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Archiv-Artikel

Im Schutz des Herrn

KIRCHE Die Proteste der Flüchtlinge waren in Berlin 2013 nicht zu übersehen. Weil der Senat sich querstellte, nahmen sich die Kirchen der Leute an - und wurden zum politischen Akteur

Das Netzwerk

■ Asyl in der Kirche e.V.: Entstanden nach dem ersten Kirchenasylfall 1983. Zum Verein gehört die Flüchtlingsberatungsstelle in der Heilig-Kreuz-Kirche. www.kirchenasyl-berlin.de

■ Jesuiten-Flüchtlingsdienst: 1980 gegründet, um Bootsflüchtlingen zu helfen. Der Berliner Direktor Pater Pflüger sitzt auch in der Härtefallkommission. www.jesuiten-fluechtlingsdienst.de

■ Flüchtlingsrat: Seit 1981 bündelt er Flüchtlingsarbeit mehrerer Gruppen. Finanziert u. a. vom Berliner Missionswerk und Pro Asyl. www.fluechtlingsrat-berlin.de (aha)

VON ANNE HAEMING

„Lampedusa ist dort drüben“, sagt Ulrike Kostka und deutet Richtung Fenster. Da drüben, das ist ein altes Klostergebäude, das von ihrem Büro aus auf der anderen Seite des Innenhofs mit den vielen Bäumen steht. Kostka ist seit anderthalb Jahren Direktorin der Berliner Caritas, die ihren Sitz in der Residenzstraße in Wedding hat. Und ihretwegen ist das Kloster seit Ende November etwas, das es eigentlich gar nicht geben kann: eine Unterkunft für Flüchtlinge, die offiziell gar nicht in Berlin sind. Ein Politikum.

Kostka und die Caritas sind Ende November eingesprungen, damit die Flüchtlinge, die im Protestcamp auf dem Kreuzberger Oranienplatz vor ihrem zweiten Winter standen, nicht erfrieren. „Ich fand einfach, es muss etwas passieren“, sagt Kostka, eine Mittvierzigerin mit kurzen Haaren, eine Macherin. Sie weiß schon allein deshalb, was politische Strahlkraft ist, weil sie als Frau an der Spitze einer so wichtigen katholischen Einrichtung steht.

Ihr Chef, Kardinal Rainer Maria Woelki, hat die Flüchtlinge im Kloster bereits besucht. Und weil die Unterkunft nur vorübergehend sein kann, hatte Kostka für Donnerstag auch noch einen Runden Tisch einberufen, zusammen mit ihrer evangelischen Kollegin der Diakonie. Senatsvertreter sollten kommen, um mit Flüchtlingsorganisationen und Flüchtlingen darüber zu beraten, wie es weitergehen soll mit den Menschen. Was passiert, wenn Ende März die Frist für das Haus ausläuft? Wie können wir helfen?

In Berlin und Brandenburg wiederholte sich dieses Schema in den vergangenen Monaten immer wieder: Bund, Land, Bezirke lassen eine Leerstelle in der Flüchtlingsversorgung – und die Kirchen springen in die Bresche.

Da waren die 25 hungerstreikenden Flüchtlinge vor dem Brandenburger Tor im Oktober. Bischof Markus Dröge war der Erste von politischem Format, der hinging – erst daraufhin traute sich auch die Migrationsbeauftragte des Bundes. Die hungerstreikenden Menschen kamen erst in einem Obdachlosenheim der Kreuzberger Heilig-Kreuz-Gemeinde unter, jetzt sind sie in einer katholische Einrichtung. Gelebte Ökumene.

Da war die Erstaufnahmestelle im brandenburgischen Eisenhüttenstadt: Die Kirche initiierte ein Projekt, um besonders Schutzbedürftige schneller zu erkennen und ihnen helfen zu können.

Und da sind die Flüchtlinge vom Oranienplatz, von denen viele einmal im Jahr in Italien den Stempel in ihrem Pass erneuern müssen. Die Flüge werden über ein Spendenkonto von „Asyl in der Kirche“ bezahlt, das Geld wirbt der Verein zusammen mit dem Flüchtlingsrat ein. Und nun die Caritas-Unterkunft, der Runde Tisch.

