: „Man hört so viele Stücke, die einen langweilen“
DIE KOMPONISTIN Als Jugendliche flüchtete Ursula Mamlok vor den Nazis aus Berlin, in den USA wurde sie mit ihrer kargen Zwölftonmusik berühmt. Nach dem Tod ihres Mannes kehrte Mamlok im Alter von 83 Jahren nach Berlin zurück. Den Flügel, den sie seit über 50 Jahren besitzt, spielt sie seitdem im Clubraum ihres Seniorenstifts
■ Die Frau: Sie wurde 1923 in Berlin geboren, wuchs als Ursula Meyer-Lewy in Charlottenburg auf, bis sie wegen ihrer jüdischen Abstammung im Februar 1939 mit ihrer Familie vor den Nazis floh. Sie lebte vor allem in New York, wo sie Komposition studierte, 1947 heiratete sie Dwight Mamlok. Im Jahr 2006 kehrte sie nach Berlin zurück.
■ Die Arbeit: Ihre Stücke sind bekannt für ihren kristallklaren Ton, ihre Arbeit wurde in den USA vielfach ausgezeichnet. Ursula Mamlok unterrichtete jahrzehntelang als Professorin für Komposition, etwa an der Manhattan School of Music. www.ursulamamlok.com
■ Der Film: Der Dokumentarfilm „Ursula Mamlok. Movements“ von Anne Berrini lief zwar noch nicht im Kino, Ausschnitte gibt es aber hier: http://vimeo.com/anneberrini (aha)
INTERVIEW ANNE HAEMING FOTOS WOLFGANG BORRS
taz: Frau Mamlok, die Lampe über Ihrem Klavier ist an. Haben Sie heute komponiert?
Ursula Mamlok: Nein. Aber gestern und vorgestern.
Neben der Tastatur liegt ein ganzes Bündel Bleistifte.
Ja, ich muss mit Bleistift schreiben, weil ich so viel radiere. Ich wünsche mir einen ewig spitzen Bleistift, ich spitze nicht so gerne.
Und an was sitzen Sie gerade?
Ich komponiere gerade ein Stück für Klavier und Bratsche für Leute in New York. Eine Auftragsarbeit. Bevor ich im Herbst nach New York fuhr, hatten sie gesagt: Wir planen ein großes Konzert mit vielen deiner Werke, wenn du kommst. Du musst dafür unbedingt etwas Neues komponieren. Ich saß etwa vier Wochen an dem ersten Teil, ich habe es nicht ganz geschafft, aber ein Sample konnten sie zu Gehör bringen.
Und, hat’s Ihnen gefallen?
Ja, es war sehr schön. Dieser Moment ist immer aufregend. Und es klingt jedes Mal anders.
Wie oft sitzen Sie im Publikum und denken: Na, so habe ich das aber nicht gemeint?
Kommt vor. Kann ich nichts machen. Ich denke dann: Ich hätte vorher mehr mit dem Musiker arbeiten müssen. Der darf es dann eben nicht mehr spielen.
Was fehlt dem Stück noch?
Das Stück wird dreisätzig, jetzt muss ich noch den letzten Satz schreiben. Der erste hat ganz wenig Klavier, der zweite ist schneller und für beide Instrumente. Der dritte ist am schwierigsten, because er darf nicht zu schnell sein und muss eine Verbindung zu den anderen herstellen. Und ich brauche noch sehr viel. Denn ein schnelles Stück hat ja viel mehr Noten als ein langsames.
Haben Sie die anderen beiden Sätze im Kopf?
Ich habe das sogar schon als CD hier. Ich höre mir das immer vor dem Komponieren an. Manchmal spiele ich mir auch andere Sachen vor, die ich schon geschrieben habe. Auch wenn man manchmal denkt: Man kann es gar nicht mehr, das Komponieren. Ich kämpfe schon immer so.
Was inspiriert Sie denn?
Also keine Naturbegebenheiten oder so etwas. Bei mir sind es Stimmungen. Lebhaft, bedrückt, übermütig, komisch, all das kommt in meinen Stücken vor. Kontrastierende Stimmungen sind mir am liebsten. Damit es nicht langweilig wird, das ist die Hauptsache.
Langweilig?
