: Immer wieder Antisemiten
Fast alle Mitglieder der Jüdischen Gemeinde von Delmenhorst kommen aus der ehemaligen Sowjetunion. Dass sie in Deutschland heutzutage mit Nazis konfrontiert sind, überrascht die meisten. Viele beteiligen sich deshalb an der Bewegung gegen ein Schulungszentrum für Neonazis mitten in der Stadt
Aus DelmenhorstKlaus Wolschner
Im früheren Kinosaal der Volkshochschule feiert die Jüdische Gemeinde in Delmenhorst ihre Gottesdienste – die Sitzreihen sind einfach umgedreht worden. „Wir beten nach Osten“, erklärt der Gemeindevorsteher Pedro Becerra. Es ist eine „konservative Gemeinde“, wie er sagt, was man auch daran merkt, dass das Klavier nur für den Chor der Gemeinde benutzt wird, nicht im Gottesdienst. Am Revers trägt Becerra seit einigen Wochen einen gelben Button: „Keine Nazis in Delmenhorst“ steht darauf. Bisher hat der Gemeindevorsteher keine Demonstration ausgelassen.
Auch Gemeindemitglied Sofia Rubinstein hat mitdemonstriert, zum ersten Mal in ihrem Leben an einem Protestmarsch teilgenommen, erzählt sie. „Demonstration“ – das kannte sie früher anders. „In Russland war das Pflicht, am 1. Mai und 7. Oktober. Das waren die kommunistischen Feiertage.“
Sofia Rubinstein stammt aus einer alten jüdischen Familie. Vier Generationen kann sie im Stammbaum zurückverfolgen. „Mit 18 habe ich angefangen, mich für jüdisches Leben zu interessieren“, sagt sie. Damals studierte sie Bibliothekswesen. „Da wurde mir gesagt: Wenn du nicht aufhörst, in die Synagoge zu gehen, fliegst du aus der Hochschule raus.“ 1995 wanderte mit ihrer fünfjährigen Tochter aus – nach Delmenhorst. „Ich kannte Nazis bisher nur aus Büchern und aus dem Fernsehen. Eigentlich hatte ich gedacht, hier in Deutschland kann so etwas nicht mehr passieren. Die Leute hätten das noch in Erinnerung und würden das nicht zulassen.“ Jetzt weiß sie nicht mehr, was sie denken soll, sagt sie.
Nur wenige Gehminuten entfernt vom jüdischen Gemeindezentrum steht das „Hotel am Schlosspark“, das der Neonazi Jürgen Rieger mit seiner Londoner Briefkastenfirma kaufen will, um daraus ein Schulungszentrum für Neonazis zu machen. Die Firma, eine „Ltd“, trägt den Namen des Bremer Lehrers Wilhelm Tietjen. Schon 1932 war Tietjen in die NSDAP eingetreten, ein Altnazi also, der durch Aktienspekulation Vermögen erworben hatte. Da er kinderlos blieb, wollte er mit seinem Erbe vordergründig die „Fruchtbarkeitsforschung“ fördern – „Wilhelm Tietjen Stiftung für Fertilisation“ heißt die Firma deshalb, die keine wirkliche Stiftung ist und der es in vor allem um den Ariernachwuchs zu tun ist. Der Neonazi-Anwalt Rieger verfügt über das Geld und so genau weiß niemand, wie viel es ist. 3,4 Millionen Euro soll er für das Hotel geboten haben, einen schaurigen Betonklotz aus den 70er Jahren. Die unansehnliche Immobilie liegt gegenüber vom Rathaus, direkt am idyllischen Stadtpark.
