf Monate altes Baby vor sich liegen hat, dann kann ihm das trotzdem bei der Leichenschau entgehen. Und da eben nur noch etwa fünf Prozent aller – jetzt egal an welcher Todesursache – jährlich verstorbener Kinder obduziert werden, geht eben auch so ein Fall z. B. als ‚plötzlicher Säuglingstod‘ durch und kommt als solcher in die Statistik. Denn die Totenscheindiagnosen – von denen wir ja wissen, dass 40 Prozent davon falsch sind – sind die Grundlage für die Statistik, und die statistischen Zahlen sind dann wiederum Grundlage für anderen Studien, die dann auch alle falsch sind und so fort. Daran sieht man auch mal, wie wertvoll bzw. wie wertlos eigentlich so eine Statistik ist. Deshalb erfassen wir in unserer Studie ja auch nur die eindeutigen Fälle aus den rechtsmedizinischen Instituten.
Also wir umfassen das Hellfeld, das wir von den Rechtsmedizinischen Instituten bekommen, und zwar möglichst das komplette – und für die kriminologischen Aspekte, Dunkelfeldforschung usw., da haben uns Experten von außerhalb ihre Hilfe zugesagt. Die Daten sind unheimlich komplex – es reicht ja nicht, wenn wir wissen, wie viele Fälle sind wo aufgetreten, wie alt waren die Kinder, waren es mehr Jungen oder Mädchen, wir möchten auch alles andere wissen, was noch dazugehört, und natürlich auch den sozialen Kontext. Waren es Kinder aus Risikofamilien oder ‚normale‘ Kinder. Wie waren die Eltern bestallt? Da kommt also jetzt schon zum Vorschein, dass es sich nicht wirklich durch die gesamten Schichten durchzieht, gleichförmig. Zwar kommt es überall vor, aber es sind jedenfalls nicht so viele tödliche Kindesmisshandlungen in der Oberschicht wie in der Unterschicht.“
Der Presslufthammer hat seine Arbeit eingestellt. Frau Dr. Böhm sagt, begleitet vom Klingeln des Telefons, das sie ignoriert: „Damit das nicht so abstrakt bleibt, will ich Ihnen an einem Fallbeispiel noch einiges erklären.“ Auf dem Bildschirm ist nun ein magerer nackter Säugling zu sehen. „Das ist ein Fall aus unserer Studie, ein sehr typischer Fall: „C., im Oktober 1995 geboren. Ist Frühgeburt gewesen. Was übrigens auch ein gewisses Risiko ist, misshandelt zu werden, geschüttelt zu werden usw., auch chronisch kranke Kinder und behinderte Kinder haben ein höheres Risiko, weil sie auch mehr Arbeit machen. Ein neuer Lebensgefährte erhöht auch das Risiko.“ Der Presslufthammer setzt wieder ein. „Hier ist C. fünf Monate alt und von der Kinderärztin ins Krankenhaus eingewiesen worden – gegen den ausdrücklichen Wunsch der Mutter –, und der Krankenhausarzt schrieb in einer Stellungnahme fürs Jugendamt u. a.: ‚Erbarmungswürdiger Zustand … länger andauernder Hungerzustand …‘ Nach dem Aufpäppeln wurde C. entlassen. Fünf Monate später schrieb das Jugendamt ans Familiengericht, dass Frau K., die Mutter, nicht, wie versprochen, Kontakt aufnahm und auch die wöchentlichen Arztbesuche zur Gewichtsüberwachung nicht wahrgenommen hat. Das Jugendamt machte aber Hausbesuche und fand den Jungen ‚wohlauf‘. Als das Kind 15 Monate alt und grade wieder aus dem Krankenhaus gesund nach Hause entlassen worden war, schrieb das Jugendamt dem Familiengericht, dass die Mutter, der inzwischen ‚Hilfe zur Erziehung gewährt wurde‘, sich zwar kontrolliert fühle, aber die regelmäßigen Arztbesuche wahrnehme, der Junge entwickle sich ‚stabil und positiv‘.