: Keine Frage des Geschlechts
LEBEN Wohnungslosigkeit wird noch immer als Männerphänomen wahrgenommen. Für betroffene Frauen gibt es nur wenige Anlaufstationen – etwa das neue Obdachlosenwohnheim in Neukölln und die Notübernachtung in Mitte. Ein Besuch
■ Als wohnungslos gelten Menschen, die von Behörden in Übergangswohnheimen, Pensionen oder ähnlichem untergebracht sind. Laut Senatsverwaltung für Soziales sind das zur Zeit etwa 11.000 Menschen. Die Zahl der Obdachlosen, also der Menschen, die buchstäblich auf der Straße leben, wird offiziell nicht erhoben. Schätzungen zufolge sind es in Berlin zwischen 600 und 1.300 Menschen, rund 20 Prozent davon Frauen.
■ Die Übernachtungsangebote für Obdachlose reichen zunehmend weniger aus. Im vorigen Winter gab es 433 Schlafplätze in Notunterkünften, die Einrichtungen nahmen im Schnitt jedoch 470 Menschen pro Nacht auf. Auch in dieser Wintersaison zeichnet sich bereits ab, dass die Plätze nicht ausreichen. Laut Gebewo waren sie bereits im November „ausgebucht“.
■ Sozialsenator Mario Czaja (CDU) kündigte daher im November an, die Zahl der finanzierten Plätze auf 500 anzuheben. Pro Person und Übernachtung erstattet die Finanzverwaltung den zuständigen Bezirken – und diese wiederum den Trägern der Kältehilfe – rund 15 Euro.
■ Die Berliner Kältehilfe ist ein 1989 gegründeter Zusammenschluss von Kirchengemeinden, Verbänden und Vereinen mit diversen Angeboten für Obdachlose. In der Wintersaison von 1. November bis Ende März öffnen sie Notübernachtungen, Wärmestuben und Nachtcafés. Außerdem fahren drei Kältebusse durch die Stadt, um Hilfsbedürftige zu den Notunterkünften zu bringen. Beim Kältehilfetelefon (030/810560425) können BürgerInnen der Kälte ausgesetzte Personen melden, damit ihnen geholfen wird. (taz)
VON GESA STEEGER
Svetlana Nowaks* bisheriges Leben liegt ordentlich verpackt auf einem hellen Holzschrank. Nur das Nötigste hat sie aus den beiden braunen Umzugskisten genommen und im Raum verteilt: den kleinen Fernseher, ein paar Kleidungsstücke, einen bunten Haufen Kinderspielzeug. Neben dem Bett steht ein kleiner Nachttisch, darauf ein Zierdeckchen mit Tannenzweigmotiv.
Nowak, eine stille Frau, die für ihre 33 Jahre sehr müde wirkt, lässt sich auf die Bettkante sinken und beginnt leise zu erzählen: von ihrem Exfreund, der Trennung und der gemeinsamen Wohnung, die plötzlich zu teuer wurde. Von Mietschulden, vom Jobcenter. Von ihrer Sachbearbeiterin, die ihr Druck machte, schnell etwas Neues zu finden. Von der Überforderung, der Verzweiflung und dem Tag der Zwangsräumung. Es sei alles so schnell gegangen, sagt Nowak, als könne sie noch immer nicht glauben, was sie erlebt hat. „Raus aus der Wohnung, rein ins Obdachlosenheim. Fertig.“ Sie wirkt dabei wie jemand, der versucht, zu verstehen, an welchem Punkt das Leben so aus den Fugen geriet.
Ein Leben ohne Sicherheit, ohne soziales Netz, ohne Basis: Für viele Frauen in Berlin ist das Alltag. Wurde Wohnungs- und Obdachlosigkeit früher vor allem als ein Männerproblem wahrgenommen, zeigen neue Studien, dass der Anteil der Frauen steigt. Die Gebewo Soziale Dienste Berlin, die die Berliner Kältehilfe koordiniert (siehe Kasten), schätzt, dass rund 1.300 Obdachlose in Berlin auf der Straße leben; davon sind etwa 20 Prozent Frauen. Wie viele es genau sind, weiß niemand. Die Einführung einer Wohnungsnotfallstatistik lehnt die Bundesregierung bislang mit Verweis auf den erheblichen finanziellen und bürokratischen Aufwand ab. Auch die Berliner Senatsverwaltung für Soziales zählt nur die registrierten Wohnungslosen, die von den Bezirken in Heimen, Pensionen oder andernorts untergebracht werden: zurzeit sind das gut 11.000 Menschen in Berlin.