Die Jüdische Gemeinde in Delmenhorst ist erst mit der Einwanderung aus der alten Sowjetunion entstanden. „99 Prozent der Mitglieder sind Einwanderer“, sagt Vladimir Skulimovych – und nur einer kommt nicht aus der ehemaligen Sowjetunion, das ist der Gemeindevorsteher Pedro Becerra. Er ist in Chile aufgewachsen. „Gott“, sagt Vladimir dazu lachend, „kennt alle Sprachen.“
Er ist in Charkov aufgewachsen, fünf Synagogen hatte die Stadt vor dem Zweiten Weltkrieg, erzählt er. Der Vater konnte hebräisch und jiddisch. Aber seit 1945 war das jüdische Gemeindeleben in der Sowjetunion illegal, die Tradition brach ab. „Von der Generation, die nach 1945 aufgewachsen ist, kann niemand hebräisch.“ Auch er selbst nicht. Vladimir Skulimovych hat 20 Jahre als Maschinenbauer in Charkov bei einer Aufzug-Firma gearbeitet. In Deutschland hat er in seinem Beruf keine Anstellung gefunden, arbeitet jetzt als Ein-Euro-Jobber in der Jüdischen Gemeinde.
Er bringt aus der kleinen Gemeindebibliothek das Buch über die Geschichte der Juden in Delmenhorst. 180 „Volljuden“ hatten die Nazis gezählt, zuerst gerieten die „Ostjuden“ ins Visier der Delmenhorster NSDAP. Einige von ihnen schafften es, nach Palästina auszuwandern. Von mehr als 70 Mitgliedern der alten jüdischen Gemeinde ist bekannt, dass sie in Vernichtungslagern umgekommen sind. Die Spuren der meisten anderen haben sich verloren. Geblieben ist vor allem der alte Friedhof. „Tote Juden und ihre Grabsteine haben die Nazis respektiert“, spottet Skulimovych. Schon 31 ihrer Mitglieder hat die neue jüdische Gemeinde dort in den letzten Jahren begraben.
In der Jüdischen Gemeinde Delmenhorst wird heute noch russisch gesprochen. „Weil es einfacher ist“, erklärt Sofia Rubinstein. Auch die Gebührenordnung am Kopierer ist selbstverständlich russisch. Die hebräischen Gebetsbücher sind mit kyrillischer Umschrift versehen. Ja doch, es gibt auch deutsche Gemeindemitglieder, sagt sie – die Kinder. Mit ihrer Tochter hat sie, seitdem sie in Deutschland lebt, deutsch gesprochen, inzwischen ist sie 17 – und die spricht kaum russisch.
Eine Teenagerin aus dieser Generation der Einwanderer-Kinder sitzt im Gemeindezentrum am Computer. Sie nutzt die Möglichkeit, dort im Internet zu surfen, privat, sagt sie. Nein, an einer der Demonstrationen gegen den Hotel-Verkauf hat sie noch nicht teilgenommen.
Gemeindevorstand Pedro Becerra hört es nicht gern, wenn gesagt wird, dass in seiner Gemeinde russisch die „Landessprache“ ist. „Wir wollen den Menschen die religiöse Tradition nahe bringen, die meisten haben 80 Jahre keine Chance gehabt, jüdisches Leben zu erleben, aber die sollen sich natürlich auch in Deutschland integrieren“, erklärt er. Seitdem die Gemeinde existiert, das heißt seit neun Jahren, gibt es Deutschkurse in Kooperation mit der Volkshochschule, derzeit sogar fünf.
Er ist täglich in Sachen Rieger und Hotel unterwegs. „Die Erfahrung, dass es das wieder geben kann in Deutschland, ist schlimm“, sagt er. Das beunruhigt die Gemeinde natürlich. Die Gemeindemitglieder kennen Antisemitismus von rechts nicht – aber von links. „Ein wesentlicher Grund, warum die meisten hier sind, ist der Antisemitismus in der ehemaligen Sowjetunion.“ Becerra hält für die Gemeinde den Kontakt zum Delmenhorster Bürgermeister. „Mergel soll langsam begreifen, was er tut. Wenn Herr Mergel das Hotel der Stiftung schenken will, dann unterstützt er die Nazis, und dann ist er für mich ein Nazi.“ Da ist Becerra ganz apodiktisch: „Jeder ehrenhafte Kaufmann kann sich aussuchen, mit wem er Geschäfte machen will und mit wem nicht.“