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Archiv-Artikel

Nachdenken über MRR

90. GEBURTSTAG Die interessante Frage ist: Wie konnte gerade er so berühmt werden?

Marcel Reich-Ranicki

■  geb. 2. Juni 1920 in Wloclawek, Polen, Kindheit in Berlin, zur Umsiedlung ins Warschauer Ghetto gezwungen, bis 1958 in Polen, dann Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland, erst nach Hamburg, dann nach Frankfurt a. M., wo er bis heute mit seiner Frau Teofila Reich-Ranicki lebt.

■  Lange Jahre schrieb er viele Literaturbesprechungen für die Zeit, erhielt in dem Hamburger Wochenblatt aber keine Festanstellung. 1973 übernahm er die Leitung des Ressorts „Literatur und Literarisches Leben“ der FAZ. Bis heute betreut er die Lyrik-Reihe „Frankfurter Anthologie“.

■  1977 erfand er das Wettlesen des Ingeborg-Bachmann-Preises in Klagenfurt mit. Von 1988 bis 2001 leitete er die Literatursendung „Literarisches Quartett“.

■  Seine Autobiografie „Mein Leben“ erschien 1999 (DVA) und wurde einer der ganz großen Bucherfolge der Nullerjahre.

VON STEPHAN WACKWITZ

Zeitgenössische Schriftsteller haben sich in den vergangenen Jahrzehnten ziemlich viele Gedanken über Marcel Reich-Ranicki gemacht. Man hat im Kollegenkreis Reich-Ranicki-Meinungen, -Gruselgeschichten und -Anekdoten ausgetauscht, über ihn gelacht, sich über ihn geärgert, aber auch seine Energie bewundert, seine seltsam gusseiserne und immer wirksame Rhetorik, seinen Sinn für Komik. Die meisten, die etwas von ihm erwarten oder befürchten, haben ihn nie kennengelernt. Aber auch für unbekannte, von ihm ignorierte oder verrissene Kollegen ist er ein wichtiger Teil ihres inneren Haushalts, ihres Lesens und Schreibens. Manchmal blieb einem vor dem Fernseher nichts übrig, als angesichts seiner meinungsstarken Aburteilungen und Lobgesänge im „Literarischen Quartett“ verzweifelt die Augen gen Himmel zu werfen. Manchmal konnte man kaum mehr hinhören. Überraschend häufig hatte man dann aber auch wieder das Gefühl, dass er irgendwie doch den einen oder anderen Punkt hatte. Ich kann irgendwie nicht anders, ich mag ihn. Am nächsten Mittwoch wird er 90. Wir werden, nehmt alles nur in allem, seinesgleichen nicht mehr sehen.

Denn ein Ergebnis meiner jahrzehntelang vorangetriebenen Forschungen und Reflexionen, meiner Imitationen, Hassausbrüche, Lachanfälle über und angesichts von Marcel Reich-Ranicki, das ich schon zu Beginn dieses Geburtstagsständchens vorwegnehmen möchte, ist die Gewissheit, dass die Zeit so einflussreicher Literaturkritiker, wie er einer ist, für immer vorbei ist. Ich möchte diese Vermutung mit einem literaturwissenschaftlichen Argument untermauern. Marcel Reich-Ranickis literaturkritisches Werk nämlich muss, glaube ich, seit seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik im Jahr 1958 verstanden und gewertet werden im Kontext einer literaturgeschichtlichen und -politischen Kontinentalplattenverschiebung, die so allgegenwärtig und revolutionär ist, dass man sie sich heute paradoxerweise mühsam bewusst machen muss. Gemeint ist die Ablösung eines kunstreligiösen Dispositivs literarischer Praxis durch eines der gehobenen intellektuellen Unterhaltung.

Zwischen den Fünfziger- und den Neunzigerjahren haben sich die Produktionsbedingungen und -haltungen von Autoren, die Erwartungen des Publikums und die allgemein geltenden literaturkritischen Kriterien so grundlegend verändert, dass, wer von „Literatur“ spricht, kaum dasselbe meint, wenn einerseits von Friedrich Sieburg und Paul Celan, von Lionel Trilling und T. S. Eliot die Rede ist oder andererseits von Michiko Kakutani und Paul Auster, von Judith Hermann und Uwe Wittstock.