“ Auf dem Bildschirm erscheinen Bilder des nunmehr 17 Monate alten C., es sind so eine Art ‚Tatortfotos‘. Tatort ist der Körper des Kindes, dessen Verletzungsspuren fotografisch festgehalten wurden, nach einer Anzeige der behandelnden Kinderärzte bei der Polizei. „Also das Kind hat ‚mehrzeitige‘, das heißt verschieden alte Hämatome. Auch hier am Kopf, das sieht ‚geformt‘ aus, also wenn Gegenstände zum Schlagen benutzt werden, dann bildet sich das richtig auf der Haut ab, wie ein Relief. Und hier am Hals, Gewalteinwirkung, Gewalteinwirkung, Gewalteinwirkung, auch am Po, an einer Stelle, da kommt bei Stürzen nie was hin! Das hier am Oberschenkel sieht aus wie eine Bissspur, die ist schon ein paar Tage älter. Die Kinderärzte haben sorgfältig untersucht und in ihrem Bericht an die Polizei geschrieben, dass es sich hier nicht um Spiel- oder Hausunfälle handelt. Aber eine ‚gezielte Gewaltanwendung‘ war nicht zu beweisen, weil die Mutter behauptet hat, es seien ‚Sturzverletzungen‘. Dennoch ist dann verfügt worden, dass C. in eine Pflegefamilie aufgenommen wird. Mit 18 Monaten war das, und fünf Monate blieb er dort. Die Pflegemutter sagte in einer späteren zeugenschaftlichen Vernehmung aus: ‚Das Kind hatte sich prächtig entwickelt, war auch nie krank gewesen, wurde an den Topf gewöhnt, konnte sitzen, laufen und machte erste Sprachversuche …‘
Dann hat die Gerichtshilfe mit der Kindesmutter ein Gespräch geführt, und dabei hat die Mutter um Rückgabe ihres Kindes gebeten. Sie und ihr Lebensgefährte ‚wünschen sich nichts sehnlicher, als C. wieder in ihrem Haushalt versorgen zu dürfen …‘, protokollierte die Gerichtshilfe und schätzte auf Grund des Gespräches‚ … die gegenwärtige Situation als unbedenklich und positiv für die Wiedereingliederung des Kindes C. in die Familie ein …‘, wichtig sei eine rasche Entscheidung, ‚… um endlich Ruhe und Geborgenheit im Leben dieses Kindes einziehen zu lassen …‘ Das ist sehr emotional, ja, aber oft geht’s sehr emotional zu, die Mütter weinen, versprechen alles bei solchen Gesprächen. Und der Familienrichter sagt: Na ja, sie wird jetzt alles besser machen. Es gibt Berichte, die sind ganz sachlich verfasst. Ich bin auch Gutachter und schreibe viele Berichte, ich weiß genau, wie ich was schreiben muss, um Wirkung zu erzielen. Ganz klarer Fall. Das Kind wurde also aus der Pflegefamilie auf Beschluss wieder rausgenommen und zur Mutter und ihrem Lebensgefährten gegeben, mit knapp zwei Jahren. Es besuchte auch eine Kindereinrichtung, hatte aber bereits etwa einen Monat später mehrere Krampfanfälle, es hatte Hämatome, war angeblich aus dem Bett gefallen. Zwei Monate später war eine erneute stationäre Aufnahme notwendig. Das war am 1. 1. 98. Die Krankenhausärztin schrieb ins Aufnahmebuch: ‚Knapp 2 1/2-jähriges KK kommt in dürftigstem abgemagertem Zustand, kalt, voller Hämatome, exsikkiert (ausgetrocknet, Anm. G. G.) zur Aufnahme. Meines Erachtens liegt extreme Kindesvernachlässigung vor. Kind ist in aller Beziehung retardiert. Trinkt hier gierig wie ein Loch, schreit dabei immer schrill ‚haben‘ …‘, so also der Eindruck der Ärztin. In der Nacht gab es dann eine Zustandsverschlechterung. C. kam auf die Intensivstation. Dort ist er dann am Nachmittag des 5. 1. 1998 verstorben.“ Auf dem Computerbildschirm ist der magere tote Kinderkörper zu sehen, daneben das Sektionsergebnis. U. a. steht da: Beginnende herdförmige Lungenentzündung. Todesart: natürlich. „Also, natürlicher Tod, erklärt Frau Dr. Böhm, das bedeutet aus krankhafter Ursache verstorben. So geht es dann in die Todesursachenstatistik ein. Normalerweise wäre der Fall ‚weg‘. Er lief am gerichtsmedizinischen Institut aber als Misshandlung, die wurde bei der Sektion ja festgestellt, alte Unterblutungen im Gehirn usw., die hatten das in ihrer Statistik, sonst wäre der Fall verschwunden.