Dass das Engagement der Berliner Kirchen derzeit offensiver, politischer, pointierter wirkt, mag vor allem an den Akteuren liegen. An Personen wie Caritas-Chefin Kostka, an Bischof Dröge, an Kardinal Woelki, der in seiner BZ-Kolumne schon mal schreibt: „Ein Flughafen, an dem Asylsuchende in einem Schnellverfahren abgespeist werden, käme dem Ruf Berlins als einer weltoffenen Stadt wirklich nicht zugute.“ Und es liegt sicher auch an Bernhard Fricke, der den Verein „Asyl in der Kirche“ leitet, und an Pater Fridolin Pflüger, der nach neun Jahren in Ostafrika seit einem Jahr Direktor des Jesuiten-Flüchlingsdienstes ist.

Pflüger sitzt für das Erzbistum Berlin in der Härtefallkommission und wirkt, als würde er im Klein-Klein Berlins mit angezogener Handbremse agieren. Er ist einer, dem die neuen Residenzpflichtlockerungen im Koalitionsvertrag nicht weit genug gehen und der vor dem Europäischen Gerichtshof gegen Bayern klagte, weil Flüchtlinge in Abschiebehaft gemeinsam mit Strafgefangenen untergebracht wurden. Und der kaum fassen kann, dass man in Deutschland über die Aufnahme von 10.000 Flüchtlingen im Jahr debattiert – „das waren in Afrika manchmal Tagesschwankungen“, sagt er.

Nun könnte man fragen, wo die Grenze ist zwischen Staat und Kirche, inwiefern Kirche überhaupt Politik machen darf, soll, kann. Gerade wenn humanitäre Aspekte nahtlos in asylpolitische Fragen übergehen. Caritas-Chefin Kostka zögert keine Sekunde: „Wir verstehen uns grundsätzlich als politischer Akteur“, sagt sie, und legt noch eins drauf: „Seit ich da bin, wollen wir noch stärker als sozialpolitische Stimme auftreten.“ Und so hatte sie das Bedürfnis, die Sache mit den Flüchtlingen vom Oranienplatz in die Hand zu nehmen.

Tradition des Kirchenasyls

Diese Art von Impuls kennt der evangelische Pfarrer Jürgen Quandt, seit Anfang der 1980er ist er in Kreuzberg aktiv. Vor 30 Jahren begründete er die deutsche Tradition des Kirchenasyls – und trat damit in beiden Kirchen eine bundesweite Debatte darüber los, wie viel Politik überhaupt zu deren Aufgaben gehöre.

Dass nun die Kirchen wieder stärker als Macher wahrgenommen werden, nimmt Quandt etwas verblüfft zur Kenntnis: „Zum 25. Jubiläum haben wir sogar eine Broschüre über die Geschichte des Kirchenasyls herausgebracht“, erzählt er. „Aber vor fünf Jahren hat sich kein Mensch für das Thema interessiert“.

Jürgen Quandt ist Teil jenes Netzwerks, in dem in Berlin über alle Ebenen und Konfessionen hinweg Kirchenleute verwoben sind, die sich für Flüchtlinge einsetzen. Neben ihnen gehört auch der betont kirchenunabhängige Flüchtlingsrat dazu, der dennoch zu einem Drittel von der evangelischen Kirche finanziert wird, Mieträume direkt neben Bischof Dröge hat und lange von einer katholischen Pax-Christi-Anhängerin geleitet wurde.

Mancher unter ihnen kann nicht einmal die Frage nachvollziehen, ob es eine Grenze gibt beim politischen Engagement der Kirche, wie weit die Aktionen gehen dürfen. „Wir machen das doch seit Jahrzehnten“, sagen sie. Nur darum gebe es das Netzwerk, nur darum könne die Kirche als Akteur in flüchtlingspolitischen Fragen glaubwürdig auftreten.