Gehobene Unterhaltung

Noch ein paar Eckpunkte der gemeinten Unterscheidung: Die Leitgattung des kunstreligiösen literarischen Dispositivs sind die Lyrik und das Drama, die des Unterhaltungsdispositivs ist der Roman. Das Kunstdispositiv sucht eine Erleuchtung, das Unterhaltungsdispositiv eine interessant aufgelöste Spannung. Themen der Kunstreligion sind Der Gott, Die Rettung, Die Kehre, Der Holocaust. Themen der gehobenen literarischen Unterhaltung sind Das Leben, Die Liebe, Das Altern, Das Kind. Die Spitze des ersten kulturellen Felds besetzt der literarische Seher, das des zweiten der literarische Star. Die am deutlichsten ausgearbeitete literaturgesellschaftliche Organisationsform der Kunstreligion waren der George-Kreis, die Bloomsbury Group, die Konkurrenz und Dichterfreundschaft zwischen Ezra Pound und T. S. Eliot. Die gehobene literarische Unterhaltung organisierte sich in Deutschland als Gruppe 47, in den USA als die Klassen der universitären Creative-writing-Programme, die dort nach 1945 allgegenwärtig wurden und deren Übertragung auf deutsche Verhältnisse die Gruppenlesungen der Gruppe 47 gewesen sind, das Design des „Literarischen Quartetts“ oder des Bachmann-Wettbewerbs. Die literarische Kunstreligion ist politisch konservativ, manchmal hat sie sich mit der konservativen Revolution oder dem Nationalsozialismus eingelassen wie Ezra Pound oder Gottfried Benn. Die gehobene Unterhaltung ist liberal und links. Die bedeutendsten Kritiker der Kunstreligion nach 1945 waren in Deutschland die heute bezeichnenderweise so gut wie vergessenen Essayisten Friedrich Sieburg und Hans Egon Holthusen. Der bedeutendste Kritiker der gehobenen Unterhaltungsliteratur in Deutschland ist Marcel Reich-Ranicki.

Es gibt einen Moment in der Geschichte der Gruppe 47, an dem Marcel Reich-Ranicki noch nicht beteiligt war (es war sechs Jahre vor seiner Emigration aus Polen) und in dem auf hohem literarischen Niveau klar wurde, welche literaturgeschichtliche Kontinentalplattenverschiebung in dieser Zeit stattfand, welche Kontinente damals im Begriff waren, für immer auseinanderzudriften. 1952 las Paul Celan auf der Zusammenkunft in Niendorf an der Ostsee sein bis heute und schon damals berühmtestes Gedicht, die „Todesfuge“. „Er neigte dazu“, sagte später Günter Grass (der tatsächlich dabei gewesen war) über diesen seminal moment der bundesdeutschen Literaturgeschichte, „seine Gedichte in einem abgehobenen, feierlichen Ton vorzutragen, so als müsste man Kerzen aufstellen, wenn er las. Und das war etwas, was bei der Gruppe 47 überhaupt nicht ankam, diese Art von Dichterpriesterhaftigkeit, die sich da aussprach oder bei ihm in Szene setzte.“ Richter muss damals gesagt haben, Celan habe sein Gedicht „wie in einer Synagoge“ vorgetragen, und er sprach keine Einladung mehr aus an ihn. Das Priesterhafte stand in jenem Moment ein für allemal gegen das Kumpelhafte, das Feierliche gegen das Unterstatement, die Vergangenheit der deutschen Literatur gegen ihre in der Gruppe 47 versammelten realistischen Zukunftspläne. Stefan George gegen Heinrich Böll.

Auf dieses gespaltene, dynamisch bewegte kulturelle Feld traf sechs Jahre später Marcel Reich-Ranicki, aus dem noch nicht vollständig entstalinisierten Volkspolen kommend. Er war damals, nach einer etwas undurchsichtigen Karriere als Diplomat, Geheimdienstmitarbeiter und schließlich freischwebender Intellektueller, entschlossen, alles auf eine Karte zu setzen und sich im großen, freien, reichen Nachbarland als dessen maßgeblicher Literaturkritiker neu zu erfinden.