Hier, anhand dieser Gewichtskurve, die wir jetzt im Rahmen unserer Studie angefertigt haben, können Sie noch mal erkennen, wie das verlief.“ Sieben ansteigende Kurven zeigen das Gewichtsspektrum gleichaltriger Kinder und ist dann kontinuierlich rausgefallen, weit unterhalb der Norm. Die letzte große Zacke zeigt aufsteigend den Aufenthalt in der Pflegefamilie, dann kommt das Kind zur Mutter zurück, und es geht steil nach unten bis zum Ende! Im Falle dieses Kindes ist es dann ein Jahr später zur Anklage gekommen, wegen fahrlässiger Körperverletzung in zwei Fällen, in den zwei Fällen, die aktenkundig sind – und wegen fahrlässiger Tötung. Die Mutter ist zu zwei Jahren Gesamtstrafe verurteilt worden – zur Bewährung. Das sind so die üblichen ‚Preise‘. Zwei, vier, fünf Jahre, meist auf Bewährung. Das Strafrecht das ist ja was Besonderes, also die Richter müssen sich sicher sein, und wenn’s nicht 100 Prozent nachweisbar ist, wenn es kein Geständnis gibt … Also ich war da am Anfang auch immer furchtbar wütend gewesen über diese niedrigen Strafen. Aber die Richter müssen sich an die Beweise halten, die da sind. Und ich muss heute sagen, das ist eigentlich auch durch Strafe nicht zu regulieren, dieses Problem.“ Wir fragen nach den familiären Umständen. „Also die Mutter ist 1975 geboren, der Lebenspartner – er ist nicht der Kindesvater – ist 1973 geboren. Sie hat Hauptschulabschluss, die begonnene Lehre dann abgebrochen, wegen der Geburt eines Kindes – der älteren Schwester des verstorbenen Kindes. Sie hat immer von Erziehungshilfe und Sozialhilfe gelebt. Der Partner? Er war ebenfalls arbeitslos nach zwei abgebrochenen Lehren. Die Wohnverhältnisse waren, nach Auskunft des Jugendamtes – das die Besuche ankündigt – geordnet und gepflegt gewesen.“ Wir fragen: „Neues oder altes Bundesland?“ Frau Dr. Böhm sagt seufzend. „Neues Bundesland. Leider. Das bestärkt wieder die Leute, die alles Schlechte hier auf die DDR-Kinderkrippen zurückführen möchten.“
Wir bitten, uns noch etwas zur Biografie zu erzählen: „Also mein Vater ist schon lange tot, seit 93, der war Ingenieur. Meine Mutter ist Rentnerin, sie war Krankenschwester, daher war ich schon mit drei Monaten in der Krippe. Erinnerungen habe ich da gar keine. Später den Kindergarten und auch die Kinderferienlager fand ich furchtbar, man musste immer das machen, was alle machen. Ich war lieber mit den Kindern aus unserem Hof zusammen. Ich habe noch eine Schwester, sie ist Krankenschwester. Ich war früher Röntgenassistentin, und dann habe ich noch mal mit 26 ein Studium angefangen, da hatte ich schon zwei Kinder. Das dritte bekam ich am Ende des Studiums. Einen Jungen. Ich wollte eigentlich Chirurgie machen und eine Praxis, Landarztpraxis, so was, das war meine Vorstellung. Dann kam aber zufällig der Prof. Vock und bot mir eine Stelle an, fragte, ob ich’s denn nicht mal versuchen will. Es hat mich schon interessiert. Rechtsmedizin interessiert ja jeden. Das sind die spannendsten Vorlesungen. Ich mache ja heute selbst Vorlesungen und sehe, wie die Studenten dasitzen mit solchen Augen! Ich dachte, probiere ich’s mal und bin eigentlich ‚hängen geblieben‘. Nun bin ich hier die Oberärztin, also im Prinzip Abteilungsleiterin für den Bereich Morphologie. Das sind Sektionen und eben Klinische Rechtsmedizin, d. h. ‚Lebenduntersuchungen‘, wie ich schon sagte, Verkehrsmedizin, Messerstechereien, Vergewaltigungen. Auch Frauen, die von ihrem Mann geprügelt werden, wir untersuchen sie und dokumentieren das als späteren Beweis, wir können ihnen auch Hilfen anbieten, können sie an ein Netzwerk weiterleiten, haben auch ganz enge Verbindung zum Frauenhaus. Also es ist schon so, dass wir durch sorgfältige Untersuchungen auch den Lebenden etwas helfen können. Was wir noch machen ist die vorgeschriebene Leichenschau in den Krematorien, vor der Verbrennung. Und was die Sektionen betrifft, so machen wir hier im Haus pro Jahr etwa 350, ich selbst habe eher weniger gemacht, in diesem Jahr waren es drei oder vier. Aber gesehen habe ich natürlich fast alle! Ja, also, ob ich mich an Leichen gewöhnt habe? Die Leiche selbst ist eigentlich nicht unangenehm. Aber an den Geruch kann man sich nicht gewöhnen. Er ist immer wieder neu. Der Tod riecht. Das ist ein Geruch, der immer da ist, auch wenn keine Leiche im Haus ist. Wobei nach fünf Minuten, da riechen Sie es schon gar nicht mehr. Was eigentlich unangenehm ist, sind die Geschichten die dahinter stehen, manche bleiben im Gedächtnis. Und wenn wir schon nicht ‚heilend‘ in dem Sinne tätig sind, so sichern wir doch durch sorgfältige Untersuchung Spuren und Beweise. Es ist unsere Pflicht, die Todesursache festzustellen, und das ist sozusagen das Letzte, was wir für den Toten tun können.“