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Archiv-Artikel

„Das Kind als Schaden ist bedenklich“

ARZTHAFTUNG Die sogenannten Schadensfall Kind-Prozesse sind inzwischen seltener geworden: Wegen verfeinerter Pränataldiagnostik und strengeren Gerichten. Der Hamburger Anwalt Oliver Tolmein über den Kurswechsel in der Justiz

Oliver Tolmein

■ 52, ist Mitbegründer der Hamburger Kanzlei Menschen und Rechte. Er ist spezialisiert auf Medizin- und Behindertenrecht, Straf- und Antidiskriminierungsrecht.

INTERVIEW FRIEDERIKE GRÄFF

taz: Warum haben die Medien das Interesse an den sogenannten Schadensfall-Kind-Prozessen verloren, Herr Tolmein?

Oliver Tolmein: Die Medien stürzen sich auf spektakuläre Fälle und neue Entwicklungen, danach erlahmt das Interesse. Die ethische Debatte, ob ein Kind ein Schaden sein kann, ist geführt. Die deutsche Rechtsprechung hat sich da klar, wenn auch nicht ganz ehrlich, positioniert: demzufolge kann ein Kind kein Schaden sein, aber Eltern können trotzdem einen Schadensersatzanspruch haben, weil ein Kind geboren wurde.

Haben andere Länder das befriedigender gelöst?

Nein. Wir haben hier einen Konflikt: Wenn ich Pränataldiagnostik nutze, gehe ich zum Arzt und erwarte, dass er seine Arbeit ordentlich macht. Wenn er das nicht tut, ist nicht einzusehen, warum er nicht dafür haften soll. Es geht aber nicht um die Bewegungsfähigkeit eines Armes, sondern darum, dass verhindert werden sollte, dass ein Kind mit bestimmten Eigenschaften überhaupt geboren wird. Das als regulierungsfähigen Schaden zu begreifen, ist bedenklich.

Aber gerade das liegt in der Logik von Pränataldiagnostik, die suggeriert, gesunde Kinder zu garantieren.

Genau. Das Problem ist eigentlich der Auftrag an den Arzt, festzustellen, ob ein Kind bestimmte Eigenschaften hat, um dann dessen Geburt gegebenenfalls zu verhindern. Diese Pränataldiagnostik ist legal, aber ethisch sehr problematisch. Die Schadensersatzrechtsprechung verschärft dieses Problem noch: ein Arzt, der Eltern so berät, dass sie ein Kind mit Behinderungen nicht zur Welt bringen, ist auf der sicheren Seite: Wenn kein Kind da ist, kann es auch keinen Schadensersatzanspruch geben.

Sind deshalb die sogenannten Schadensfall Kind-Prozesse selten geworden?

Die Diagnosemöglichkeiten wurden verfeinert, die Ärzte haben gelernt, wie sie beraten müssen – und Paare entscheiden sich meist für einen Schwangerschaftsabbruch. Die Rate der Kinder, etwa mit Trisomie 21, denen es gelingt, dem Netz der Diagnostik zu entkommen, ist geringer. Und wann gibt es einen Prozess? Wenn die Haftpflichtversicherung des Arztes glaubt, dem Haftungsanspruch etwas entgegensetzen zu können.

Wann ist das der Fall?

Wenn die tatsächliche Lage unklar ist oder die rechtlichen Fragen ungeklärt sind. Die wesentlichen rechtlichen Fragen sind inzwischen geklärt. Deswegen sind die außergerichtlichen Einigungen heute einfacher. Allerdings hat es bei den Gerichten einen Kurswechsel gegeben, der es nun erschwert, einen Haftungsanspruch wegen fehlerhafter Pränataldiagnostik durchzusetzen.

Inwiefern?

Heute sagen die Gerichte: Es gibt nur dann einen Schadensersatzanspruch, wenn nach einer erfolgreichen Diagnose ein legaler Schwangerschaftsabbruch hätte durchgeführt werden können. An sich ist das plausibel. Nach einer ordnungsgemäß durchgeführten Diagnose ist es für die Schwangere in der Praxis aber kein Problem, gestützt auf den Paragraphen 218a abzutreiben.

Wie sieht diese Praxis aus?

Sie findet auf jeden Fall einen Arzt, der ihr bescheinigt, dass sonst die psychische Gesundheit der Mutter gefährdet ist, auch wenn es in Wirklichkeit um die Behinderung des Fetus geht, also um eine verdeckte eugenische Indikation. Im Arzthaftungsverfahren allerdings, also wenn hypothetisch im Nachhinein gefragt wird „hätte die Schwangere im Fall einer ordnungsgemäß durchgeführten Diagnose abtreiben dürfen?“, wird der Paragraph 218a deutlich strenger ausgelegt. Davon profitiert dann der Arzt, der den Diagnosefehler gemacht hat: Wäre der für den Fall der positiven Diagnose beabsichtigte Schwangerschaftsabbruch nach Ansicht des Gerichts nicht legal gewesen, haftet er nicht.

Ihre Kanzlei, die oft Behinderte vertritt, hat lange keine sogenannten Schadensfall Kind-Prozesse übernommen. Nun vertreten Sie doch einen solchen Fall – warum?

Wir haben hier Eltern, die sich für ihr Kind sehr engagieren. Und wir haben uns darauf verständigt, dass wir uns auf die handwerklichen Fehler des Arztes konzentrieren und deutlich machen, dass das Kind Teil der Familie ist und nicht etwa eine Belastung.

Warum klagen die Eltern?

Es ist ihnen wichtig, dass festgestellt wird, dass der Arzt nicht das getan hat, was er hätte machen sollen. Außerdem ermöglicht das Geld, das sie bekommen können, ihnen, das Kind besser zu versorgen, beispielsweise mit Hilfen, die über Eingliederungshilfe, Krankenkasse und Pflegeversicherung nicht gewährleistet sind.

Sind die finanziellen Hilfen für Kinder mit Behinderung immer noch unzureichend?

Ja, wobei es da je nach Ursache der Behinderung Unterschiede gibt. Contergan-Geschädigte stehen beispielsweise besser da als Kinder, für deren Schäden kein Arzneimittelunternehmen verantwortlich gemacht werden kann. In der Öffentlichkeit gibt es schnell Stimmen, die die Anspruchshaltung von Eltern, die ein nicht behindertes Kind wollen, kritisieren, dabei wird übersehen, dass die Lage von Familien mit behinderten Kindern nach wie vor ziemlich hart ist.