: Keine Ordnung von Zeit und Gefühl
WANDEL Tina Stroheker war über fünfzig, als sie sich in eine Frau verliebte. Seither ist sie lesbisch, lebt mit ihrem Mann, sucht weiter, schreibt darüber
VON WALTRAUD SCHWAB
Die Flügel, die Tina Stroheker wachsen, tragen sie in die Sprache. Fliegt die Dichterin in die Wortwelt, versiegt ihre Angst. Landet sie wieder auf ihrem Startplatz, der in Eislingen liegt, dieser winterfarbengesättigten Kleinstadt zwischen Stuttgart und Ulm, sieht die Sache schon anders aus. Zwischen Asphalt, Trottoir und wärmegedämmten Fassaden passt kaum ein Reim, auch keine Metapher. Und ob Eigensinn geht, das muss sich noch zeigen.
Stroheker, eine herbe, schlaksige Frau, die sich mit Schwung bewegt, als steckte in ihr die Gliederpuppe der Kindheit, hat sich, da war sie weit über fünfzig, in eine Wienerin verliebt. Aus der Ehefrau des stellvertretenden Bürgermeisters der Stadt wurde eine lesbische Frau. Sie hat ein Buch über diese Liebe geschrieben. Nun wissen es alle.
„Manchmal überfällt mich Mißtrauen. Mit Dir, befinde ich dann, war doch in meinem Leben nicht zu rechnen. (Also mit mir, die es zu Dir zieht.) Habe ich all die Jahrzehnte denn etwas vermißt?“
Stroheker sitzt bei Herzgebäck und Tee im Arbeitszimmer des Hauses, das sie mit ihrem Mann, einem der Welt zugewandten Sozialdemokraten, bewohnt. Vor dem Fenster die Eiche, der Teich. Stroheker versucht zu erklären, was sich ereignete und nun ist. Dass sie, „doch schon eine alte Frau“, 1948 geboren, ihrem Begehren folgte. Sie habe die Annäherung an Lesben geplant, sei absichtsvoll in Frauenkneipen gegangen, habe mit Blicken gesprochen und Antworten gehört, auch ungesagte. So habe sie vor ungefähr zehn Jahren ihr erstes weibliches Gegenüber gefunden (und später wieder verloren, denn obwohl sie die Liebe festhalten wollte, blieb sie doch flüchtig). Nicht flüchtig indes war ihre Hinwendung zum Körper von Frauen.
„Du mit deiner Doppelaxt, will ich mich beklagen, auf welchen Kampfplatz hast du mich gebracht? Doch ich ahne dein Kopfschütteln, und Du hast recht: Ich selbst bin ja aufgebrochen. Habe den Schritt getan und fand mich plötzlich mitten in der Verwirrung.“
Sie bedauert sich nicht. Die Verwirrung, über die sie in diesem Buch – „Lustpost für eine Stelzengängerin“ – schreibt, ist nur die Folge ihrer Entscheidungen. „Die erste Liebe zu einer Frau – gigantisch“, sagt sie. „Und wenn du schon so alt bist, da kommst du ins Schleudern.“ Am Anfang werde man von Euphorie getragen.
Und am Ende?
„Man stirbt dabei.“ Das Aufschreiben habe sie gerettet. „Mir sprang ’ne Feder aus dem Herzen – wham. Ich musste schreiben. Ich habe das so nie vorher erlebt.“
„Ist etwas verloren, wenn man weiß, wo es ist?“
Stroheker ist Tochter eines Ulmer Architekten. Seine Schulkameraden waren die Geschwister Scholl von der Weißen Rose. Als Jugendlicher habe sich ihr Vater nicht gegen die Nazis gestellt, später aber gingen er und auch seine Kinder bei den Freunden und Geschwistern der hingerichteten Widerstandskämpfer aus und ein. Dass das so war, erzählt sie immer wieder. Immer wieder. Es habe sie geprägt, sie sei ja auch eine 68erin. Sie zeigt ein Buch, das einst Sophie Scholl gehörte. Oben rechts auf der ersten Seite deren Name in rundlicher Schrift.
