Die volle Gewalt des Apparats

SELBSTERFAHRUNG Thomas bekam 2007 das volle Programm staatlicher Überwachung zu spüren. Ein Verfahren wegen „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ wurde eingestellt. Die Spuren blieben

Deutschland hat drei Geheimdienste: Der Verfassungsschutz ist der Inlandsgeheimdienst, der Bundesnachrichtendienst (BND) ist der Auslandsaufklärer und der kleine Militärische Abschirmdienst (MAD) kümmert sich nur um die Bundeswehr.

■ Den Verfassungsschutz gibt es sogar 17 Mal: ein Bundesamt und 16 Landesämter, die alle selbständig sind, aber zusammenarbeiten sollen. Hauptaufgabe ist der Schutz der freiheitlichen Demokratie schon im Vorfeld von Straftaten. Frühzeitig sollen Antidemokraten erkannt, beobachtet und im Verfassungsschutzbericht ausgegrenzt werden.

■ Anders als die Polizei darf der Verfassungsschutz keine Wohnungen durchsuchen und niemand verhaften. Er darf im Wesentlichen nur Informationen sammeln. Dazu kann er auch nachrichtendienstliche Mittel einsetzen, also zum Beispiel heimlich Telefongespräche, E-Mails und Briefe überwachen. Anders als bei der Polizei wird das nicht durch ein Gericht genehmigt, sondern durch parlamentarische Gremien. Die Kontrolle scheint streng zu sein. Jedenfalls hört der Verfassungsschutz viel weniger Telefone ab als die Polizei.

■ Der Einsatz von V-Leuten ist besonders umstritten. Dennoch muss er nicht genehmigt werden und ist nicht gesetzlich geregelt. Im Frühjahr beschlossen die Innenminister von Bund und Ländern nur, dass Extremisten, die erhebliche Straftaten begangen haben, nicht mehr V-Mann werden können. Das Gleiche gelte für Personen, die in einer Organisation eine führende Rolle innehaben.

■ Der Reformdruck wurde wesentlich durch das Versagen des Verfassungsschutzes gegenüber dem rechten NSU-Terror ausgelöst. Weder konnte der Verfassungsschutz die drei untergetauchten Neonazis Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe aufspüren, noch erkannte der Dienst, dass hinter der Mordserie an überwiegend türkischen Kleingewerblern eine faschistische Gruppe steckte. Nach Auffliegen der NSU-Zelle wurden im Bundesamt sogar Akten vernichtet.

■ Linker Protest gegen Konzerne, Nazis und Militäreinsätze wird oft als Extremismus diskreditiert. Die Einschätzungen unterscheiden sich oft von Amt zu Amt. So wird die Linkspartei im Saarland gar nicht beobachtet, im Bund nur noch zu Teilen und in Bayern noch als ganze Partei.

■ Die gewaltbereite islamistische Szene hat der Verfassungsschutz ganz gut im Griff, einige Anschläge konnten verhindert werden, teilweise mit Hilfe der Amerikaner. Bei der Spionageabwehr hat der Verfassungsschutz völlig übersehen, dass deutsche Bürger und Politiker nicht zuletzt vom Bündnispartner USA ausgespäht werden.

■ Früher wurde der Verfassungsschutz vor allem auf Organisationen und „Bestrebungen“ angesetzt. Seit den Al-Qaida-Anschlägen von 2001, die in Hamburg vorbereitet wurden, soll er verstärkt auch gefährliche Einzelpersonen in den Blick nehmen. Jemand darf in den Dateien des Verfassungsschutzes gespeichert werden, wenn es „tatsächliche Anhaltspunkte“ gibt, dass er sich gegen Demokratie und Völkerverständigung engagiert.

■ Nach 1945 bestimmten die Alliierten, dass die Behörden und Befugnisse von Verfassungsschutz und Polizei getrennt sein müssen. Juristisch ist nicht geklärt, inwieweit dieses Trennungsgebot auch dem Grundgesetz zu entnehmen ist. Die Politik will, dass Polizei und Verfassungsschutz besser zusammenarbeiten.  CHRISTIAN RATH

VON JEAN-PHILIPP BAECK

Letztendlich war es eine SMS, die das Leben von Thomas* mächtig durchschüttelte. „Viel Glück heute Nacht“, hatte ihm eine Freundin im Mai 2007 geschrieben. „Danke, kann ich gut gebrauchen“, sendete er zurück. Thomas arbeitete noch spät an einer Sonderbeilage für die taz, anlässlich des G 8-Treffens in Heiligendamm. Was er erst später erfuhr: Zu dem Zeitpunkt stand er bereits seit Monaten unter polizeilicher Beobachtung. In der Nacht gab es einen Anschlag in Hamburg – und gegen Thomas einen Terrorverdacht.

