piwik no script img

Archiv-Artikel

Über den Dächern von Wolfsburg

STADTGESTALTUNG Architektur spielt in der Schule meist keine große Rolle – in Wolfsburg lernen dagegen schon Grundschüler die Besonderheiten ihrer modernen Stadt kennen

Morgens in Wolfsburg. 26 GrundschülerInnen stehen auf dem Dach des zehnstöckigen Rathauses. Sie sehen sich ihre Stadt von oben an. „Ich lebe seit 61 Jahren in Wolfsburg und war noch nie hier“, sagt Lehrerin Karin Buschmann. „Das ist schon ein besonderer Ausblick.“ Das finden auch die Kinder, die einige Zeit brauchen, um sich zu orientieren. „Das Hochhaus da hinten mit den vielen Schornsteinen daneben, das ist VW“, ruft David. „Und hier ist das VfL-Stadion mit den großen Flutlichtmasten.“ Lea in ihre Richtung: „Das Haus mit dem runden Dach ist das Planetarium, da waren wir mit unserer Klasse schon.“ Ben fragt: „Wo ist das Phaeno?“ Und das Schloss? Es sind die hervorstechenden Gebäude, für die sich die Erst- bis Viertklässler interessieren, die gemeinsam in einer Klasse unterrichtet werden.

Kinder werden zu Bauherren

Sie haben einen besonderen Schultag vor sich – sie befassen sich heute mit der Architektur ihrer modernen Stadt, die 1938 als „Stadt des KdF-Wagens“ gegründet wurde. Wo ist das Zentrum? Wie verlaufen die Wege? Welche Stadtteile erkennen wir? Was gibt es für unterschiedliche Arten von Gebäuden? Dabei werden sie selber zu Bauherren, indem sie in Kleingruppen Modelle von Einfamilienhäusern, Zeilenhäusern und Hochhäusern aus Pappe herstellen, Wege anlegen und für die Begrünung sorgen. Damit diese Gebäude von der Größe her zueinander passen, lernen die Mädchen und Jungen zunächst einmal, was ein Maßstab ist.

„Es sind ganz unterschiedliche Fertigkeiten gefragt. Die Schüler müssen rechnen, handwerkliches Geschick ist gefragt, sie lernen im Team zu arbeiten“, sagt Nicole Froberg. „Beim Bau ihrer Modelle fließen nicht nur eigene Erfahrungen ein: Ein Rathaus wird oft mit Säulen versehen oder Kirchen haben typische alte Formen, auch wenn es solche Bauten in Wolfsburg gar nicht gibt.“ Froberg ist Architektin. Sie leitet das Forum Architektur der Stadt Wolfsburg und organisiert mit Schulen zusammen regelmäßig Projekttage. Damit will sie den Blick der Schüler für ihre bebaute Umgebung schärfen. Aus ihrer Sicht eine dankbare Aufgabe: „Kinder nehmen ihre Umwelt viel bewusster als Erwachsene wahr.“

Niclas, Marc, Ben, Julia und Andromeda fertigen Bäume aus Pappe an. Die beiden Mädchen zeichnen einen geschwungenen Weg und markieren die Stellen für die Pappbäume. „Macht mal dort die Punkte, wo die Bögen der Straße sich befinden“, empfiehlt Architektin Monika Piehl. „Und stellt die Bäume auf beiden Seiten nicht gegenüber, sondern etwas versetzt auf.“ Ben will wissen, warum man die Bäume nicht nur auf einer Straßenseite aufstellt, das findet er schöner. Matteo hat in einer anderen Gruppe ein dreiteiliges Wohnhaus mit Schrägdach gebaut, das nach hinten hin immer größer wird. „Ich habe so etwas noch nie gesehen, da würde ich gerne drin wohnen.“ Fast alle Kinder der Klasse leben entweder in Einfamilienhäusern oder in vierstöckigen Blöcken.

Nach drei Stunden Bauzeit setzen die Schüler ihre Werke auf eine große Holzplatte. Entlang der in der Mitte verlaufenden Straße werden jeweils einander gegenüber Einfamilienhäuser und Hochhäuser platziert, darunter auch ein 60 Meter hoher Wolkenkratzer. Den haben sich die Kinder ausgedacht. Meistens orientieren sie sich aber an der Realität: Kirche und Rathaus befinden sich in der Mitte, das Schloss am Rand – wie im wirklichen Wolfsburg. Dann werden die Schüler gefragt, was alles noch fehlt, damit die Stadt vollständig ist. Die Antworten: Spielplatz, Geschäfte, Teiche, Schwimmbad, Bahnhof und Schienen, Hotel, Kindergarten, Kino, Moschee, Menschen.

„Einzelne Häuser werden schon mal im Werkunterricht gebaut, aber Stadtarchitektur als Ganzes spielt im Unterricht keine Rolle“, sagt Lehrerin Buschmann. „Es fehlen dazu die Lehrmaterialien. Außerdem leiten hier vier Erwachsene vier Gruppen, in der Schule ist das für einen Lehrer alleine schwieriger.“ Während über die Gestaltung der eigenen Stadt in der Grundschule vor allem im Sachunterricht gesprochen wird, ist Architektur in den weiterführenden Schulen am ehesten noch im Fach Kunst Thema. „Es gäbe auch genügend Anknüpfungspunkte in Geschichte, Deutsch oder Mathe. Und natürlich Werken, aber das wird kaum noch unterrichtet“, bedauert Froberg.

Wolfsburg ist Vorbild beim Schulbau

Wolfsburg gelte inzwischen als bundesweites Vorbild bei der Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen, wenn es um die Gestaltung von Schulgebäuden, sagt Michael Braum, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur. Es sind vor allem dunkle Flure, hohe Räume mit schlechter Akustik und miese Toiletten, die sie stören. Ihre Ideen zur Verschönerung bleiben nicht nur Theorie – für ihre Pläne für einen Lese-Dschungel in der Wolfsburger Schillerschule gab es als ersten Preis beim Wettbewerb „Bauen für Kinder und mit Kindern“ 10.000 Euro von der Stadt Wolfsburg. Damit konnte eine Schulbibliothek nach den Ideen der Kinder gemütlicher eingerichtet werden, mit mehreren Lesebäumen aus Holz, an denen sich Bücher hochranken, einer Liegeecke und einer Lesehöhle zum Schmökern.

Kinder kennen ihre Stadt schlechter als früher

Monika Piehl geht seit 2005 regelmäßig in die Klassen, um sich mit SchülerInnen über Architektur zu unterhalten. In ihrer Architektur-AG gießen Grundschüler Beton, erkunden den Grundriss einer Schule, messen mit Laser und Zollstock alle Räume aus, bauen aus Stöcken, Steinen und Laub ein wasserfestes Haus oder erkunden bei einer Spedition, wie LKW-Fahrer in ihrem Fahrerhaus wohnen und schlafen. Piehl sagt, den Kindern bereite die praktische Arbeit große Freude und sie entdeckten dabei viele ihnen bisher unbekannte Seiten ihrer Stadt. „Ihre eigene Umgebung kennen sie heute oft schlechter als wir früher, denn sie spielen nicht mehr so viel draußen, haben weniger Zeit und sind weniger zu Fuß oder mit dem Fahrrad auf Erkundungstour unterwegs.“  JOACHIM GÖRES

Architektenkammern bieten Schulen Projekte zum Thema Architektur an – zu finden auf der Seite der Bundesarchitektenkammer www.bak.de/baukultur/architektur-macht-schule/. Die Montag Stiftung Urbane Räume informiert auf ihrer Seite www.lernraueme-aktuell.de über Beispiele von gelungener Schul-Architektur