: Der Kritiker als Statthalter
Kritik der Kritik (1): Was ist eigentlich aus dem einst so überaus hoffnungsfroh propagierten kritischen Bewusstsein geworden? Inzwischen sollten zumindest seine Grenzen klar geworden sein. Auftakt einer Serie über die kulturellen Kritikfähigkeiten
■ Kritikfähigkeit wird heute von jedem Schulkind erwartet. Aber wie steht es denn damit in der Kultur?Ist Kritik auf dem Rückzug, bedrängt durch die Konsumindustrie? Ist sie nötiger denn je? Und wie soll/kann/muss sie heute aussehen? Eine Artikelreihe zum gegenwärtigen Stand des kritischen Handwerks
VON MICHAEL RUTSCHKY
1968 versammelte Peter Hamm die etablierten ebenso wie die aufstrebenden Kräfte in einem Sammelband der neuen, sattgelben Reihe Hanser: „Kritik/ von wem/ für wen/ wie“. Das Establishment vertraten alte Hasen wie Siegfried Melchinger (Theater) und Hans Heinz Stuckenschmidt (Musik); unter den jüngeren Hasen finden sich Wolfram Schütte (Kino) und Hamm selbst, der, mit frisch erworbenem dialektisch-materialistischem Furor, eine Attacke auf ausscheidende Literaturpäpste wie Günter Blöcker und Hans Egon Holthusen reitet – erst Jahre später kehrte Hamm zur Kunstfrömmigkeit zurück, dafür um so gründlicher.
Während Melchinger, Stuckenschmidt und Konsorten aus langer professioneller Erfahrung ihr spezialisiertes Metier zu beschreiben suchen, was der Theater-, der Musikkritiker so treibt oder treiben sollte, wollen die Newcomer, alle um die 30 Jahre alt, im Grunde viel mehr. Walter-Benjamin-Zitate schwirren durch den Raum und sollen immer wieder eins bedeuten: Spezialisierte Kunst-(Literatur-, Theater- , Musik-, Film-)Kritik ist selber falsches Bewusstsein, Ideologie im dialektisch-materialistischen Verstande. Zu retten ist sie nur, wenn sie in Gesellschaftskritik übergeht.
Those were the days, my friend. Die einzige Disziplin, der ein avancierter Intellektueller nachgehen durfte, war die Gesellschaftskritik. Diese Kritik entwarf sich selbst als Hegemonialmacht mit universaler Deutungskompetenz; allüberall, in einer Grußformel, einem Reklameslogan, einem Hollywoodfilm vermochte sie das falsche Bewusstsein, wie diese Gesellschaft es notwendig erzeugt, aufzustöbern und in ein richtiges, das heißt kritisches Bewusstsein zu verwandeln.
Obwohl diese Ideen sich deutlich von der Frankfurter Schule herleiteten, hatten sie sich von einer zentralen These Adornos emanzipiert: dass die ästhetische Praxis selbst die letzte authentische sei, „Der Artist als Statthalter“, ein Essay von 1953. Keineswegs eröffnete die Kunst (Literatur, Musik, Theater) einen privilegierten Zugang zur Wahrheit – den etwa die Kunstkritik zu sichern hätte. Anlässlich der Feierlichkeiten zu Walter Benjamins 100. Geburtstag unterschied Jürgen Habermas 1972 in einem berühmten Vortrag zwischen „bewusstmachender“ und „rettender Kritik“, was viel Aufsehen erregte, aber keine Folgen hatte. Bewusstmachen! lautete der Schlachtruf.
Die Chose erledigte von selbst, insofern der weitere Lauf der Begebenheiten die avancierten Kader unmissverständlich darüber belehrte, dass auch die scharfsinnigste und bestinformierte Kritik kein richtiges Bewusstsein erzeugt. Oder, schlimmer: sie mag zwar ein richtiges, das heißt kritisches Bewusstsein erzeugen – bloß bleibt ganz unklar, wie es dann weitergehen soll. Für die bestgelungene Kritik dieser Form von Gesellschaftskritik halte ich weiterhin Chlodwig Poths Cartoonbücher aus der Zeit, die 1975 mit „Mein progressiver Alltag“ zu erscheinen begannen.
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Auf den Höhen der Theorie veränderte sich die Geschichte wie folgt. Der Meisterdenker Bourdieu demonstrierte, wie alle einheimische Gesellschaftskritik, was die einen an den anderen auszusetzen haben, an dem Spiel um Distinktionsgewinne teilhat, das die kulturelle Form der aktuellen Klassenkämpfe darstellt. Wenn ich diesen Nachbarn für seine rechtsnationalen Neigungen sowie die Vorliebe für spitze Schuhe und den Heulgesang von Jennifer Rush tadelte – unter meinesgleichen, versteht sich –, dann wies ich ihm damit nur seinen sozialen Platz zu, von dem meinen aus. Mit richtigem, das heißt kritischem Bewusstsein hatte das überhaupt nichts zu tun.