Man hört so viele Stücke, auch neue, die einen langweilen. Und dann muss man erst analysieren, warum das so ist, ob es an mir liegt. Früher habe ich das häufig mit Kollegen besprochen, die das auch gehört haben. Seit ich hier bin, nicht mehr. Ich habe eine gewisse Sicherheit über das, was ich mache, ich brauche das jetzt nicht mehr so sehr.
Sie sind mit Ihrer Familie 1939 aus Berlin geflohen, Sie lebten Ihr Leben lang in New York und kamen erst im Juni 2006 wieder zurück. Wieso genau dann?
Das hatte praktische Gründe. Mein Mann starb im Herbst 2005. Wir hatten eine große Wohnung. Es ist schwer, wenn man alt ist, alleine in New York zu leben. Jemand erzählte von diesem Seniorenstift hier, es sei ein guter Ort, wenn man alleine ist.
Wie lange haben Sie über diesen Schritt nachgedacht?
Nicht lange. Ich hatte keine Zeit, mit dem Tod meines Mannes habe ich gar nicht gerechnet. Meine Managerin hat gleich Konzerte organisiert, sodass ich immer zu tun hatte. Entweder ich muss komponieren oder irgendwo hin reisen. Diese Art Leben mag ich, ich bin gerne beschäftigt.
Ich habe gehört, Sie wussten anfangs nicht, ob Sie bleiben.
Das stimmt. Ich wollte erst ein paar Monate probewohnen. Aber nach drei Tagen habe ich gewusst, dass ich bleibe. Meinen Flügel habe ich auch mitgebracht, ich habe ihn schon seit 1960. Der steht jetzt im Clubraum hier im Haus, abends ist da meistens keiner, dann gehe ich runter und spiele. Zum Komponieren arbeite ich aber an meinem Klavier hier oben. Die Wohnung nebenan ist gerade leer geworden. Hoffentlich bekomme ich einen Nachbarn, den nicht stört, wenn ich spiele. Wenn er nicht so gut hören würde, wäre das umso besser für uns beide.
Hatten Sie Angst, wie es sein würde, wieder in Berlin zu sein?
Ja, das war schon so. Ich bin ja hier aufgewachsen. Aber es ist ein ganz anderes Berlin. Nur die Busse erinnern mich an meine Kindheit. Ich habe es fast nicht wiedererkannt. Es sah bunter aus, ich habe mich sehr darüber gefreut, dass so viele Häuser bunt angemalt sind. Das Haus in der Schillerstraße, in dem ich aufgewachsen bin, ist genau wie es war – nur orange. Das war früher zugewachsen mit Blättern. Ich habe mich besonders über die Türe gewundert: Die, die in den Garten ging, ist genau dieselbe wie damals, das habe ich sofort gemerkt. Erstaunlich.
Das ist bei der Deutschen Oper. Waren Sie damals häufig dort?
Nein, ich war meistens in der Staatsoper oder in der Philharmonie. Ich bin als Kind auch oft alleine in Konzerte, das war sehr wichtig für mich.
Seit Ende 1938 galt in Berlin der „Judenbann“ für Plätze, Gebäude, kulturelle Einrichtungen. Hatten Sie keine Angst?
Ich war ein mutiger Mensch. Ich bin bis kurz vor der Reichspogromnacht noch in Konzerte gegangen – auch als es für Juden schon bedrohlich war. Damals konnte ich auch nicht mehr zur Schule gehen, da waren wir eines Tages rausgeworfen worden. Uns wurde gesagt, wir müssten nun in die Berufsschule. So ein Unsinn. Da waren wir aber auch nur kurze Zeit, dann kam wieder einer von den Nazis und sagte, hier dürfen keine Juden mehr unterrichtet werden. Und dann war’s zu Ende mit der Schule für mich. Aber ich war froh darüber. So konnte ich wenigstens komponieren und Klavier üben, statt diesen ganzen Quatsch in der Schule zu lernen.
Ein Onkel organisierte vom Ausland aus Papiere für Ihre Ausreise nach Ecuador. Woran erinnern Sie sich?
Das Schiff fuhr von Hamburg über Holland, viele Wochen war es eiskalt – und plötzlich schönes Wetter. Es schaukelte sehr und ich habe immer Klavier gespielt, dadurch bin ich sehr gut geworden. Auf den Azoren konnte man an Land gehen und das war das erste Mal, dass man Leute traf, die einem sagten, wie schrecklich der Hitler ist. Das war ein Erlebnis. In Deutschland ging das natürlich nicht, wer das aussprach, begab sich in größte Gefahr. Am Panamakanal konnte das Schiff nicht weiter, wir mussten umsteigen in ein kleines, gefährlich aussehendes Boot.
