piwik no script img

Sollen 16-Jährige wählen dürfen?JA

Vor 40 Jahren wurde das Wahlalter heruntergesetzt: von 21 auf 18 Jahre. Nun wird immer häufiger ein Wahlrecht für Jugendliche gefordert

Klaus Hurrelmann, 66, Jugendforscher und Leiter der jüngsten Shell-Jugendstudien

Die entscheidende Frage bei der Festlegung eines Mindestalters ist: Ab wann hat ein junger Mensch die intellektuelle und soziale Kompetenz, um einschätzen zu können, was bei einem Wahlvorgang passiert, wenn man seine eigene Stimme für eine Partei oder einen Kandidaten abgibt? Diese Kompetenz ist eindeutig früher als mit achtzehn Jahren gegeben, denn in der Schule und durch die Medien sind junge Leute heute schon früh mit Themen des politischen Lebens konfrontiert. Ein ganz wichtiger Aspekt kommt noch dazu: die Vorverlagerung der Geschlechtsreife, der „Pubertät“, im Lebenslauf. Von 1900 bis heute ist sie um drei Jahre nach vorne gewandert. Die Kindheit hört entsprechend nicht mehr mit fünfzehn bis sechzehn Jahren auf, wie bei den Urgroßeltern der heutigen Jugendlichen, sondern mit zwölf bis dreizehn. Danach ist man und frau körperlich, aber eben auch psychisch und kognitiv ein junger Erwachsener oder eine junge Erwachsene. Mit dieser verfrühten Pubertät sind auch die Fähigkeiten zur Informationsverarbeitung und zur Urteilsfähigkeit zeitiger im Lebenslauf verfügbar als bei den Angehörigen vorheriger Generationen. Einschätzen zu können, was bei einem Wahlvorgang passiert – das ist deshalb spätestens mit vierzehn Jahren ohne Einschränkungen möglich. Ein Mindestwahlalter von sechzehn Jahren würde der veränderten Lage endlich Rechnung tragen.

Clara Herrmann, 25, sitzt für die Grünen im Berliner Landesparlament

Einen Beruf wählen, für ein Jahr ins Ausland gehen, die Zukunft planen, Geld verdienen und ausgeben, aber auch Bier trinken oder Motorrad fahren – das alles darf man mit sechzehn und muss sich deshalb damit beschäftigen. Jugendliche zwischen sechzehn und achtzehn Jahren haben viele Rechte, aber wählen dürfen sie nicht. Die Jugend ist abhängig von politischen Entscheidungen anderer und gleichzeitig von den Fragen der politischen Zukunftsgestaltung häufig am stärksten betroffen. Wer muss den Schuldenberg abbezahlen? Wer muss den Klimawandel ausbaden? Und wer erlebt die Bildungspolitik täglich am eigenen Leib? Das Wahlrecht ab sechzehn ist ein Gewinn für die Demokratie. Jugendliche müssen bestimmen dürfen. Die Befähigung zum Mitbestimmen ist keine Frage des Alters, sondern der politischen Bildung. Die darf niemandem von vornherein abgesprochen werden – egal ob mit sechzehn oder hundertsechzehn.

Andreas Hasenkopf, 26, Physik-Doktorand, hat auf taz.de kommentiert

Kritiker beschweren sich über mangelndes politisches Interesse der Jugendlichen. Aber haben die sich schon einmal die Realität angesehen? Das Interesse an politischen Themen sowie die Wahlbeteiligungen gehen doch immer mehr zurück. Hier handelt es sich nicht um ein Phänomen der Jugend, sondern um einen generellen Effekt, der durch die aktuelle „Alternativlosigkeit“ deutscher Politik verschärft werden dürfte. Mit sechzehn Jahren sah ich die Welt noch optimistischer und hatte den Eindruck, wie im Sozialkundeunterricht propagiert, dass es einen politischen, kreativen Entwicklungsprozess gäbe. Die Hilflosigkeit der Politik im Angesicht der Realität hat mich im vergangenen Jahrzehnt eines Besseren belehrt. Sollen die Sechzehnjährigen doch bitte wählen dürfen – vielleicht bringen die wieder etwas Schwung in die Politik.