Ein vierstöckiger Plattenbau in Neukölln, eingeklemmt zwischen Bahnstrecke und Parkplätzen. Auf dem Briefkasten ein Schild: Obdachlosenwohnheim für Frauen und Kinder VITA domus-Rixdorf. Wer den Pförtner passiert, gelangt in ein gräuliches Treppenhaus, das nach kaltem Rauch und Linoleum riecht. Im Erdgeschoss eine Fahrradwerkstatt, ein Abstelllager, ein kleiner Aufenthaltsraum mit Spielecke. Seit Ende September bewohnt Svetlana Nowak mit ihrer zweijährigen Tochter ein kleines Zimmer im vierten Stock. Sie erwartet ihr zweites Kind.
Wie viele Wohnungen sie in den vergangenen Monaten besichtigt hat, weiß Nowak nicht mehr. Eine schnelle Lösung ist nicht absehbar. Alleinerziehend, mit bald zwei Kindern, wohnhaft im Obdachlosenheim, „das kommt nirgendwo gut an“. Einmal hätte es fast geklappt. Eine Neuköllner Wohnungsgenossenschaft hatte Verständnis für ihre Situation. Doch das Jobcenter machte einen Strich durch die Rechnung: Der Genossenschaftsanteil sei zu hoch. 375 Euro Warmmiete hätte die Wohnung gekostet. Svetlana Nowaks Unterbringung im Obdachlosenheim kostet 42 Euro – pro Tag.
Susanne Hirse, Sozialpädagogin und Leiterin von Vita domus-Rixdorf, schüttelt den Kopf, wenn sie solche Geschichten hört. Es kämen jetzt immer häufiger Frauen, die einfach ihre Miete nicht mehr zahlen könnten, erzählt sie. Der angespannte Berliner Wohnungsmarkt und die mangelhafte Beratung in den Jobcentern seien schuld an dieser Entwicklung. „Hätten wir mehr bezahlbaren Wohnraum, mehr Beratung, dann wären viele unserer Frauen gar nicht hier.“
33 Frauen und 10 Kinder leben seit Anfang September in der Unterkunft. „Unsere Bewohnerinnen sind zwischen 18 und 75 Jahre alt“, erzählt Hirse. „Wir haben hier Akademikerinnen, die schon mehrere Bücher geschrieben haben, aber auch Frauen, die seit zehn Jahren immer wieder auf der Straße wohnen.“ Viele der Frauen haben massive Gewalterfahrungen hinter sich, kämpfen mit Suchterkrankungen oder psychischen Problemen. „In jedem dieser Leben“, sagt Hirse, „ist irgendwann etwas zerbrochen.“
Susanne Hirse unterstützt, wo sie kann: hilft bei der Suche nach einer neuen Wohnung, vermittelt die Frauen in betreute Wohnprojekte oder berät bei Problemen mit den Ämtern. Manche der Frauen wohnen nur vier Wochen im Heim, andere über Monate. Um einen Platz in dem Wohnheim zu bekommen, müssen die Frauen beim zuständigen Bezirksamt nachweisen, dass sie wohnungslos sind, und eine Kostenübernahme vom Jobcenter vorlegen. Solange das Jobcenter die Unterkunft zahlt, können die Frauen bleiben. Bald sollen auch die unteren beiden Stockwerke saniert und bezugsfertig werden. „Ich bekomme jeden Tag mindestens zwei Anfragen“, sagt Hirse. Die meisten muss sie aus Platzmangel ablehnen.