Sie waren damals 16. Es war klar, dass Sie Ihr Zuhause nicht mehr sehen würden. Was haben Sie mitgenommen?
Ja, wir wussten, wir kommen nie wieder. Ich habe angeordnet, dass mein Klavier mitkommt. Zum Glück! Ohne wäre es in Südamerika schrecklich geworden. Denn die Instrumente, die es dort gab, waren nur solche Player-Klaviere, die von alleine spielten. So was hätte ich nie haben wollen. Vor unserer Flucht haben wir das Klavier noch tropenfest gemacht.
Aha?
Ein Mann kam zu uns, der etwas auf die Filze gespritzt hat, damit die Insekten das nicht gleich wegfressen. In den Zimmern dort waren sehr viele Insekten, das war gar nicht auszuhalten. Einer unserer Nachbarn schlief mit einem aufgeklappten Regenschirm, weil die ganze Zeit Holzspäne von der Decke fielen, die die Insekten absägten. Es war sehr, sehr schwer, in Ecuador zu leben. Wenn man aus Berlin kam, wo damals ja noch alles heil war, war das alles ganz furchtbar. Das Essen war schrecklich, Spanisch sprachen wir auch nicht, wir hatten erst ein paar Wochen vorher in Berlin damit angefangen.
Sie waren ja nicht lange dort.
Lange genug! Anderthalb Jahre. Da war jeder Tag zu viel. Mein großes Glück war, dass ein amerikanischer Konsul, der mit meiner Mutter bekannt war, eines Tages kam und sagte: Ich habe eine gute Nachricht, eine Person, die nach USA reisen sollte, ist krank und kann nicht. Deren Papiere kann ich für einen von Ihnen verwenden. Die Verwandten und Bekannten fanden das alle unmöglich. Eine 17-Jährige alleine nach Amerika zu schicken!
Eine Musikschule bot Ihnen ein Stipendium an, für das Sie sich aus Ecuador beworben hatten.
Ja, das galt aber nur für ein Jahr. Das musste ich unbedingt annehmen. Wenn ich das nicht gemacht hätte, säße ich jetzt nicht hier. Da habe ich gesagt: Ich gehe.
Das haben Sie angeordnet?
Ja, das habe ich angeordnet. Damals habe ich noch sehr viel angeordnet für mein eigenes, ganz egoistisches Leben. Ich konnte weder Englisch noch hatte ich Geld. Ein Onkel holte mich vom Schiff ab. Als ich bei ihnen zu Hause war, dachte ich, ich muss irgendwas tun, um sie zu unterhalten. Also spielte ich ihnen etwas vor. Da sagte meine Cousine: „I hate classical!“ Das war das Ende der Freundschaft.
Und wie haben Sie dort gelebt?
Die Schuldirektorin hat irgendwie zwei Gönner organisiert, jeder gab 20 Dollar im Monat. So konnte ich mir ein möbliertes Zimmer in der Bronx bei einer freundlichen Dame mieten, das kostete fünf Dollar. Ich fand dieses selbstständige Leben toll. Damit war es aber wieder vorbei, als meine Eltern nachkamen.
Das war Anfang der 40er Jahre. Sie waren geografisch weit weg von Berlin. Was haben Sie vom Krieg und der Situation dort mitbekommen?
Meine Großeltern waren noch in Berlin. Die kamen nicht mehr raus, wir konnten die Papiere nicht für sie organisieren. Sie waren 60 Jahre alt und fanden, sie seien zu alt, um noch einmal in einem anderen Land neu anzufangen. Das war vor allem für meine Eltern schlimm. Mein Großvater ist letztlich an Zucker gestorben, weil die Nazis nicht erlaubt haben, dass er Medizin bekommt.
Sie haben sich geschrieben?
Ja, mit denen habe ich noch korrespondiert. Dass sie abgeholt worden waren und ins concentration camp mussten, haben wir vom Red Cross erfahren. Die teilten das mit, indem sie schrieben: Ihre Verwandten sind umgezogen. Und nicht: Die sind nach Theresienstadt gekommen. Das war 1942. Wir konnten nichts mehr machen.