Dass dieses Auftreten nun in der Öffentlichkeit stärker bemerkt wird, hat sicher auch damit zu tun, dass Flüchtlingspolitik 2013 in Berlin, Deutschland, Europa ein Topthema war.

Die Not war nicht zu übersehen: Es war nun einmal das Jahr, in dem allein an einem Tag im Oktober Hunderte Menschen im Mittelmeer ertranken, als sie versuchten, mit dem Boot von Afrika nach Europa überzusetzen. Es war das Jahr, in dem die EU das Programm Eurosur auflegte, um die Außengrenzen ihres Kontinents zu überwachen. Und es war das Jahr, in dem die Katholiken einen südamerikanischen Jesuiten als Papst bekamen, der als erste Amtshandlung nach Lampedusa reiste, um die Flüchtlinge zu betrauern, die umgekommen waren. Das Time-Magazin kürte ihn Anfang Dezember zum Mann des Jahres, noch vor dem NSA-Aufklärer Edward Snowden.

Auch wegen jenes Unglücks vor Italien ist der Berliner „O-Platz“ längst zum bundes- und europaweiten Symbol geworden. Hier ist eine Zentrale der internationalen Flüchtlingsproteste entstanden, die seit Frühjahr 2012 auflodern: gegen die Residenzpflicht, gegen Abschiebungen, gegen das Arbeitsverbot, gegen die Zustände in den Lagern.

Ginge es nach aktuellem bundesdeutschem Recht, müssten die Flüchtlinge eigentlich in ihrem Lager in Bayern leben oder in Italien, weil sie dort zuerst den Boden der EU betraten. Genau deswegen betont Innensenator Frank Henkel (CDU), das Land Berlin sei nicht zuständig für die Protestierenden. Für Januar hat er die Räumung des Camps angekündigt. Und genau deswegen nahm keines der städtischen Asylheime die Flüchtlinge auf. Bis sich die Kirche erbarmte.

Jürgen Quandt, der Begründer des Kirchenasyls, ist heute Ende 70, offiziell „Pfarrer im Ruhestand“ und Vorsitzender des Evangelischen Friedhofsverbands. „Ich kann mir eine unpolitische Kirche gar nicht vorstellen“, sagt er in seinem Büro am Rande des Friedhofs am Kreuzberger Südstern. Quandt ist jener Typ Alt-68er, der Anzüge auf unverkrampfte Art und Weise tragen kann. Pfarrer wurde er damals, weil er gesellschaftliche Missstände angehen wollte.

Die Schäfchen

■ In Berlin sind rund 30 Prozent evangelisch oder katholisch. Von 2003 bis 2011 hat die Zahl der Protestanten ab- (von 757.000 auf 648.000), die der Katholiken zugenommen (von 307.000 auf 317.000).

■ Zum Vergleich: In Brandenburg schrumpfte die Zahl der Protestanten von 461.600 auf 427.600, bei den Katholiken waren es 2003 79.600, 2011 nur noch 77.200. (Quelle: Statistisches Landesamt)

■ Die Diakonie hat in Berlin und Brandenburg sechs Heime und 50 Beratungsstellen für Flüchtlinge; rund 20 Prozent des Caritas-Engagements entfällt nach eigenen Angaben auf Flüchtlingsarbeit. (aha)

Genau das tat er 1983. Quandt änderte die gesamte Ausrichtung der Kirchenpolitik, als er eines Abends die Tür seines Gemeindehauses in der Kreuzberger Nostitzstraße öffnete und über Wochen erst zwei, dann drei libanesische Familien auf Matratzen in den Büros beherbergte. Mit dieser Aktion, dem Beginn des Kirchenasyls, dämmerte den Kirchen, dass es nicht reicht, das Evangelium zu predigen.