Sein überwältigender Erfolg bei diesem (ja im Grund sehr gewagten) Unternehmen in den nun folgenden Jahrzehnten, das ist die Hauptthese, zu der ich bei meinem eigenen langjährigen Nachdenken über Reich-Ranicki schließlich gelangt bin, ist zu erklären durch die merkwürdig janusköpfige Rolle, die er im doppelt kodierten kulturellen Feld der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur bis zum Ende seines Wirkens gespielt hat. Es ist nämlich durchaus nicht so gewesen, dass sich Reich-Ranicki umstandslos auf die Seite der progressiven Aktivisten der Gruppe 47 gestellt hätte, deren machtbewusstester, robustester und landserhaftester Mentor wohl Hans Werner Richter selbst gewesen ist. Denn er kam lebensgeschichtlich und intellektuell ganz woanders her.

Der Populismus eines Unterhaltungskritikers und die Autorität eines „Advokaten für die Literatur“

Reich-Ranicki hat seine Anfänge im noch überwiegend kunstreligiösen Feld der deutschen Vorkriegsliteratur in seiner Autobiografie ausführlich, eindrucksvoll und rührend geschildert. Wir haben kaum eine bessere Beschreibung der hegemonialen Stellung deutscher Sprache und deutscher Kunstreligion im ostmitteleuropäischen Raum vor 1933 als seine Memoiren. In Reich-Ranickis Selbstverständnis und Selbstdarstellung, in seinen Bekenntnissen zur deutschen Sprache und Literatur als seiner „Heimat“, in seinem Anspruch, deren Tradition und Rang als Anwalt, als Beschützer, als ihr eigentlicher Adept gegen alle Widerstände öffentlich zur Geltung zu bringen, bleibt bis heute durch sein gesamtes öffentliches Leben hindurch ein Echo der klassischen deutschen Kunstperiode der Zwanzigerjahre lebendig. Und dieses Echo verbindet sich mit dem machtpolitisch sehr durchdachten Wirken Reich-Ranickis als zeitgenössischer bundesdeutscher Literaturstratege. Man fand ihn, wenn es darauf ankam, in allen literaturpolitischen Hauptfragen auf Seiten der linkssozialdemokratischen Neorealisten.

Das Reich-Ranicki-Paradox

Franz Josef Czernin zitiert in seinem sehr guten Buch über Marcel Reich-Ranicki ein Interview des Kritikers mit Gottfried Reinhardt, der ihn damit „konfrontiert, dass Heinrich Böll, gäbe es noch die großen jüdischen Kritiker, nie mit einem großen Schriftsteller verwechselt worden wäre“. Reich-Ranicki hat damals offenbar gesagt: „Wir, die wir zu Bölls Ruhm beigetragen haben, sahen keinen anderen Ausweg. Es gab keinen anderen. Die konservative Kritik wollte Gerd Gaiser zur Galionsfigur der Literatur machen. Den antisemitischen, exnazistischen Schriftsteller. Das konnten wir nicht zulassen. Wir haben uns auf Böll als Gegenkandidaten geeinigt. Es gab andere, die besser waren. Aber sie waren nicht geeignet.“

Großer kultureller (und übrigens auch politischer) Erfolg verdankt sich oft zentristischen Positionen, von denen aus unversöhnliche Antagonismen und Antagonisten plötzlich gar nicht so weit auseinander zu sein scheinen. Es macht Spaß und ist sehr instruktiv für das Funktionieren kultureller Felder, Reich-Ranicki dabei zu beobachten, wie er seine ganze öffentliche Tätigkeit hindurch taktisch zwischen der kunstreligiösen und der fortschrittlichen Seite der eingangs gemachten literaturgeschichtlichen Unterscheidung hin- und herwechselte.

In „Mein Leben“ zum Beispiel schilderte er die Begegnung mit Anna Seghers, die ihn durch ihre intellektuelle Schlichtheit zunächst enttäuschte. „Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf. Diese bescheidene, sympathische Person, die jetzt in breiter Mainzer Mundart über ihre Figuren schwatzte, diese würdige und liebenswerte Frau hat den Roman ‚Das siebte Kreuz‘ überhaupt nicht verstanden. Sie hat keine Ahnung von der Raffinesse der hier angewandten künstlerischen Mittel, von der Virtuosität der Komposition. Einen Augenblick später irritierte mich der Gedanke: Es gibt Hunderttausende, vielleicht Millionen von Menschen, die diesen (...) Roman nicht nur gelesen, sondern auch richtig verstanden haben, es gibt viele Kritiker, von denen er sachgerecht und intelligent und klug erläutert und gedeutet wurde. Doch es gibt nur einen einzigen Menschen, der ihn geschrieben, der ihn gedichtet hat. Als wir uns verabschiedeten, tat ich etwas, was in Deutschland nicht mehr üblich ist: Mich tief verneigend, küsste ich die Hand der Anna Seghers.“

