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Archiv-Artikel

Der Blick des Mikrofons

Zwar wurde London schon in zahlreichen Songs und Alben verewigt: Von Ralph McTells melancholischen „Streets of London“ über das wütende „London Calling“ von The Clash bis zum beinahe resignativen „King’s Cross“, mit dem die Pet Shop Boys einem Londoner Bahnhof die Ehre erwiesen, wurde die Stadt in ihren unterschiedlichsten Facetten besungen. Der Klangkünstler und Field-Recordings-Experte BJ Nilsen hingegen hat für sein London-Porträt „Eye of the Microphone“ keine Stücke in Liedform geschrieben, ist aber im Grunde näher dran an der Metropole als seine Vorgänger.

Ein Jahr lang konnte Nilsen, der sonst in Berlin lebt, die Stadt erforschen, und das tat er systematisch, sammelte mit seinem Aufnahmegerät an allen möglichen Flecken oberhalb und unterhalb der Erde Klänge und Geräusche, die gleichermaßen von Mensch, Maschine, Tier oder übriger Natur stammten. Ob Fahrradfahrer, Autobusse oder Flugzeuge, aufgeschnappte Dialoge, Vogelstimmen oder Wellen, die ans Ufer der Themse schlagen – Nilsen verwendet diese verschiedenen Quellen völlig gleichberechtigt und setzt sie zu Geschichten (fast) ohne Worte zusammen.

„Eye of the Microphone“ ist dabei buchstäblich zu nehmen. Das Mikrofon übernimmt die Rolle des Beobachters, aus dessen Perspektive wir diese Geschichten erzählt bekommen. Er registriert alles in seiner Umgebung und wählt dann aus dem angehäuften Material die Elemente für die Handlung aus. Mal erwartet die Hörer Ereignis auf Ereignis wie in „Londinium“, mal nimmt der Erzählfluss erst langsam Fahrt auf und wandelt allmählich seine Gestalt hin zu mehr oder weniger vertrauten Tönen („Twenty Four Seven“).

Bei Nilsen hat man nie den Eindruck, lediglich ein Abbild der Umwelt präsentiert zu bekommen. Er macht aus seinen akustischen Notizen stets Musik, die ebenso viel Aufmerksamkeit erfordert wie die konventionelleren Annäherungen an London. Anders als McTell, The Clash oder die Pet Shop Boys kommentiert er seine Eindrücke der Stadt nicht – jedenfalls nicht mit eindeutig lesbaren Mitteln. Er zeigt, was da ist, ändert lediglich hier und da die Verbindungsstellen, schafft Übergänge, die es so zuvor nicht gegeben hat.

Strenggenommen ist Nilsens Album eine Einladung, die Stadt mit den Ohren noch einmal ganz neu kennenzulernen. Und er hat – zusammen mit seiner Ausrüstung – gründlich genug hingehört, dass es beim Hören immer Neues zu entdecken gibt.

TIM CASPAR BOEHME

■ BJ Nilsen: „Eye of the Microphone“ (Touch/Cargo)