Quandt definiert „Kirchenasyl“ schon lange weiter als einige seiner Kollegen. In „klassischen“ Fällen wird die Kirche buchstäblich zum illegalen Schutzraum für Menschen, die abgeschoben werden sollen. Das passiert jedoch nur noch selten, weil es mittlerweile die Härtefallkommission gibt – noch so eine Errungenschaft, die sich die Kirchen auf ihre Fahne schreiben. Von diesen klassischen Fällen gibt es in Berlin derzeit keinen. Für Quandt jedoch gehören auch Flüchtlinge dazu, die in der Obhut einer Kirchengemeinde leben, weil sie traumatisiert sind oder Folteropfer, nicht unbedingt ohne Papiere. Auf den weitläufigen Friedhöfen mit ihren Gebäuden bringt er dann schon mal jemanden unter, der konkrete Hilfe oder Fürsorge braucht.

Dass die Kirchen so präsent sind, schätzt Martina Mauer vom Berliner Flüchtlingsrat sehr. „Wir haben alle ein gemeinsames Ziel“, sagt sie. „Nur die Wege sind unterschiedlich. Die Kirchen formulieren vieles vorsichtiger als wir.“ Mauer findet, eine Organisation mit so vielen Mitgliedern – immerhin 30 Prozent der Berliner zahlen Kirchensteuer – sei geradezu verpflichtet, sich zu dem Thema zu äußern. Kirche als gesellschaftlicher Akteur habe eben eine ganz andere Signalwirkung „als manche antirassistische linke Basisgruppe“ – von denen am Oranienplatz ja auch viele aktiv sind. Und außerdem: „Wenn man wie die Kirche all diese humanitären Leistungen erbringt, dann kann man von der Politik auch etwas einfordern.“

Nur in einem Punkt geht die Meinung immer wieder auseinander, auch innerhalb der Kirchen. Es ist die strategische Frage nach Realpolitik und Visionen: „Ich halte die Forderung nach einem Abschiebestopp grundsätzlich für richtig, für nachvollziehbar – aber für unrealistisch“, formuliert es Kirchenasylmann Fricke etwa. „Aber die Frage ist doch: Wie glaubwürdig sind wir, wenn wir das fordern? Ich konzentriere mich gern auf Dinge, die realistisch sind.“

Aber allen ist klar: Ohne Glaubwürdigkeit verspielt man seine Chancen nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch bei der Basis. Und die ist regelrecht aufgewacht. Fricke erzählt: „Früher hieß es: Müssen wir überhaupt helfen? Seit ein, zwei Jahren fragen die Leute: Wie können wir helfen? Die kritischen Fragen sind einem Mitmachenwollen gewichen.“ So organisierten etwa in Pankow und Steglitz Kirchenmitglieder Willkommensgruppen, um Flüchtlinge in neuen Heimen zu begrüßen.

Caritas und Diakonia eben: Nächstenliebe, Dienst am Menschen. Auf die Kirchen scheint Verlass zu sein. Auch der von der Caritas organisierte runde Tisch hat schon was bewirkt, die Fronten weichen auf: Zwar verweigerte Innenminister Henkel sein Kommen, aber die SPD-Integrationssenatorin Dilek Kolat verkündete am gestrigen Freitag auf einmal, sie werde an künftigen Runden „natürlich“ teilnehmen.

„Gerade jetzt erkennen Politiker, wie wichtig es ist, eine Institution wie die Kirche zu haben“, sagt Bischof Dröge mit ein wenig Genugtuung. Und letztlich ist es auch ziemlich bequem: Eben erst hat Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) die evangelische Kirche aufgefordert, sich doch bitte regelmäßig einzumischen – sie sei schließlich „eine bedeutende moralische Instanz im Lande“. Man könnte das auch als Hilferuf der Politik lesen.

Wer in dieser Situation die Legitimation der Kirchen anzweifelt, für den zitiert Ulrike Kostka gern einen Theologen aus dem Mittelalter: „Petrus Abaelard hat mal gesagt: Eine Stadt wird durch Barmherzigkeit zusammengehalten.“ Es klingt auch ein bisschen wie eine Aufforderung an die Politik. An jene Koalition, in der Christdemokraten mitregieren. Ausgerechnet.