So gut wie alles, was Adorno über die Kulturindustrie, über den Kunst- und Musikgeschmack der Massen geschrieben hatte, war damit als wahrhaft kritische Theorie verloren zu geben. Zwar konnte jetzt niemand von mir Begeisterung für Jennifer Rushs Heulgesang, spitze Schuhe und Rechtsnationalismus einfordern. Doch mussten die avancierten Kader, studierten sie Bourdieu, erkennen, dass die Kritik der Gesellschaft, wie sie das betrieben, in dieselbe nur tiefer verstrickte, statt von ihr zu befreien. Wie sich die Frankfurter Schule in einer sozialen Transzendenz wähnte, leitete sich davon her, dass die Nazis sie nach Amerika vertrieben hatten; auf Dauer besaß sie, hoch erfolgreich in der BRD, keine privilegierte Erkenntnisposition. (Aus Jennifer Rush hat David Lodge in seinem Roman „Nice Work“ – 1988 – das Beste gemacht. Ein junger Manager proletarischer Herkunft verliebt sich in eine Literaturdozentin, die mit allen Wassern des Feminismus und Dekonstruktivismus, der „Critical Theory“ gewaschen ist; eines Tages nimmt er sie in seinem Auto mit und hat vergessen, dass beim Starten sogleich aus dem Radio Jennifer Rush erklingt, mit der er die ganze Zeit sein Verliebtsein befeuert hatte …)
Der zweite Meisterdenker, den die avancierten Kader studieren mussten: Niklas Luhmann. Er machte, scharf Ideen ausarbeitend, die Freud 1925 über „Die Verneinung“ formuliert hatte, daraus einen zentralen Mechanismus der gesellschaftlichen Systembildung. Verneinung, Negation (Kritik) erlaubt, adverse Themen und Informationen ins individuelle Bewusstsein respektive die gesellschaftliche Kommunikation aufzunehmen und zu bearbeiten – die endgültige Vernichtung dagegen folgt der berühmten Hamburger Devise: gar nicht erst ignorieren.
Besonders schön lassen sich Luhmanns Aufstellungen am politischen System exemplifizieren. Die Opposition bildet in der modernen Welt keine revolutionäre Kraft, die den Status quo transzendental umwälzen würde, käme sie an die Macht. Die Opposition – auch die außerparlamentarische, wie wir gesehen haben – ist die andere Seite der Regierung, und die Parlamentswahlen sorgen dafür, dass sie immer wieder de facto die Regierungsmacht übernehmen muss. Dagegen erweisen sich die politischen Systeme der alten Welt, die Opposition lukaschenkomäßig unterdrücken, gar auszurotten versuchen, sogleich als einfach unpraktisch.
Luhmanns Beobachtungen gelten auch für die kulturelle Opposition. Verrisse bereiten die Kanonisierung vor. Ohne Karl Kraus’ Vernichtungsmaßnahmen wüsste man heute wenig über die Sprachwelt der Wiener Presse. Wer gestern das Fernsehen als Inbegriff des falschen Bewusstsein denunzierte, verfügt jetzt über zärtlich-genaue Kenntnisse der letzten Freakshow auf RTL II.
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Luhmanns Beobachtungen haben ein allgemeines Kontingenzbewusstsein befördert, das die ästhetische Kritik gründlich entmächtigt hat. Es ist eben unmöglich, ein Buch, ein Bild, ein Musik- oder Theaterstück, einen Film durch scharfe und genaue Kritik aus dem Wahrnehmungsraum wieder zu vertreiben, im Gegenteil, das sind alles Einbürgerungsmaßnahmen. So bleibt nur ein mehr-minder sorgfältiges Diskursmanagement, das oft von Reklame und PR kaum zu unterscheiden ist. Am besten, der Kritiker begleitet den Autor auf der Lesereise und trägt seine Einwände gegen das neueste Werk als Moderator vor.
So erscheinen Literatur, Kunst, Musik, Theater, Kino per se als lobenswerte und fruchtbare Beschäftigungen – allenfalls von einer diffusen Barbarei bedroht und deshalb schon gar zu affirmieren. Manchmal hat man den Eindruck, es habe unter der Hand eine Restauration der deutschen Kunst- und Bildungsreligion stattgefunden. Weit entfernt von Adornos negativer Theologie der Kunst, eher auf die „milde Narkose“ versessen, die Freud als Kunstwirkung beschrieb. Ein bisschen Glauben an eine Transzendenz hat noch nie jemandem geschadet.
So muss ich gestehen, dass mir in letzter Zeit kritische Arbeiten immer kostbarer wurden, die diese Kunstreligion selber ins Auge fassen. Bislang profilieren sich diese Kritiker vor allem auf dem Feld der bildenden Kunst; the late Hans Platschek, schon in Peter Hamms Panel von 1968 vertreten, hat damit angefangen. Unter den älteren Hasen sticht Wolfgang Kemp hervor, unter den jüngeren Christian Demand. Wolfgang Ullrich hat mit seiner Essaysammlung „Tiefer hängen. Über den Umgang mit der Kunst“ 2003 das Arbeitsfeld einer postreligiösen Kunstkritik sauber umschritten – mal sehen, wie sie im Hinblick auf Literatur, Theater, Musik aussähe.
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