New York ist groß, laut, mächtig. Hat das Ihre Musik geprägt?
Es ist egal, wo man lebt. Die Musik, die man zu einer bestimmten Zeit hört, ist wichtig. Insofern bin ich also eher von der Musik geprägt, die ich in New York gehört habe. Es hat sehr lange gedauert, bis ich einen Stil für mich entwickelt hatte, der modern war. Because zuerst war ich nur mit tonaler Musik beschäftigt.
Weil man damit als Kind anfängt. Wieso aber Klavier?
Das stand da. Bei meinen Großeltern. Mein Onkel hat darauf pop music gespielt, da dachte ich, das kann ich auch. Und habe mich hingesetzt und mit beiden Händen gespielt. Da war ich 5.
Und wann lernten Sie Notenschreiben?
Das kann ich Ihnen sagen: viel zu spät. Eines Tages ging meine Mutter mit mir zu einer Cousine in der Schönhauser Allee. Ernst Lubitsch (Regisseur und Schauspieler; Anm. d. Red.) war ein Verwandter von uns, der hat da gewohnt, als meine Mutter noch klein war. Als wir hinkamen, hatte meine Tante gerade eine Platte aufs Grammofon gelegt. Das war Mozart, „Eine kleine Nachtmusik“. Das hat mir so gut gefallen, da wusste ich: So eine Musik will ich auch schreiben. Anspruchsvoll, ja, aber das war mir ja nicht bewusst.
Man muss vorher wissen, dass man Musik „schreiben“ kann.
Ja, das kam dann mit dem Unterricht. Eine meiner Cousinen war mit einem Sänger von der Staatsoper verheiratet. Als er mitbekam, was ich da alles nach Gehör gespielt habe, sagte er: Das Kind muss Stunden bekommen, so kann man ja nicht komponieren. Fast hätte es nicht geklappt, weil ein Arzt zu meiner Mutter gesagt hat: Das Kind darf keinen Unterricht bekommen, es ist zu lebhaft. So ein Blödsinn! Den ersten Lehrer, den ich hatte, habe ich abgelehnt. Ich hatte dann einen fast 80-jährigen Lehrer, der eigentlich keine Schüler mehr annahm. Ein großartiger Mann.
Und wie kamen Sie von der tonalen Musik weg?
Ich musste mir erst einen Stil aneignen, der zu mir passte. In den 1940er Jahren hörte ich zum ersten Mal Arnold Schönberg und Anton Webern. Webern hat so transparente Musik gemacht, das fand ich schön. Und dann habe ich Lehrer gesucht, die dazu passten. Das war sehr schwer zu entscheiden.
Wieso?
Weil die Persönlichkeiten ja passen müssen, man muss sich vertrauen. Das ist ähnlich wie Heiraten. Ich war da schon in meinen Dreißigern. Aber ich habe Ralph Shapey gefunden, er ist hier in Deutschland nicht so bekannt. Er war der Erste, der dafür gesorgt hat, dass meine Kompositionen vor größerem Publikum aufgeführt wurden.
Wie haben Sie ihn überzeugt?
Ulkigerweise haben mich gerade in diesen Tagen Leute angerufen wegen genau dieses Stücks, mein letztes tonaler Art. Das ist ein Woodwind-Quintett (für Holzbläser; Anm. d. Red.). Eins meiner Lieblingsstücke, obwohl das noch der alte Stil war, aber schon erweiterte tonale Musik, die vorausschickt, was kommen wird.
Und was kam?
Nachdem ich schon große Orchestermusik komponiert hatte und nun diesen neuen Stil probierte, musste ich wieder klein anfangen: Mein erstes war ein Solo-Flötenstück. Anders konnte ich die Sache nicht handeln. Die Harmonien richtig hinzubekommen, war sehr schwer. Von da an komponierte ich nur noch polyfon. Hauptsache war schon damals, eine interessante rhythmische Kombination zu finden, damit es kurzweilig wird.
Ich sehe gerade, auf Ihrem Klavier stehen Noten von Bach.
Ja, das Heft ist schon oft geklebt, meine anderen sehen besser aus. Die Noten sind übrigens noch die, die ich mir als Kind gekauft habe, hier in Berlin.