15 Anlaufstellen, deren Angebot sich ausschließlich an wohnungslose Frauen richtet, gibt es in Berlin: 7 Frauenobdachlosenheime, 5 Wohnprojekte und 3 Notunterkünfte, von denen nur eine ganzjährig geöffnet ist. Für so eine riesige Stadt wie Berlin sei das definitiv zu wenig, meint Hirse. „Die Nachfrage sprengt das Angebot bei Weitem.“ Wohnungslose Frauen hätten keine Lobby, sagt die Sozialpädagogin wütend. „Dafür interessiert sich keiner, und da wird auch nichts gemacht.“
Die Strapazen haben Spuren hinterlassen
Irene Schmitt* sitzt auf einem der hellen Holzstühle im Aufenthaltsraum der Frauennotübernachtung Tieckstraße in Mitte, und zieht kräftig an ihrer Filterzigarette. Neben ihr steht ein plärrender Fernseher. Ihr gegenüber ein schwarzes Sofa, auf dem eine dünne junge Frau hockt, auch sie zieht an einer Zigarette. Schmitt hat Glück gehabt. Wenigstens heute. In dieser Nacht wird die 45-Jährige ein warmes Bett haben und in Sicherheit schlafen können, sie wird essen, rauchen und vielleicht ihre Wäsche waschen. Seit Juli ist die dunkelhaarige Frau, bei der die Strapazen der letzten Monate physisch und psychisch sichtlich Spuren hinterlassen haben, wohnungslos. „Mein Mann hat mich geschlagen“, sagt sie entkräftet, „ich musste da weg.“ Vorübergehend zog sie zu einem Freund. Als der ebenfalls handgreiflich wurde, packte sie wieder ihre Sachen und zog weiter. Seitdem schläft sie mal hier, mal dort.
Auch Martina Krägeloh, Sozialpädagogin und eine von zwei Leiterinnen der Frauennotübernachtung Tieckstraße, berichtet, dass viele wohnungslose Frauen Gewalt ausgesetzt waren. Sie würden oft nicht öffentlich sichtbar auf der Straße leben, sondern unterschlüpfen. Bei Verwandten, bei Freunden, manchmal auch bei Fremden. Häufig komme es dann zu Übergriffen. Wohnen gegen Sex, auch wenn die Frau das ablehnt.
Gewalt, Unsicherheit, existenzielle Not. Trotz solcher extremen Situationen wenden sich viele wohnungslose Frauen nicht an offizielle Stellen. Aus Scham, weil sie psychisch instabil oder schlecht informiert sind. Doch wer es nicht ins Amt schafft, schafft es nicht ins System. Um einen Platz im Obdachlosenheim zu bekommen, müssen die Frauen Nachweise erbringen. „So was kostet Zeit und Kraft“, sagt Krägeloh. „Diejenigen, die es nicht schaffen, landen irgendwann bei uns.“
Neun Frauen können in der Notübernachtung unterkommen, gratis, ohne Nachweise oder Anmeldung. Fünf kleine Zimmer, ein Aufenthaltsraum, zwei kleine Badezimmer. Die Wände sind bunt gestrichen, der blaue Linoleumboden ist neu. Wer will, kann sich am Kühlschrank bedienen. Einmal in der Woche bringt die Berliner Tafel Lebensmittel vorbei. Abends ab 19 Uhr ist Einlass, dann wird für die Frauen gekocht. Morgens gibt es Frühstück, danach die Möglichkeit einer Sozialberatung. Krägeloh und ihre Kollegin helfen bei Anträgen, begleiten bei Ämterbesuchen oder vermitteln die Frauen in andere Wohnprojekte. Kurz nach neun müssen alle draußen sein.
Endlich Privatsphäre, das ist Irene Schmitts großer Traum: „Ich will einfach meine Tür abschließen können und Ruhe haben.“ Sie hat vier Kinder aus zwei Ehen, eines ist erwachsen, drei leben beim Vater. Kontakt zu ihnen hat sich nicht – aus Scham. „Auch wenn ich nie viel hatte. Ich habe immer darauf geachtet, dass es den Kindern gut geht.“ Die Notunterkunft sei ein guter Punkt, um Kräfte für den weiteren Weg zu sammeln, findet sie, auch wenn es ihr anfangs schwerfiel, fremde Menschen um Hilfe zu bitten. „Viele wohnungslose Frauen schämen sich ihrer Situation, ihres vermeintlichen Versagens“, hat Krägeloh festgestellt. Sie spricht vom traditionellen Modell: Der Mann kümmert sich um das Geld, die Frau um Familie und Haushalt. „Wenn diese Lebensplanung scheitert, fühlen sich diese Frauen verantwortlich – selbst dann, wenn der Mann gewalttätig wurde.“
Wenn Svetlana Nowak Freunde treffen will, verabredet sie sich manchmal in einem Café. Ihre engsten Freunde wissen über ihre Situation zwar Bescheid, „aber ich könnte es nicht ertragen, wenn sie sehen würden, wo ich wohne“. Sie glaubt, „das würden die nicht verstehen“. Ab und zu trinkt sie mit ihrer Zimmernachbarin einen Kaffee im Aufenthaltsraum. „Wir sitzen im selben Boot: Wir sind das letzte Ende der Gesellschaft.“
*Name geändert