: Ehre für eigensinnige Frauen
Ein neuer Friedhofsführer von Rosemarie Köhler erinnert an bekannte und unbekannte Berlinerinnen. Beim Gang vorbei an den Gräbern wird die Vergangenheit der Stadt lebendig
VON WALTRAUD SCHWAB
Berlin ist ein guter Ort, um sich beerdigen zu lassen. Platz gibt es genug auf den 200 Friedhöfen. Darunter sind stadthistorische Kleinode wie der Jüdische Friedhof Weißensee, der Unesco-Kulturerbe werden soll, und der Dorotheenstädtische Friedhof, auf dem Berühmtheiten wie Hegel und Fichte, Brecht und Heiner Müller, Bernhard Minetti oder Johannes Rau liegen.
Friedhöfe sind Geschichts- und Geschichtenbücher. Wer etwas über die Verstorbenen weiß, deren Namen auf den Grabsteinen stehen, kommt Berlin nahe. Denn es sei nicht so sehr die Stadt, es seien die Menschen, die Berlin zu Berlin machten. Dies zumindest behaupten waschechte HauptstädterInnen gerne. Sie haben allen Grund dazu, schließlich geht es dabei nämlich um sie selbst.
An der Stelle gibt es ein Problem: Große Berühmtheiten werden unvergessen bleiben, wer aber erinnert sich an die BerlinerInnen, die eher im Kleinen wirkten?
Die Journalistin Rosemarie Köhler hat jetzt einen neuen Friedhofsführer geschrieben. Sie lädt dazu ein, über diese innerstädtischen Kleinode zu ziehen und sich von dem Leben der eigenwilligen Frauen, die dort begraben sind, inspirieren zu lassen.
Wer etwa weiß noch, wer Annamarie Doherr oder Gertrud Staewen waren. Zu der Ersteren, einer Journalistin, sagte Walter Ulbricht kurz vor dem Mauerbau im Sommer 1961 den Satz: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Gertrud Staewen wiederum war im Widerstand und hat jahrelang als Gefängnisseelsorgerin gearbeitet, während der Nazizeit und danach. Ihr Doppelgrab teilt sie mit Rudi Dutschke. Sie brauchte die zweite Hälfte nicht und bot sie an, als es Probleme gab, einen Platz für das Dutschke-Grab zu finden. Die beiden Gräber sind auf dem St.-Annen-Kirchhof und Friedhof Königin-Luise-Straße in Dahlem.
Oder Namen wie Zenzi Mühsam und Mathilde Jacob – wem sagen sie etwas? Letztere war die liebste Freundin Rosas Luxemburgs. Sie wurde in Theresienstadt ermordet. Eine Tafel am Grab ihrer Eltern auf dem Jüdischen Friedhof erinnert an sie. Zenzi Mühsam war die Frau des von den Nazis ermordeten Erich Mühsam. Zwanzig Jahre lang wurde sie in sibirischen Lagern inhaftiert. Machthabende kommunistische Kader in der DDR sollen nicht unschuldig an dieser Verschleppung sein. Ihr Grab befindet sich auf dem Waldfriedhof Dahlem II.
Auf den Friedhöfen vor dem Halleschen Tor, die von den KreuzbergerInnen wie ein nahe gelegener Park genutzt wird, ruhen die bekannten Salonieren Henriette Herz und Rahel Varnhagen, aber auch Fanny Hensel aus der Mendelssohn-Familie. Einfühlend allerdings geleitet Köhlers Buch auch an den Gräbern der jung verstorbenen Frau von Adelbert von Chamisso, deren Leben eher unspektakulär verlief, und der wenig bekannten Naturwissenschaftlerin Clara von Simson vorbei.
Der neue Friedhofsführer ist eine Annäherung an die Stadt durch die Hintertüre. Schriftstellerinnen wie Anna Seghers, die Grande Dame der Literatur in der DDR, oder May Amin, Afrodeutsche, die die Diskrepanz ihrer verschiedenen Heimaten nicht zusammenfügen konnte und sich vor zehn Jahren 36-jährig umbrachte, kommen darin vor. Schauspielerinnen wie Helene Weigel, Partnerin Brechts, oder Rotraut Richter, die vermutlich an einer illegalen Abtreibung starb, werden wieder lebendig. Mütter, wie jene von Kurt Tucholsky, die tyrannisch und hart gewesen sei, und die des Religionskritikers Gershom Scholem, die präzise über die Schikanen der Nationalsozialisten in ihren Briefen berichtete, kommen darin vor.
Über sieben Friedhöfe führt die Autorin, vorbei an den Gräbern von 50 Frauen. Mit den präzise und ohne barocke Schnörkel nacherzählten Lebensgeschichten macht sie die Vergangenheit auf eine unaufdringliche Weise lebendig. Das große Wissen der Autorin, die jahrelang in der Akademie der Künste gearbeitet hat und den Nachlassschatz kennt, der dort lagert, kommt dem Buch zugute. Denn durch die Auswahl der bekannten und unbekannten Frauen, an die Rosemarie Köhler erinnert, schafft sie es, ein lebendiges Bild der Stadt über die letzten zwei Jahrhunderte zu zeichnen. Aus 150 Biografien musste sie auswählen, berichtet die Autorin. Eigentlich hofft sie auf eine Fortsetzung des Projekts. Das mag erklären, warum die Gräber einiger Berühmtheiten wie Marlene Dietrich, Hannah Höch oder Valeska Gert nicht aufgeführt sind.
Köhlers Buch entwirft ein Bild Berlins, das keinen Zweifel daran lässt, dass die Stadt stolz sein kann auf die Frauen, die hier lebten. Eine Frage allerdings kann auch die Autorin nicht beantworten. Es ist jene nach dem Grund. Im Fall Berlins lautet sie: Formt die Stadt eigentlich die Menschen oder formen die Menschen die Stadt?
Rosemarie Köhler: „Sie lebten wie sie wollten – Berliner Friedhofsspaziergänge zu Grabstätten außergewöhnlicher Frauen“. Orlanda-Verlag, 200 Seiten, 17,50 Euro. Morgen um 17 Uhr führt die Autorin über den Dorotheenstädtischen Friedhof in Mitte. Treff: Friedhofseingang Chausseestr. 126