In dieser für Reich-Ranicki sehr bezeichnenden kleinen Szene scheinen sich Figuren des kunstreligiösen Dispositivs gegenüberzustehen. Die Dichterin und der sich neigende Kritiker, der nur ein Intellektueller ist. Er ist nur klug und sachgerecht. Die Dichterin aber ist etwas Höheres. Die für Reich-Ranicki bezeichnende Ironie der Szene jedoch bestand darin, dass Anna Seghers’ well-made novel „Das siebte Kreuz“ paradoxerweise gerade ein frühes und besonders erfolgreiches Beispiel gehobener linksintellektueller Unterhaltungsliteratur darstellt: spannend, lebensvoll, fortschrittlich und typisch im Sinn der bekannten Kategorie von Georg Lukács.

Auch ein anderes Markenzeichen Reich-Ranickis erklärt sich zwanglos, wenn man sich seine zentristische Doppelstellung zur Urszene der bundesdeutschen Literaturgeschichte vor Augen führt. Nämlich die Entschiedenheit und oft auch Grausamkeit seiner Urteile. Wer so urteilt und verurteilt, wie es Reich-Ranicki sich traute, spricht als Kritiker nicht nur für sich selbst. Er wusste die Tradition hinter sich, in die er als Berliner Gymnasiast hineingewachsen war. Reich-Ranickis Urteile waren in widersprüchlicher Einheit mit seinen oft sehr ermäßigten Ansprüchen an künstlerische Qualität der Grund für seine Popularität. Paradoxerweise vereinte sich in ihnen der Populismus des gehobenen Unterhaltungskritikers mit der priesterlichen Autorität jenes „Advokaten für die Literatur“, den er zeitlebens verkörpern wollte.

Stephan Wackwitz

■ geb. 1952, Schriftsteller, Leiter des Goethe-Instituts in New York. Im Juli erscheint sein neues Buch „Fith Avenue. Spaziergänge durch das letzte Jahrhundert“ (Fischer Verlag). Foto: René Clément

Die priesterlich-ritterliche Vorkriegshaltung hat er vor allem Schriftstellerinnen gegenüber eingenommen. Die bis heute gültige Überschätzung Ingeborg Bachmanns, die unwahrscheinliche Karriere Ulla Hahns (oder auch Reich-Ranickis rational kaum mehr erklärbarer Kult um den in seiner Arrivierungstechnik dezidiert damenhaften Wolfgang Koeppen) hat in dieser selektiven Bereitschaft Reich-Ranickis zum Priesterlichen einen ihrer Gründe.

Männliche Schriftsteller dagegen hatten oft Grund, sich über versteckte Rivalitätsgefühle zu wundern (oder, wie Martin Walser oder Peter Handke, so gekränkt über sie zu sein, dass sie sich zu unfairen literarischen Retourkutschen hinreißen ließen). Der einzige Schriftsteller seiner Generation, dem er bis zu dessen Tod die Treue hielt, war merkwürdigerweise eben Koeppen – derjenige, dessen Werk seit den Sechzigerjahren vor allem darin bestand, dass er nichts schrieb. Aber auch das ist vielleicht erklärbar durch Reich-Ranickis verschwiegene und fallweise Neigung zur kunstreligiösen Orthodoxie, die das Schweigen oder Verstummen des wahren Dichters als Grenzfall äußersten Ausdruckswillens traditionell inthronisiert hat.