Wider besseren Wissens lagen die SMS der Bundesanwaltschaft als belastendes Indiz vor. Eine falsche Interpretation jagte die nächste.

Über den betreffenden Paragraphen 129a („Bildung terroristischer Vereinigungen“) hatte die Polizei in ihrer Ermittlungsarbeit fast grenzenlose Möglichkeiten. Für Linke ist es der „Schnüffelparagraph“: Thomas wurde persönlich observiert, Telefon, E-Mails, Briefe überwacht. Sein Umfeld und seine Bankdaten wurden ausgespäht, Bewegungsprofile erstellt, Texte von Thomas linguistisch untersucht – ihn traf das volle Programm.

Streitereien, unfreundliche Kurznachrichten, erotische Andeutungen – alles fand sich Satz für Satz in seinen Ermittlungsakten wieder. Dutzende Ordner mit Gesprächsmitschriften aus fünf bis sechs Monaten. „Es ist ein Intimschock“, sagt Thomas, „wenn man realisiert, dass sie alles mitbekommen haben.“

Ins Visier geraten war er, weil er sich an den Vorbereitungen der Proteste gegen den G 8-Gipfel beteiligt hatte. Er trat mit Nichtregierungsorganisationen wie Attac auf öffentlichen Treffen auf, war Teil des „Aktionsnetzwerks globale Landwirtschaft“, in dem sich auch ein paar alte Militante tummelten, die mehrere Verfahren hinter sich hatten. Dieser Kontakt reichte als Anfangsverdacht, um Thomas zusammen mit 18 anderen die „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ vorzuwerfen. Das Verfahren wurde später eingestellt, wie in den meisten Fälle, in denen wegen Paragraph 129 ermittelt wird. Doch die Überwachung hinterließ ihre Spuren.

Als es nach besagter SMS am 9. Mai 2007 zu Hausdurchsuchungen kam, wollten Nachbarn auf einmal „nicht mehr neben dem Terroristen“ wohnen, Verwandte hatten Redebedarf. „Eine Stigmatisierung“, sagt Thomas. Obwohl er ansonsten offen mit dem Thema umgeht, will er deshalb auch seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Er arbeitet in einer Beratungsstelle. Ratsuchende sollen sich nicht verunsichert fühlen, wenn sie im Internet lesen, dass er einmal unter Terrorverdacht stand.

Allein der Vorwurf ist verheerend. Er weiß von einigen jüngeren Leuten, die sich deshalb zurückgezogen haben und sich nicht mehr politisch betätigen – zumindest nicht mehr öffentlich. Thomas hatte mit Mitte 30 schon ein paar Grundsatzentscheidungen im Leben getroffen: Welchen Job er will, ob er sich jemals beim Staat bewerben möchte. „Wenn das vor einem liegt, kann es viel stärker existenzzerstörend wirken“, sagt er. Als er von seiner Überwachung erfährt, lebt er in einer Kommune, kollektiv, um existenziellen Druck von sich zu halten. Sein Umfeld fängt ihn auf, die linke Szene solidarisiert sich.

Etwa die Hälfte seiner Akten hat Thomas durchgesehen. Er las, wie versucht wurde, aus seinen SMS-Nachrichten die Kosenamen zu identifizieren. „Unglaublich schäbig ist das“, sagt er. Dass es seine Überwacher genauso bloßstellt, die Vorstellung half ihm. Obwohl Thomas sie nicht kennt, hat er von den Ermittlern ein klares Bild: „Beamte, bürokratisch und unkreativ.“ Er stellt es sich vor wie im Film „Das Leben der Anderen“: „Wenn der verklemmte Stasi-Typ das spannendere, freiere, intellektuell gehaltvollere Leben der Anderen protokollieren muss.“

In seinem Zimmer hat Thomas eine Kiste mit USB-Sticks und Datenträgern, die er nach der Einstellung des Verfahrens wieder bekommen hat. Bis heute hat er die nicht systematisch durchforstet. „Ich will gar nicht alles en détail wissen. Das tut nicht gut“, sagt er.

