: Die Dame auf der Stange
MUSIKTHEATER Sopran und Tenor haben sich verzockt. Mit „Schwindel. Über das Verlieren“ versucht die Neuköllner Oper, der Spur des Geldes zu folgen
Der Oper sind die großen, tragischen Stoffe auf den Leib geschneidert. Wo fänden sie adäquateren Ausdruck als im Gesang, all die fehlgerichteten Leidenschaften und irregelaufenen Schicksale der Menschenwelt? Die Oper zehrt vom großen Gefühl; je gequälter die Seele, desto ergreifender die Musik.
Früher fanden sich die Vorlagen zuhauf in der Literatur. Für seine Oper „Pique Dame“, die von den Gefahren der Spielsucht handelt, konnte Tschaikowsky etwa auf die Vorarbeit von Alexander Puschkin zurückgreifen. Heute beziehen junge Opernmacher ihr dramatisches Material manchmal aus dem Wirtschaftsteil der Zeitungen, zum Beispiel in der Neuköllner Oper. Inspiriert vom mutmaßlichen Selbstmord des russischen Oligarchen Boris Beresowski sei ihre neue Produktion „Schwindel. Über das Verlieren“, hieß es in der Vorankündigung. Ja, es ist wahrer Opernstoff: das Leben und das Ende eines Mannes, der unermesslichen Reichtum und politischen Einfluss besessen und danach verloren hatte und sich wohl selbst erhängte, als er sich gescheitert sah.
Die junge Regisseurin Julia Lwowski, derzeit noch Studentin an der Hochschule für Musik Hanns Eisler, nimmt das Oligarchenschicksal zum Ausgangspunkt für einen Theaterabend mit Musik und stellt, so viel Oper muss sein, dem männlichen Gescheiterten – dem Tenor Magnús Hallur Jónsson als Beresowski – die Sopranistin Ulrike Schwab als weibliches Pendant zur Seite: die Figur der Amerikanerin Ruth Madoff, Ehefrau des Großzockers Bernard Madoff, die durch die Machenschaften ihres Mannes ihren gesamten Besitz verlor.
Als eine Art rustikaler Zeremonienmeister scharwenzelt dazwischen der Schauspieler Günter Schanzmann über die Szene, mal im Harlekinskostüm, mal im Rokokokleid mit Schachbrettmuster, das Treiben der Sänger in volkstümlichen Worten kommentierend. Und während die Singenden sich vom Singen erholen, zitiert Schanzmann von hinter der Bühne Texte, unter anderem aus „Homo ludens“ von Johan Huizinga.
Musikalisch begleitet werden sie von der Musikerin Ni Fan, ebenfalls Studentin der „Hans Eisler“, die verschiedene Instrumente hinter der Bühne spielt und für Komposition und Arrangement verantwortlich ist.
Eine Leiter für den Aufstieg
Ein schönes, schlicht funktionales Bühnenbild hat Yassu Yabara gebaut, einen viereckigen, raumhohen Käfig, der ebenso eine Leiter für den Aufstieg hat wie einen Strick zur Strangulation und Gittertüren für die Bestrafung. Und eine Menge Querstreben, auf denen die Sopranistin Ulrike Schwab ausführlich balancieren darf. Beide Sänger müssen körperlich Erhebliches leisten, sich auf den Boden werfen, humpeln, springen, tanzen, klettern, dass es nur so eine Art hat. Daneben auch noch zu singen grenzt an Schwerstarbeit.
Ulrike Schwab mit ihrer großen physischen und stimmlichen Präsenz ist zweifellos die herausragende Erscheinung des Abends. Außerdem scheint die Sopranistin, deren Auftritt ganz oben unter der Saaldecke beginnt, völlig schwindelfrei zu sein, da sie offenbar kein Problem damit hat, in drei Metern Höhe auf Eisenstangen zu balancieren und dabei auch noch zu singen.
Doch anderes in der Umsetzung des Konzepts funktioniert weniger gut. Was für Gesangsstücke – „Arien“ kann man sie nicht nennen, dafür sind sie zu heftig gekürzt worden – gesungen werden, darüber geht das Programmheft sehr allgemein hinweg. „Moralische Kantaten“ von Telemann werden erwähnt, sonst ist von „Grétry, Mussorgsky u. a.“ die Rede, so als sei die Musik im Musiktheater reine Nebensache. Es ist auch letztlich egal, ob die Texte vom Verzocken, Verspielthaben oder von was auch immer handeln, denn man versteht eh nichts, und das ist ein großes Manko in diesem Projekt. Gesungen wird Französisch oder Russisch, und erst am Schluss, bei „Money makes the world go around“, ist man inhaltlich voll dabei.
Kann das Streben nach einem konzeptuell ambitionierten, modernen Musiktheater auf Dauer die Liebe zur Oper ersetzen, fragt man sich an diesem Abend dann doch irgendwann? Denn den Nachweis, dass beides zusammengeht, hat „Schwindel“ leider nicht erbracht, auch wenn das Produktionsteam schon mal den Griff zum großen Opernstoff gewagt hat. KATHARINA GRANZIN
■ Nächste Vorstellungen am 12. und vom 17. bis 19. Januar, 20 Uhr