: Hochspannung Vorsicht! Lebensgefahr
EVOLUTION Zu viel Technik stoppt die Entwicklung der Menschen, warnt Karl Olsberg in „Schöpfung außer Kontrolle“
VON ANNETTE JENSEN
Der Mensch ist keineswegs die Krone der Schöpfung, sondern lediglich ein Zwischenstadium auf einem Zweig der Evolution. Und ausgerechnet die moderne Technik wird ihn bald zurück in den Bewusstseinszustand der Steinzeit katapultieren – denn damals wie morgen versteht der Mensch seine unmittelbare Umwelt nicht mehr.
Das Buch „Schöpfung außer Kontrolle“ von Karl Olsberg ist thesenstark und streitbar. Der Autor, der über künstliche Intelligenz promoviert hat, ist keineswegs ein Maschinenstürmer oder Technikfeind, wie er mehrfach betont. Vielmehr will er beschreiben, wo wir vier Milliarden Jahre nach Entstehung der Erde angekommen sind und wie es auf unserem Planeten weitergehen könnte. Auch wenn Olsberg gelegentlich etwas holzschnittartig wird und den roten Faden gerne mal verliert, ist sein Buch diskussionswürdig.
Rein rechnerisch
Dreh- und Angelpunkt der Beschreibung ist die Evolution, wobei der Autor einen stark erweiterten Begriff davon hat und sie als eine Art personalisierten Antreiber der Entwicklung darstellt. Nicht nur anorganische Strukturen in der Ursuppe zählt er dazu, sondern auch Maschinen, Bücher und Städte. Für Olsberg ist die Evolution eine „mathematische Zwangsläufigkeit“: Sobald sich Strukturen reproduzieren, entstehen immer auch Abweichungen. Wenn die nicht gleich von der Umwelt zerstört werden, verändern sie ihrerseits die Umwelt und schaffen so die Grundlagen für weitere Neuerungen – in immer schnellerem Tempo.
Während die Kopiervorgänge in der Biologie durch Gene erledigt werden, kamen mit der Höherentwicklung der Hirne auch sogenannte Meme hinzu. Dazu gehören Melodien, die Art, Töpfe zu machen, sich zu kleiden, oder auch Ideen und Gedanken – kurzum Kultur. Gene und Meme treiben die Evolution voran, die Menschen haben nur die Rolle von Helfershelfern, die diesen Prozess beschleunigen. Zwar initiieren wir die Neuerungen, aber ähnlich wie Goethes Zauberlehrling können wir die von uns in die Welt gesetzten Strukturen längst nicht mehr beherrschen und überschauen.
Noch vor wenigen Jahrzehnten waren die Gegenstände an einem typischen Büroarbeitsplatz für durchschnittlich intelligente Menschen in ihrer Funktionsweise verständlich: mechanische Schreibmaschine, Stempel, Büro, Postausgangskorb. Heute dagegen wissen häufig nicht einmal mehr die EDV-Abteilungen, wie die PCs in ihren Büros wirklich funktionieren. Zunehmend überlassen Softwareentwickler Maschinen die Suche nach Lösungen und geben nur noch vor, wie das Ergebnis aussehen soll; die Wege dahin kennt oft kein Mensch mehr. Immer mehr Entscheidungen werden von Maschinen getroffen – sei es an der Börse oder beim Landen eines Flugzeugs. Welche Werbung ein Internetportal an wen adressiert, schlussfolgert der Computer aus bisherigen Bestellungen oder Seitennutzungen. Eine vielfache Vernetzung steigert nicht nur die Rechenleistungen enorm, sie schafft auch Strukturen wie neuronale Netze: Suchmaschinen können inzwischen auch semantische Zusammenhänge herstellen, und der Chat-Roboter Elbot (www.elbot.de) wurde schon von vielen für einen echten Menschen gehalten.
Schneller virtueller
„Wir beherrschen die Dinge, die wir geschaffen haben, nur zum Teil. Sie beherrschen uns in mindestens ebenso großem Maße“, so Olsberg. Entstanden ist eine Symbiose: Die Maschinen brauchen die Menschen für die Energie- und Rohstoffversorgung, umgekehrt sind wir aber auch in vielfältiger Form von ihnen abhängig, was Nahrungsmittelherstellung, Transport oder Informationsbeschaffung angeht.
Auch viele Sehnsüchte und Süchte bedienen die Maschinen, wie die Nutzer von Computerspielen belegen. Nicht nur in „second life“ findet eine zunehmende Vermischung von virtuellen Räumen und realem Geld statt. Auch technische Konstruktionen werden heute meist virtuell getestet, bevor sie in der Realität gebaut werden. Was früher Monate benötigte, ist heute mit wenigen Mausklicks zu erledigen: Die Geschwindigkeit der Entwicklungen nimmt enorm zu. „In wenigen Jahrzehnten wird es praktisch nichts mehr geben, was Maschinen nicht besser können als wir – außer, wie ein Mensch zu sein.“ Dagegen werden wir der Welt ähnlich ausgeliefert gegenüberstehen wie ein Steinzeitmensch: Der wusste zwar, was er tun musste, wenn es regnete, aber warum und wie das Wasser vom Himmel kam, verstand er nicht.
Dass die wachsende Komplexität für Menschen sehr gefährlich ist, belegen Finanzkrise und Klimawandel. Für Natur und Evolution dagegen ist das alles auf längere Sicht kein Problem: Sollte unsere Kultur oder gar unsere Lebensgrundlage zusammenbrechen, werden andere Wesen schnell die Lücke schließen. Etwas oberlehrerhaft rät Olsberg am Schluss, unsere Arroganz abzulegen, mehr Fahrrad zu fahren, weniger fernzusehen und uns über die Herstellungsbedingungen von Produkten mehr Gedanken zu machen.
■ Karl Olsberg: „Schöpfung außer Kontrolle. Wie die Technik uns benutzt“. Aufbau Verlag, Berlin 2010. 340 S., 19,95 Euro