Wie stark einen so eine Überwachung trifft, das, sagt Thomas, hänge neben der Lebenssituation oder der Art der Durchsuchung unter anderem an der eigenen psychischen Verfassung. Sein Elternhaus sei eher „emotional distanziert“ gewesen, „zumindest haben meine Eltern nicht ständig meine Intimitätsgrenzen verletzt“. Bei der Vorstellung, dass sich jemand so stark für einen interessiere, ahne er in den Tiefen seiner Psyche ein eher „wohliges“ Gefühl, „so paradox sich das anhören mag“. Andere, deren Vertrauen womöglich einmal mehr ausgenutzt worden sei, treffe solche Überwachung sehr viel stärker.

Mit dem Wissen, beobachtet zu werden, tauchten Fragen auf. Da war der seltsame Anruf von einer Frau aus Süddeutschland: Angeblich hatte Thomas ihr obszöne Kurznachrichten geschrieben. Sie sei verheiratet, er solle damit aufhören, hatte sie zu ihm gesagt. Thomas wusste von nichts. Damals war das mysteriös, ist es bis heute. Aber, ob dieser Fall mit der Überwachung seines Telefons zusammenhängt? Thomas grübelt darüber. „Geraubte Lebenszeit“, nennt er das und wehrt sich gegen die Versuchung, mit dem eigenen Terminkalender und einer Anrufliste die Ermittlungen selbst noch einmal nachzuvollziehen. Andere Überwachte hätten sich mit so was intensiv beschäftigt. „Doch das kann einen auch halb wahnsinnig machen.“

Überhaupt: Die Balance zu halten zwischen Vorsicht und Paranoia ist nach einem so massiven Eingriff nicht mehr so einfach. Mit seinen Freunden kommuniziert Thomas nur noch verschlüsselt, in der Kommune haben sie die Computer auf ein sicheres Unix-Betriebssystem umgestellt. „Eine rationale Handlung“, sagt Thomas.

Über eine Sache spricht er immer wieder: Die Willkür, wie in den Ermittlungsakten aus ihm ein Verdächtiger wurde. In mehreren seiner Texte etwa hatte er die Formulierung „rund um den Globus“ verwendet. Das kam auch in einem Bekennerschreiben zu einem Anschlag vor. Ein linguistisches Gutachten fand keine Übereinstimmung in der Sprache der Texte, dennoch wurde die Formulierung als belastender Baustein gewertet.

Oder dann: eine Funkzellen-Abfrage, wegen eines Anschlags auf ein Berliner Gericht. Thomas wurde dabei mit seinem privaten Handy in der Nähe ausgemacht – in der Funkzelle sind sowohl der Berliner Hauptbahnhof, als auch die Wohnung seines Freundes, bei dem er übernachtet hat. Thomas sagt Sätze wie: „Einmal in der Maschine drin, lassen die einen nicht mehr raus“ oder: „Den Stempel hast Du eh weg.“

„Du denkst: Krass, da arbeiten zwei, drei Leute eine Woche um zu schauen, was du da gemacht hast“, sagt er. „Das ist unangenehm.“ In Fahndungsmappen fand er neben seinen Fotos eine Reihe entfernter Bekannter. Leute, die nur peripher etwas mit linker Politik zu tun haben und sich teilweise noch nie über den Weg gelaufen sind. Die Mappen wurden Zeugen der Anschläge vorgelegt, um Tatverdächtige zu identifizieren. „Wer stellt so ein Material zusammen? Das ist verantwortungslos, eine rechtsfreie Zone“, sagt Thomas.

Wenn man in der falschen Akte landet, können ein Kaffeetrinken und eine durch die Polizei gefilmte Teilnahme an einer Demo zu einem Gefährdungsbild zusammengefügt werden. Thomas weiß das. Er hatte große Sorge, wegen der Ermittlungen gegen ihn andere gefährdet zu haben. Die ganze Kommune wurde durchsucht. Von Flüchtlingen, die er unterstützt, hatte er viele Papiere bei sich im Zimmer. „Wenn da etwas schiefgelaufen wäre, ginge es um Schuld“, sagt er. Das aber blieb aus.

Der Apparat hat eine unglaubliche Gewalt. In seinem Fall hat er sie nur nicht ausgespielt.

*Name geändert