: Die Knigge-Frage
Darf man auf dem Holocaustmahnmal herumturnen?
Die Gestaltung bietet sich so schön dafür an, Familien könnten am Mahnmal für die ermordeten Juden in Europa am Brandenburger Tor ganze Nachmittage verbringen: Die Kleinen könnten Ball spielen und sich verstecken. Sie könnten die Stelen als Hindernisparcours begreifen, mit dem Rad hindurchfahren. Möglichkeiten gibt es genug. Man könnte auf dem Platz sogar Paintball-Kämpfe ausfechten.
Mit seinen Stelen ist der Ort geradezu prädestiniert dafür, dass Kinder – und auch Erwachsene – hindurchrennen, hinaufklettern und darauf herumspringen. Doch heißt das nicht auch, gleichzeitig die Opfer mit Füßen zu treten?
Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, mit meinen Freunden auf den Stelen zu picknicken. Auch als Joggingstrecke würde ich es nicht nutzen. Für mich ist dieser Ort einfach zu traurig, um mich dort zu entspannen. Wahrscheinlich fühle ich auch deshalb so, weil meine Großmutter eine Holocaustüberlebende ist. Eine, die ihre ganze Familie verloren hat.
Jedoch ist das außergewöhnliche Denkmal im Herzen von Berlin kein Museum – und das ist auch gut so! Seine richtige Bedeutung entsteht aus seinem alltäglichen Zusammenhang; dadurch, dass es zum Stadtbild gehört. Selbst wenn die Leute es ignorieren, es bleibt existent. Auf dem Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen, es ist immer da. Es steht dort, wenn seine Nachbarn ins Bett gehen, und begrüßt sie morgens, wenn sie aufwachen. In einer bestimmten Art und Weise ersetzt es jene, die früher hier gelebt haben und die heute nicht mehr da sind. Natürlich stört es auch mich, diese unbewusst handelnden Menschen dort zu bemerken. Oder, noch schlimmer, diejenigen, die sich der Bedeutung des Mahnmals bewusst sind, denen sie aber egal ist. Aber sollten deshalb Verbotsschilder aufgestellt oder sogar Strafzettel an dumme, instagrammende Teenager verteilt werden?
Für mich ist die Antwort klar – nein. Erstens, weil sich mir das Konzept, verstorbene Menschen mit siebzigjähriger Verspätung zu schützen, nicht erschließt. Mehr noch, es macht mich wütend. Aber auch wenn ich länger darüber nachdenke, meine Wut für einen Moment unterdrücke, finde ich es noch immer nicht gut. Denn mit Regeln und Verboten in dieses surrealistische Kunstwerk einzugreifen würde eine künstliche Atmosphäre schaffen. Und das wäre am allerschlimmsten. Jeder soll selbst entscheiden, wie er sich vor Ort benimmt. Muss man sich an die Ermordeten nur erinnern, oder muss man sie auch ehren? Oder keins von beidem? Zumindest kann man darüber nachdenken, wenn man auf dem Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen ist.
■ Udi Shayshon, 29, ist Journalist aus Jerusalem. Er wohnt in Berlin und macht gerade im Rahmen des „Trialog der Kulturen“-Programms ein Praktikum bei der taz
■ Diese Frage stellte uns Sabine Flohr aus Berlin. Haben Sie auch eine Benimmfrage? Mailen Sie an knigge@taz.de