Schiffbruch mit Tiger

SOZIALES Immer mehr Frauen sind wohnungslos, auch zugezogene EU-Bürger landen häufig auf der Straße. Die Situation in den Notunterkünften verschärft sich

VON SUSANNE MEMARNIA

In der kollektiven Vorstellung waren Obdachlose lange Zeit bärtige Männer. Rotnasige Trinker, die, mit zerschlissenen Wollhandschuhen einen Flachmann umklammernd, auf der Parkbank liegen. Obdachlose stinken, dachten wir lange, sie sind laut und verrückt – auf jeden Fall anders als wir. Dieses Bild stimmte zwar nie so ganz. Doch in den letzten Jahren hat sich das Gesicht der Obdachlosigkeit besonders stark verändert: Es ist weiblich geworden – und spricht oft nur gebrochen Deutsch.

Rund 20 Prozent der mehr als 11.000 Wohnungslosen in Berlin sind Frauen, Tendenz steigend. Die Gründe sind vielfältig. Frauen haben die schlechteren Jobs, arbeiten öfter in Teilzeit, machen die Familienarbeit – und wenn der Mann sie verlässt, können sie die Miete nicht mehr zahlen. Oder sie entfliehen der (männlichen) häuslichen Gewalt. Viele landen auch auf der Straße, weil sie psychisch krank sind. Weibliche Obdachlosigkeit hat andere Gründe als männliche, die oft dem klassischen Dreischritt – Arbeit weg, Frau weg, Wohnung weg – entspricht.

Die Träger der Wohnungsnotfallhilfe richten sich auf die neue Zielgruppe und ihre Bedürfnisse ein: Immer mehr Angebote richten sich speziell an Frauen. Das ist auch dringend nötig, zumal Obdachlosigkeit für Frauen noch gefährlicher sein kann als für Männer: Vorigen Winter wurde eine Frau in einem von Obdachlosen genutzten Haus in Moabit von zwei Männern vergewaltigt und beinahe getötet. Frauen, kommt in die Notübernachtungen, hieß es da. Doch weiterhin gibt es nicht genug Übernachtungsmöglichkeiten, schon im November schlugen die Einrichtungen Alarm: Sie müssten jede zweite Anfrage wegen Platzmangel ablehnen.

Sie schlafen, wo es geht

Auch bei den Männern ist es eng: Alle Notunterkünfte waren vorigen Winter permanent überbelegt. Auch weil immer mehr EU-Bürger, vor allem aus Mittel- und Osteuropa, aber zunehmend auch aus den südeuropäischen Krisenstaaten, Zuflucht suchen. Andere Hilfen haben sie nicht zu erwarten, wenn sie bei der Job- und Wohnungssuche scheitern – Anspruch auf Hartz IV oder einen vom Jobcenter bezahlten Platz im Wohnheim haben sie nicht. Manche suchen sich auf eigene Faust einen Unterschlupf, wie die rund 20 Bulgaren, die vorige Woche die Eisfabrik an der Spree räumen mussten. Andere schlafen, solange es geht, in Zelten oder in mitgebrachten Autos. Auch die von Flüchtlingen besetzte Schule ist eine Anlaufstelle für Obdachlose geworden.

Was die neuen Obdachlosen auch kennzeichnet: Sie werden immer kränker. Offene Wunden und verschleppte Krankheiten gibt es in jüngster Zeit häufiger, ebenso meldepflichtige Krankheiten wie Tuberkulose und Syphilis. Hauptgrund ist, dass eine Krankenversicherung fehlt. Das betrifft Deutsche, die theoretisch immerhin ein Recht auf Krankenversicherung haben – vor allem aber die ausländischen Obdachlosen. Ohne Krankenversicherung werden sie nur in akuten Notfällen versorgt – oder sie gehen zu speziellen Einrichtungen wie dem Gesundheitszentrum für Obdachlose von Jenny De la Torre. Die Berliner Stadtmission hat den zunehmenden Bedarf an ärztlicher Versorgung erkannt und kürzlich eine ganzjährig geöffnete Ambulanz für Obdachlose nahe dem Hauptbahnhof eröffnet. Außerdem schickt sie in diesem Winter zum ersten Mal einen Krankenpfleger mit ihrem Wärmebus auf Tour.

Die Politik reagiert auf die Entwicklung wie immer langsam – und ungenügend. Im November verkündete Sozialsenator Mario Czaja (CDU), die Zahl der finanzierten Übernachtungsplätze werde auf 500 erhöht. Schließlich gehe es darum, Obdachlosigkeit möglichst zu verhindern, erklärte seine Sprecherin Regina Kneiding. „Das ist vorrangig keine Frage des Geldes, sondern des Platzes, den man schaffen muss.“ Dass 500 Plätze reichen werden, bezweifeln manche allerdings schon jetzt.

Aber so genau will man es vielleicht gar nicht wissen: Den Antrag der Grünen, eine Wohnungslosenstatistik einzuführen, damit erst einmal der genaue Bedarf für Obdachlose ermittelt werden kann, lehnte das Abgeordnetenhaus im November ab.

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