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Archiv-Artikel

Das große Schützenfest

PARTYKULTUR IM RUHRGEBIET Wer besucht eigentlich eine Loveparade in Dortmund oder Duisburg? Und warum?

Die Loveparade im Ruhrgebiet schließt niemanden aus. Nur deshalb funktioniert sie so gut

VON CHRISTIAN WERTHSCHULTE

Am Samstagnachmittag um vier herrscht am Bochumer Hauptbahnhof „The Art of Love“, ganz dem Motto der Loveparade 2010 entsprechend. Eine Gruppe spanischer Austauschstudenten wartet am Bahnsteig auf den Zug. „Den da drüben mit dem grauen T-Shirt würde ich gern knutschen“, sagt ein schlaksiger Mann in gebrochenem Englisch und lacht: „Today is Loveparade, so everybody deserves to be loved.“

Mit ihrer Albernheit bleiben die Studenten nicht unter sich. Wer im Jahr 2010 auf eine Loveparade geht, kennt das Pathos vergangener Paraden nur vom Hörensagen. Westbams Gerede von der „Raving Society“ und Dr. Mottes hippieeske Abschlussreden haben es nicht ins Ruhrgebiet geschafft. Auch auf der Strecke geblieben sind die Medienberichte über im Tanz- und Drogenrausch kollabierende Jugendliche. Stattdessen berichtet der WDR wohlwollend den ganzen Nachmittag live vom Gelände.

Die Loveparade ist endgültig als Volksfest akzeptiert, und dafür musste sie eigentlich nur ein hohes Alter erreichen. Denn die erste Generation von Technofans sitzt mittlerweile an den Schaltstellen des etablierten Kulturbetriebs. Oder sie ist im Leben nach der Party angekommen. Im Zug nach Duisburg erzählt ein Mittdreißiger aus Norddeutschland seiner Tochter im Kindergartenalter, dass er früher selbst auf die Loveparade gefahren ist: „Selbst die Polizisten haben am Straßenrand getanzt.“ An diesem Samstag steigt er trotzdem in Essen aus, um Verwandte zu besuchen.

Die Loveparade im Ruhrgebiet schließt niemanden aus. Nur deshalb funktioniert sie so gut, dass die Gäste aus ganz NRW und den angrenzenden Benelux-Ländern anreisen. Jüngere Partygänger gehen hin, weil ihre Freunde auch hingehen und weil man hier DJ-Stars wie Richie Hawtin oder David Guetta ohne horrende Eintrittspreise und kritische Türsteher sehen kann. Für die Jungraver ist die Loveparade eine Party unter vielen. Am nächsten Wochenende geht’s mit dem nächsten Festival oder auf dem heimischen Schützenfest weiter. Für die älteren Jahrgänge hält die Loveparade die Chance zur nostalgischen Verklärung bereit mit der Option auf eine Übernachtung im warmen Bett.

Als auf der Dortmunder Loveparade 2008 die englischen Rave-Veteranen Underworld ihren Hit „Born Slippy“ spielten, grölten Tausende von Mittdreißigern den Refrain „Lager, Lager, Lager“ mit, als sei der Song keine zwölf Jahre alt. Und selbst für die stilbewussten Hipster und musikvernarrten Elektroniknerds bietet die Loveparade die Gelegenheit, in ihrem Fahrwasser die Acts zu sehen, die sonst einen weiten Bogen um die Clubs des Ruhrgebiets machen.

Außerhalb der Loveparade gestaltet sich das Ausgehen im Ruhrgebiet jedoch schwierig. In Berlin erreicht man auf dem Rad in einer Viertelstunde sämtliche Clubs, in denen sich avancierte DJs sämtlicher Stile die Klinke in die Hand geben. In verstreuten Clubs des Ruhrgebiets ist das nicht möglich. Gleichwohl existieren um sie herum ganze Reihen halb legaler Partys, die die endlosen Brachflächen des Ruhrgebiets bespielen.

Enthusiastische Partygänger haben also die Wahl. Entweder erleben sie eine nüchterne Nacht als Autofahrer oder nutzen das spärliche Nachtangebot des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr. Ausgehen bedeutet im Ruhrgebiet immer auch Rumstehen an zugigen Bahngleisen – ein Schicksal, das man mit anderen Feierwütigen teilt. Morgens um vier treffen sich am Essener Hauptbahnhof nicht nur die regionalen Hipster, sondern auch Gothics, Jugendliche mit Ed-Hardy-Shirts und Schlagerfans. Und man redet miteinander: über die Warterei, das Wetter, den Fußball. Der Rückzug ins Hipsterghetto ist im Ruhrgebiet schwierig. Schon allein deshalb, weil diejenigen, die Wert auf die Geschmacksverfeinerungen der Jungbohemiens legen, längst nach Hamburg, Berlin oder Köln gezogen sind. Dort kann man die die eigenen Codes und Abgrenzungsgesten bei Zeitungen, Agenturen oder im Kulturbetrieb zu Geld machen. Im Ruhrgebiet hingegen laufen solche Gesten meist ins Leere.