Nicht nur in seinen folgenreichen Überschätzungen jedoch lässt sich die „Reich-Ranicki-Paradoxie“ erkennen und studieren, sondern auch in den vielen Unterschätzungen, die von der Literaturgeschichte inzwischen stillschweigend richtiggestellt werden. Dass er Hermann Lenz auch nach seiner Entdeckung zu Beginn der Achtzigerjahre ignoriert hat, hängt wahrscheinlich mit dessen Regionalismus zu tun, einer künstlerischen Gesinnung, der er im „Literarischen Quartett sein berühmtes (und ja immer auch sehr komisches) „Ich interessiere mich nicht für Eskimos!“ entgegenzuschleudern pflegte. Auch Lenz’ Bezug auf Stifter wird ihm zu offen und programmatisch kunstreligiös sein, was schließlich auch erklärt, dass er Handke nie schätzte (ihn freilich nie „verfolgt“ hat, wie Handke manchmal zu Protokoll gab).

Auffällig ist ein gewisses Unverhältnis zu Heiner Müller. Seltsam ist auch, dass er Arno Schmidt nicht mag, der ihm doch mit seiner politischen Linksorientierung entgegengekommen sein muss, und auch in seinem modernistisch erneuerten Kunstpriestertum. Ganz unverständlich ist schließlich, dass er – der doch viel Sinn für Komik hatte und selbst so komisch sein konnte – die Förderung der reichen und bedeutenden komischen deutschen (besonders Frankfurter!) Nachkriegsliteratur nicht zu seiner Sache gemacht hat. Wenigstens im Fall Robert Gernhardts hat er kurz vor dessen Tod immerhin noch die Kurve gekriegt, obwohl er ihn in der FAS mit Kästner verglich, was wiederum eine für Reich-Ranicki sehr typische kritische Fehlleistung war. Denn es verriet seine habituelle Unwilligkeit, über die literaturpolitischen Koordinaten der Fünfzigerjahre strategisch hinauszukommen.

Ein Kettensägenmassaker

Wer so verurteilt, wie Reich-Ranicki es sich traut, spricht als Kritiker nicht nur für sich selbst

Ein einziges Mal hat der Kritiker Marcel Reich-Ranicki meinem Schreiben und meinem Leben eine neue Richtung gegeben. Die Novelle „Die Wahrheit über Sancho Pansa“ habe ich in den späten Neunzigerjahren geschrieben mit der – wahrscheinlich irgendwie Midlife-Crisis-induzierten – Hoffnung und Intention, ein Buch zustande zu bringen, das im „Literarischen Quartett“ besprochen würde. Ich wollte damals ein Schriftsteller sein wie die damals sehr maßgebenden Kollegen Sten Nadolny, Matthias Politycki oder Christoph Ransmayr. Ein „richtiger“ Schriftsteller, nicht bloß ein Essayist. Und ich habe es damals auch geschafft, ins „Literarische Quartett“ zu kommen.

Der Höhepunkt des literaturkritischen Kettensägemassakers, dessen fassungsloses Objekt ich an einem denkwürdigen Freitagabend im Frühling des Jahres 1999 vor meinem Fernseher dann wurde, bestand darin, dass Reich-Ranicki (der sich während der ganzen Sendung darauf versteift hatte, meinen Nachnamen polnisch auszusprechen, nämlich „Watzkwitz“) schließlich ausrief, dem Buch sei ja nicht abzusprechen, dass ich schreiben könne. „Aber der Autor hat nichts zu sagen!“

Ich hatte mir, in der Erwartung, während der nächsten Dreiviertelstunde berühmt und vielleicht sogar reich zu werden, eine Flasche sehr guten Bordeaux aufgemacht, als die „Tagesthemen“ sich dem Ende zuneigten. Als das „Literarische Quartett“ herum war, machten wir dann noch eine auf. Und ich hatte am nächsten Tag am Ende eines langen Spaziergangs das beschämende, aber deutliche und plötzlich dann auch sehr befreiende Gefühl, dass Reich-Ranicki den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

Ich habe nie wieder versucht, ein Buch zu schreiben, das im „Literarischen Quartett“ besprochen wird und überhaupt irgendwelchen bestimmten Erwartungen des Literaturbetriebs entspricht, und bin sehr gut damit gefahren. Das ist meine einzige persönliche Erfahrung mit dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. Er hatte mit sicherem Instinkt etwas Unechtes, Unehrliches, Abgeleitetes und Spekulatives an meinem Buch entdeckt, das ich selbst nicht sehen konnte. Es hieße meine Einsichtsfähigkeit vielleicht etwas überzustrapazieren, wenn ich behaupten wollte, ich sei ihm dankbar dafür gewesen. Aber eigentlich müsste ich es sein.