Dichterin wollte Stroheker immer werden. „Ich hatte eine Sehnsucht, in der Verdichtung verstanden werden zu wollen“, sagt sie. Sie holt einen Ordner, den sie als Jugendliche anlegte und bis heute hat. Säuberlich abgeschrieben mit ihrer Schreibmaschine darin die Lyrik, die ihr wichtig war – ein Schatz an zusammengestückelten Weltsichten, eingehüllt in einen Rhythmus, der eigenwillig pulsiert. Gedichte seien wie ein Haus, wie ein Buch, aus dem die Wörter herausgefallen sind, sagt sie. Georg Trakl ist eines ihrer Vorbilder. Sie habe Fernbewusstsein wie er. Auch eins nach dem anderen Geschlecht. Schon 1994 schreibt sie in einem Gedicht über zwei Frauen: „Schau, sagt die Schöne später, ich / bin mir nicht ferner als du es dir bist / ich bestimme die eigene Leuchtkraft / bin scharf auf die Ordnung von / Zeit und Gefühl.“
Weil Dichterin kein Brotberuf ist, hatte sie zuerst auf Lehramt studiert, Deutsch, Gemeinschaftskunde, Politik. Als Referendarin kommt sie nach Eislingen, wo sie ihren Mann trifft, ebenfalls Lehrer. Nachdem sie 1981 den Leonce-und-Lena-Förderpreis, einen renommierten Lyrikpreis, erhielt, gab sie ihre Arbeit an der Schule auf. „Dass ich mir nie Gedanken gemacht habe, in welche Abhängigkeit mich das führt“, sagt sie jetzt.
In Lyrikkreisen ist Stroheker bekannt. „Ich bin wahrscheinlich ein Dichterdichter – einer für die Kollegen.“ Eine ihrer größten Auszeichnungen: Das Aufenthaltsstipendium in der Villa Massimo in Rom 1986.
Sie sei immer eine ängstliche Frau gewesen, selbst Zug sei sie nicht alleine gefahren, aber nun müsse sie stärker sein denn je. „Ich hab noch nie in so einer Herausforderung gestanden und ich habe nicht das Gefühl, ich habe es hinter mir.“ Denn mit ihrem Bekenntnis zu Frauen fordert sie das Selbstverständnis eines überschaubaren sozialen Gefüges in der Kleinstadt heraus. „Es ist schwer, wenn du ein Leben lebst, das nicht zur Umgebung passt.“ Schon zehn Jahre versucht sie, die verschiedenen Teile, in die sie zerriss, zusammenzuheften, wenngleich die Teile nun nicht mehr passen und die Nähte ganz roh sind.
„Hier bin ich verbunden mit dem Gefährten, dort will ich nichts als dich halten. Dort Abstürze, wenn mich Gedanken an hier überschwemmen, hier Elendsgefühle, wenn ich heimlich aufs Handy schaue nach einer Nachricht von dir.“
Nicht nur ihr Mann, mit dem sie vierzig Jahre zusammenlebt, den sie schätzt, der ihr Wegbegleiter ist, hält sie in Eislingen, auch die Sprache. Denn als die beiden damals in diese zu einer Kleinstadt zusammengewachsenen Dörfer, Großeislingen und Kleineislingen, zogen, gab es Vereine, aber kein Kunst- und Kulturschaffen. „Ich habe die Literatur in den Ort gebracht“, sagt sie. Sie hat Eislinger Literaturtage eingeführt und den Eislinger Poetenweg realisiert. Seither gibt es zwischen Asphalt und Trottoir doch Poesie. Denn überall stehen Glasstelen, in die Gedichte eingraviert sind. Mattweiß fügen sie sich ins winterliche Licht, das sie fast unsichtbar macht. „Ich bin die Lyrik-Queen von Eislingen“, sagt Stroheker, lacht und streicht über die raue Oberfläche der Buchstaben, als fahre sie einem Kind übers Haar.
Auch den Kulturverein mit wechselnden Ausstellungen rief sie mit anderen ins Leben. „Ich habe an einem überschaubaren Ort was machen können mit Literatur, mit Kunst. Das ist Freude.“ Und es stellt, meint sie, eine Verbindung her, die stabiler sei, als sie dachte. Deshalb bleibt sie, obwohl sie auch geht. Denn ihre Zuneigung zu Frauen ist keine Laune, die sich auswächst. Sie ist kein Teenager, sie schwärmt nicht, sie begehrt. Trotz des Kummers, den ihr die Wienerin bereitete.
„Du rufst nicht an. Du rufst nicht an, und ich geh mir verloren. Keine Nachricht von Dir. Ich drehe hier durch. Du bist irgendwo, vollkommen unvorstellbar. Wie klingt Deine Stimme? Mir fällt nichts dazu ein. Du hast mich vergessen. Ich bin wie geschrumpft.“
Nach der ersten Liebe zu einer Frau kam die erste Trennung. Danach die zweite Liebe zu einer Frau und die zweite Trennung.
Aber wie ist ihre Wandlung für Strohekers Mann?
Er spricht nicht darüber. Sie spricht für ihn, sagt, „er findet es scheiße, es zerstört seinen Lebenstraum“. Auf einem Sideboard liegt, wie zufällig hingelegt, ein Zettel von ihm, auf den eine wild aussehende Katze mit Sonnenbrille gekritzelt wurde. „Raubtierkatze blind“, steht darauf, signiert mit „Peter“.
Am Abend ist eine Ausstellungseröffnung im Eislinger Kunstverein. „Danach die Stille“, heißt sie. Arbeiten eines Augsburger Künstlers, der alle Bilder zusammenstückelt, schichtet, zerschneidet, wieder neu zusammenheftet, werden gezeigt. Ein Kunsthistoriker spricht die Eröffnungsrede und sagt Sätze, wie gemacht für Stroheker, die unter den Vernissagegästen steht, in Lederjacke mit kurzem grauem Haar, schlaksig, lesbisch, schief, selbst wie ausgestellt. Es gehe darum, „Gestalt anzunehmen aus einem nachgerade prismatisch gebrochenen Sehen“, sagt der Kunsthistoriker. „Der Deformation folgt Rekomposition.“ Und noch so ein Satz: „Scheine, was du bist, und sei, was du scheinst.“
Unter den Gästen ist eine Frau, Lehrerin, die, angesprochen darauf, wie die Wandlung von Stroheker in der Stadt ankommt, nicht schweigt. „Tina“, sagt sie, „hat einen Lebensentwurf gewählt, der in der Provinz was Besonderes ist. Tief in meinem Innern will ich das tolerieren.“ Aber sie weiß auch von Leuten, die nun verstummen. „Plötzlich wird es eng“, sagt sie. „Da gibt es Tabus, da gibt es Ängste bei Leuten, und die projizieren die Ängste auf Tina. Die sind in unserem Bekanntenkreis, und das geht mir auf den Keks. Leute, die das Buch kennen und nichts sagen.“ Dass es solche Ablehnung gebe, sagt Stroheker, verunsichere ihre Treue zum Ort.
Am nächsten Morgen trifft sie sich mit zwei lesbischen Freundinnen im schönsten Café der Stadt. Zum ersten Mal wirkt sie entspannt. Nichts muss erklärt werden. Später kommt ihr Mann mit seinen Parteikollegen ins gleiche Café. Sie setzen sich an einen anderen Tisch.
■ Die kursiv gesetzten Zitate sind aus dem Buch „Luftpost für eine Stelzengängerin“, Tübingen 2013
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