NEIN

Fritz Felgentreu, 41, SPD-Politiker in Berlin, wo die Entscheidung über Wählen ab 16 bevorsteht

Wahlalter sechzehn – eine sympathische, aber keine gute Idee. Die Hauptargumente sind beliebig: Ja, die Regierung trifft Entscheidungen, die für die Zukunft Sechzehnjähriger wichtig sind. Aber das Gleiche gilt für Vierzehnjährige. Und ja, viele Sechzehnjährige haben die nötige Reife. Aber was ist mit Achtzehnjährigen, die sie nicht haben? Wäre ihretwegen das Wahlalter etwa anzuheben? Das Wahlalter achtzehn hat sich bewährt: erstens als Merkmal des Erwachsenwerdens. Es wäre falsch, nahezulegen, dass zum Autofahren mehr Reife nötig ist als zur Wahl einer Regierung. Zweitens als Station des Hineinwachsens in Verantwortung: durch Religionsmündigkeit mit vierzehn, kommunale Mündigkeit mit sechzehn und Gesetzgebungsmündigkeit mit achtzehn. Und drittens als Säule im Gefüge bürgerlicher Rechte und Pflichten: Wer als Wehrpflichtiger von der Regierung in den Krieg geschickt werden kann, muss das Recht haben, seine Regierung zu wählen.

Maria Dragus, 15, bekam 2010 den Deutschen Filmpreis für ihre Rolle in „Das weiße Band“

Natürlich ist es wichtig, dass auch wir jungen Menschen zu Wort kommen, entscheiden dürfen und schließlich gehört das auch zum Erwachsenwerden dazu! Aber hat man mit sechzehn schon die nötige Erfahrung, um etwas so Wichtiges entscheiden zu können? Ich glaube nicht! Die Wahl ist etwas, womit man Verantwortung übernimmt. Viele Jugendliche haben meiner Ansicht nach noch kein Bewusstsein, um so etwas Wichtiges entscheiden zu können. Erst kürzlich sprach ich mit einer Freundin darüber, ob man in unserem Alter wählen gehen sollen dürfte. Sie antwortete mir nur trocken: „Stell dir vor, wer dann alles wählen gehen könnte und was dann für Mist überall abgehen würde.“ Ich glaube, das trifft es ganz gut. Vielleicht würden sich viele einen Spaß daraus machen. Zumindest kenne ich kaum eine(n) Sechzehnjährige(n) in meinem Umfeld, der/die besonders an der politischen Entwicklung Deutschlands interessiert wäre. Also würde ich sagen, lieber noch zwei Jahre abwarten und dann mit achtzehn das erste Mal wählen gehen, dann ist man auch reif genug dafür!

Renate Köcher, 57, Geschäftsführerin des Allensbach-Instituts für Meinungsforschung

Das Politikinteresse der Sechzehn- und Siebzehnjährigen ist wesentlich geringer als in der Gesamtbevölkerung und geht leider weiter zurück. In derselben Altersgruppe ist der Anteil der zumindest begrenzt politisch interessierten seit den neunziger Jahren von 49 auf 42 Prozent gesunken, der harte Kern mit ausgeprägtem politischen Interesse von 9 auf 6. Nichts deutet darauf hin, dass eine Herabsetzung des Wahlalters das Interesse erhöhen würde. Auch die 18- bis 24-Jährigen interessieren sich heute weit weniger für Politik als noch in den Neunzigern und beteiligen sich weit unterdurchschnittlich an Bundestagswahlen. Dies lässt sich nicht mit Schlagworten wie „Politikverdrossenheit“ erklären, denn auch das Interesse an Wirtschaft, Natur- und Umweltschutz, Kultur und Wissenschaft ist bei den Jüngeren stark gesunken. Eine wesentliche Ursache ist das veränderte Informationsverhalten. Gerade die Jüngeren verzichten häufig auf die tägliche Information und kehren insbesondere der Tageszeitung den Rücken; dies führt klar erkennbar zu einem engeren Interessenspektrum und einer schlechter informierten Gesellschaft.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen