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Archiv-Artikel

Frequenz: 150/min

BROKEN-HEART-SYNDROM Andere brechen sich ein Bein, Charlotte S.* brach das Herz. Spricht sie darüber, springen ihre Sätze von der Krankheit zur Liebe und vom Leben zum Tod ihres Mannes. Hans-Joachim hieß er

Gebrochenes-Herz-Syndrom

■ Die Krankheit: Das Gebrochene-Herz-Syndrom, auch Stress- oder Tako-Tsubo-Kardiomyopathie, ist eine Funktionsstörung des Herzmuskels, die vor allem bei älteren Frauen auftritt. Sie wird durch eine starke emotionale Belastung wie einen Streit oder den Verlust des Partners verursacht. Das Syndrom ist kaum erforscht, bis 2006 wurde es weltweit erst bei 700 Patienten beschrieben.

■ Der Verlauf: Die Symptome gleichen denen eines Herzinfarkts, typisch sind heftige Brustschmerzen und Luftnot, die linke Herzkammer ist aufgebläht. Im Akutstadium sind die Komplikationen oft lebensbedrohlich. In der Regel bilden sich die Veränderungen am Herzmuskel aber innerhalb von Wochen vollständig zurück.

VON ANNABELLE SEUBERT

Charlotte S.*, geboren am 29. September 1943, sah ihr gebrochenes Herz auf dem Monitor. Sehen Sie das?, fragten die Ärzte: Die eine Kammer hängt wie ein Lappen zur Seite. Hochgradig eingeschränkte linksventrikuläre Pumpfunktion.

Männer in Kitteln und Fachausdrücke rauschten an ihr vorbei. Es gab Ursachen und Erklärungen, von denen sie heute nicht mehr weiß, ob sie sie damals hörte oder später erst las.

Kaum erforscht – vermutlich durch hohe Konzentration von Stresshormonen ausgelöst – im Akutstadium schwer vom Herzinfarkt zu unterscheiden – betrifft vor allem Frauen zwischen 62 und 75 – tritt nach emotional belastendem Ereignis auf – Unfall – Überfall – Lottogewinn – Trennung – Verlust.

„Tako-Tsubo-Kardiomyopathie“, sagte der Kardiologe, das weiß sie sicher: Broken-Heart-Syndrom.

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Wie sich das schon anhörte: gebrochenes Herz. Nach Kitsch, der dir den Magen zusammenzieht. Gefühlsduselei. Zeugs. Was für andere. Nicht für eine wie sie. Charlotte S.* hat zwei Töchter großgezogen und fünf Enkel. Sie hat eine Scheidung hinter sich. Ein Sorgerecht erstritten. Ihre Eltern gepflegt bis zum Tod. Sie ist ein Kriegskind, hat zugesehen, wie der Vater die Kohle, die von der Reichsbahn gefallen war, nach Hause in den Ofen schleppte. Die Mutter Schutt vom Ku’damm räumte. Sie lief als Mädchen durch die Trümmer Berlins.

Nach jedem Rückschlag hat sie ihr Leben noch in Ordnung gebracht. Auch jetzt, Ende 2013, vier Jahre nach dem Tod ihres Mannes, schaufelt sie weg, was kommt. Sicher, das mit Hans-Joachim, die Beerdigung, das war schlimm – „Himmel und Menschen waren da“, sagt Charlotte S.*, eine Frau, die aufrecht geht, mit einem Körper, zart, fast jugendlich, und einer Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Schönheit.

Aber sie fuhr mittlerweile nicht mehr jede Woche zum Friedhof. Sie hatte eingesehen, dass es im Winter dort zu traurig war. Sie konnte genauso im Wohnzimmer mit ihm reden. Sollte die Familie nur über sie lachen. Sie hielt es für ein „Glück“, dass Hans-Joachim „noch so da“ war – sie war sich sicher: Er hörte ihr zu. Und das half ihr doch. „Glauben Sie nicht?“

Sie hat Fotos von Hans-Joachim auf den Tisch gelegt, an dem sie meistens sitzt in jenem Haus, das sie gebaut haben. Berlin-Frohnau: eine S-Bahnstunde ins Zentrum. Eine Gegend mit Wintergärten vor den Villen und Pfützen vom Dezember.

Ein Ruhiger sei er gewesen. Zu ruhig manchmal. Dauernd im Hobbykeller. „Opa kann alles“, hätten die Enkel oft gesagt und das habe gestimmt: „Es gab nichts, was der nicht reparieren konnte“, sagt Charlotte S.*. „Hans-Joachim konnte alles glätten.“ Manchmal rutscht ihr ein „mein“ raus. „Mein Hans-Joachim.“

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Zehn Monate zuvor – 8. Februar 2013 – der Streit mit der Nachbarin – warum sie einfach die Tannen auf dem eigenen Grundstück fällen lasse – was sie sich erdreiste? – richtiggehend hilflos fühlte sie sich – plötzlich der Schmerz, der „bis nach hinten durchging“ – „bis in den Rücken“ – zum Hausarzt – ins Taxi – Dominikus-Krankenhaus – Bahre – EKG – Diagnose – Herzinfarkt? – der Anruf im Herzzentrum: „Haben Sie noch ein Bett“?

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Ein Vierteljahrhundert hatte es grob gedauert, bis sie ihren Hans-Joachim traf. Sie hatte bei Siemens angefangen und dort erst Otto getroffen, in Wahrheit hieß der anders – hatte Otto 1966 auch geheiratet, ein Kind bekommen, aber schon ab und zu gedacht: „Hättest mal lieber den hier genommen. Den Hans-Joachim.“ Dieselbe Firma. Dieselbe Abteilung wie Otto. Otto war dann lange auf Montage, in Afghanistan, in Rumänien, in Indien, Brasilien, ach überall, achtzehn Monate am Stück. Hans-Joachim dagegen war da.

Mit Hans-Joachim ging sie in die Taverne, oben am Zoo. Er war kein guter Tänzer, aber das machte nichts. Sie trug ein rotes Kleid, gerade geschnitten. Es kratzte am Hals, aber das machte nichts. Später saß sie in seiner Küche auf seinem Schoß, 1968, und Hans-Joachim sagte, er liebe sie. „Oder: Er hat sich in mich verliebt“, sagt Charlotte S.*. Sie antwortete: „Na ja, ist ja schön. Ich glaube auch. Oder: Ich auch.“ Irgendwie waren sie sich nähergekommen, und dann habe er sie, glaubt sie, geküsst.

Nach der Schicht schlich sich Hans-Joachim von nun an in ihre Wohnung. Sie war aufgeregt. „Die Heimlichtuerei.“ Wie sie ihre Tochter schlafen legte. Wartete, dass er klopft. Wenn er da war, bekochte sie ihn. „Er war ja ein Fleischmensch“, und sie, Charlotte S.*, ihm schließlich – „verfallen. Ja, so war’s.“

Als Otto zu Besuch kam, merkte er’s gleich. „War der Schock seines Lebens“, sagt sie, denke sie mal. Er schrie und rannte im Kreis. Wie ein Blöder fahre er in der Weltgeschichte rum! Verdiene das Geld! Und hintenrum werde ihm die Frau genommen!

Otto stürmte aus der Wohnung und kurz danach durch die Abteilungen der Fabrik. Bis nach oben, bis zur Siemens-Spitze. „Was ist das für ein Mensch“, soll er gesagt haben, „der einem die Frau wegnimmt.“

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„Ja, gibt noch ein Bett“ – auf die Bahre – zum Krankenwagen – Herzzentrum – „mit fünf Mann und Blaulicht“ – Gänge – Keller – „Wo bin ich?“ – Personalien – Katheter – „Ich muss den Cousin anrufen“ – „Ich muss meine Tochter anrufen“ – erster Arzt – zweiter Arzt – fünfzigprozentige Hauptstammstenose – „Das ist nicht ungefährlich, regen Sie sich nicht auf“.

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Damals, als das mit Hans-Joachim und Otto war, nahm sie sich einen Anwalt und die Schuld auf sich. Sie dachte: „Wenig Briefwechsel, wenig Schlammschlacht.“ Hans-Joachim sagte: „Weißt du, jetzt könnten wir eigentlich auch heiraten.“ – „Ja, hab ich gesagt. Okay.“

Sie zogen nach Wilmersdorf. Zwei Zimmer mit Schrankwand, gelber Teppich, rote Couchgarnitur. Sie bekam die Hauswartstelle, reinigte die Treppen und fegte Schnee.

Für den 5. Dezember 1969 hatten sie Torten gebacken und eine Tafel gerichtet. Es gab zwanzig, fünfundzwanzig Hochzeitsgäste, Käseplatten und Schallplatten. Im Ehebett übernachteten sie zu fünft. „Und dann“, sagt Charlotte S.*, „ging das Leben los.“

Sie bekamen ein zweites Kind und verreisten, am liebsten in „unser Dorf“ bei Saint-Tropez. Im Sommer, an Ostern, Silvester. Sie bauten ihr Haus in Frohnau, die Mauer verlief vor der Terrasse. An warmen Abenden saßen sie im Lichtkegel des Wachturms.

Es gab dann eine Zeit, die ihr auch bei Hitze kalt erschien: Ihre erste Tochter wollte Kontakt zu Otto, zum Vater – und Charlotte S.* wollte es im Kopf nicht aushalten. Hatte er ihnen nicht nur Ärger eingebrockt? Je aufgehört, an ihnen zu zehren? „Da soll sie mal“, dachte sie, und reagierte auf den Brief ihrer Tochter nicht mehr. Erst, wann war es?, beim überüberübernächsten Familienfest?, vertrugen sie sich wieder. Eine Ewigkeit ohne ihr Kind und dessen Kinder.

Den eigenen Eltern, Herrn und Frau Steeck, richtete sie derweil das Grab. Links oben liegt sie, rechts oben er, und links darunter ihr Mann. „Meine Schätze“, sagt Charlotte S.*.

„Geh zur Vorsorge“, hat sie Hans-Joachim gesagt, und er hat „Ist gut“ gemurmelt. Eingeredet auf ihn, „jaaahrelang“. „Wenn ich Rentner bin. Dann können wir Arztbesuche machen.“ – „Vielleicht“, sagt sie, „wenn er zur Vorsorge gegangen wäre, wäre alles nicht so schlimm geworden.“

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„Nein, ich rege mich nicht auf“ – „Muss ich in die Röhre?“ – Kernspintomografie – ihr Herz wurde „immer wilder und wilder, das schlug schon hier oben“ – Frequenz: 150/min – der Chefarzt – „der Professor“ – er sagte, sie bekomme jetzt eine Spritze und dann setze ihr Herz aus – supraventrikuläre Tachykardie – vielleicht so eine halbe Minute, dann komme sie wieder.

***

Hans-Joachim konnte nicht mehr richtig sitzen. Mitten im Jahrhundertsommer gingen sie zum Urologen. Es war so heiß, 2003, sie mussten von Schatten zu Schatten laufen.

Der Urologe diagnostizierte ein Karzinom an der Prostata und sagte, dass es fast nicht mehr heilbar sei. Da müssten sie jetzt schnell reagieren. Chemo. Vierzig Bestrahlungen. Tabletten. „Alles mögliche“, sagt Charlotte S.*. „Aber wir sollten nicht den Mut verlieren.“ Hans-Joachim habe nie darüber gesprochen in den nächsten sechs Jahren, die er noch lebte. Nicht ein Wort.

Sie fuhren morgens zur Charité, abends zurück. Montag bis Freitag. Frohnau–Friedrichstraße. Friedrichstraße–Frohnau.

Sie fanden seinen Zustand stabil und entdeckten Metastasen in seiner Leber.

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Sie fuhren an die Côte d’Azur und zum Schöneberger Ärztehaus.

Sie standen im Dominikus-Krankenhaus, oben am Fenster, und winkten der Familie zu, die unten am Eingang stand. Er hatte die erste Chemotherapie nicht vertragen und lag auf der Isolierstation. Sie war die Einzige, die zu ihm durfte, mit Handschuhen und Maske. Es war sein Geburtstag.

Und irgendwann vernahmen sie Sätze, die man nicht vernehmen will. „Chemo abbrechen.“ „Bringt nichts.“ „Wir quälen Ihren Mann bloß.“

Charlotte S.* sagt: „Wenn ich daran denke.“

Sie brachte ihn nach Hause, 20. September 2009, und polsterte ihm eine Gartenliege aus, weil er nicht im Bett liegen konnte. Er aß schlecht. Er schluckte schlecht. Sie öffnete der Palliativärztin die Tür. „Die Frau Doktor sagte“, sagt sie, „also, Schmerzen muss er nicht haben.“ Er bekam Morphiumpflaster. Er bekam Morphin.

Sie sprachen Sätze aus, die man nicht aussprechen will: „Tu mir den Gefallen, lass mich los.“ „Wieso soll ich dich loslassen?“

Sie rief die Töchter an, 10. Oktober. „Wenn ihr euren Vater noch mal sehen wollt.“ Die Jüngere blieb über Nacht.

Zwei Tage später, 12. Oktober, packte sie seine Sachen. „Alles.“ Kleidung. Rasierapparat. Zahnbürste. Und stellte alles raus.

***

Vielleicht so eine halbe Minute, dann kam sie wieder – 3 Tage Herzzentrum – 1 Woche Dominikus-Krankenhaus – Kur – Lauftraining – Atemübung – Nachuntersuchung – medikamentöse Therapie: Metoprololsuccinat 2,5 mg – Ramipril 2,5 mg – wenn sie so mit Hans-Joachim sprach – Atorvastatin 20 mg – dachte sie jetzt öfter: „So richtig“ – ASS 100 mg – „So richtig verwunden hab ich das nicht.“

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Charlotte S.*, geboren am 29. September 1943, erfuhr, dass die Krankheit, an der sie litt, „Tako-Tsubo“ heißt, weil sie an eine japanische Tintenfischfalle erinnert: einen Krug mit kurzem Hals. Eine der Erklärungen, von denen sie jetzt nicht mehr weiß, ob sie sie damals hörte oder später erst las.

„Sie sind die zweite Broken-Heart-Patientin in meiner Laufbahn“, sagte der Kardiologe, das weiß sie sicher. Und dass es war, „so wie man sich vorstellt, dass der Himmel ist“, im Kernspintomografen, dreißig Sekunden: Richtig warm und hell.* Name ist der Redaktion bekannt