: Erhebliche Fehlerdichte
RAUBKUNST Der Kunsthistoriker Stefan Koldehoff hat ein altes Buch um einen Teil über den Fall Gurlitt erweitert. Das Ergebnis ist zweifelhaft
VON MICHAEL SONTHEIMER
Am 28. Februar 2012 bekam ein alter Mann namens Cornelius Gurlitt in seiner Wohnung in München-Schwabing unangemeldeten Besuch. Einlass begehrten rund 20 Personen, angeführt von einem Staatsanwalt aus Augsburg. Die Ermittler beschlagnahmten wegen angeblicher Steuerstraftaten die komplette Kunstsammlung von Gurlitt, rund 1.280 Bilder.
Erst anderthalb Jahre später, Anfang November 2013, veröffentlichte Focus den ersten umfassenden Bericht über den Schwabinger Bilderschatz und die Ermittlungen gegen Cornelius Gurlitt. Daraufhin elektrisierte ein Verdacht viele Journalisten, jüdische Funktionäre und Politiker gleichermaßen. Handelt es sich bei vielen der Bilder Gurlitts um Raubkunst aus der Nazizeit? Die Bundesregierung, die den Fall verschlafen hatte, richtete eine Taskforce ein, um die Provenienzen der Bilder erforschen zu lassen.
Was den Fall Gurlitt so faszinierend macht, ist die Geschichte von Gurlitts Vater Hildebrand Gurlitt und seiner Kunstsammlung. Der Kunsthistoriker, der zwischen Rebellion gegen den konservativen Kunstgeschmack und Anpassung an das gesunde völkische Geschmacksempfinden hin und her oszillierte, der vom Nationalsozialismus profitierte, um sich nach dessen Untergang als dessen Opfer auszugeben; Hildebrand Gurlitt, der bei der Entnazifizierung log, der auch log, um seine von den Amerikanern beschlagnahmte Kunstsammlung zurückzubekommen. Der Kunstsammler, der in der Bundesrepublik schnell Karriere machte, steht für die deutsche Vergangenheitsbewältigung der 1950er Jahre, für Betrug und Selbstbetrug der Täter und Mitläufer. Vergessen macht frei.
Bis zum Herbst letzten Jahres interessierten sich nur ganz wenige Experten für das Thema Raubkunst, für Bilder, die in der Nazizeit zumeist Juden gestohlen wurden; oder auch Bilder, die Verfolgte im NS-Staat verkaufen mussten, um ihre Flucht zu finanzieren.
Den größten Teil hatten die westlichen Siegermächte in den 1940er Jahren restituiert, nach dem Ende der Wiedergutmachung 1969 waren diese Kunstwerke in Vergessenheit geraten. Aufmerksamkeit erfuhren sie erst wieder 1998 dank des Washingtoner Abkommens, mit dem sich Vertreter von 44 Staaten verpflichteten, solche Raubkunst zu identifizieren und mit den Erben der einstigen Besitzer gerechte Lösungen zu finden.
In der Folge verlangten Anwälte von Erben Bilder von Museen zurück, doch in vielen Fällen bissen sie auf Granit. Besonders harthörig zeigten und zeigen sich bis heute bayerische Museen. Stefan Koldehoff, der Kölner Kunsthistoriker und Journalist, hat das zähe Ringen um die Restitution von Raubkunst beharrlich verfolgt und beschrieben. Er hat die Hintergründe recherchiert und die oft geheimnisvollen Wege der Bilder beschrieben. Eine der Lehren aus der Beschäftigung mit Raubkunst ist: Jedes Bild hat seine eigene Geschichte.
Stefan Koldehoff hat Argumente für die Rückgabe von in Nazideutschland verlorenen Kunstwerken gesammelt und tritt im Zweifelsfall für eine Restitution ein. Koldehoff veröffentlichte 2009 das Buch „Die Bilder sind unter uns. Das Geschäft mit der NS-Raubkunst.“ Der Band ist ein Standardwerk über Raubkunst. Es lässt sich darin nachlesen, wie das Kölner Auktionshaus Lempertz in den 1930er Jahren bei der Versteigerung von Bildern verfolgter jüdischer Sammler prächtig verdiente. Es lässt sich lernen, wie die Freundin des jüdischen Verlegers Paul Westheim sich dessen Kunstsammlung unter den Nagel riss, nachdem dieser sich im mexikanischen Exil mit einer anderen Freu zusammengetan hatte.
Es geht auch um den Kunsthändler Bernhard Boehmer, der zusammen mit Hildebrand Gurlitt zu den offiziellen Verwertern „Entarteter Kunst“ zählte. Oder den Museumsdirektor Karl Haberstock, der gemeinsam mit Hildebrand Gurlitt in Frankreich und anderswo Kunstwerke für das in Linz geplante „Führermuseum“ zusammenkaufte.
Adenauers Sammlung
In dem jetzt wieder neu herausgegebenen Buch von Koldehoff lässt sich auch nachvollziehen, wie sorglos und unbewusst die Bundesdeutschen nach 1945 mit geraubten Kunstwerken umgingen. Als das Londoner Auktionshaus Christie’s 1970 insgesamt 36 Bilder aus der Sammlung des verstorbenen Bundeskanzlers Konrad Adenauer versteigern wollte, war auch das Gemälde „Die Flucht nach Ägypten“ von Jan De Cock dabei. Der jüdische Kunsthändler Max Stern musste es nach der Machtübernahme der Nazis verkaufen.
Bis vor sieben Jahren hing im Sitz des Bundespräsidenten ein Gemälde von Carl Spitzweg, das bis 1937 dem jüdischen Sammler Leo Brendel aus Berlin gehört hatte, der 1940 im KZ Theresienstadt ermordet wurde. Dieses Bild wurde inzwischen an die Erben restituiert, bei anderen Bildern im Bundesbesitz sperrt sich das Bundesfinanzministerium, das noch 2.200 für das „Führermuseum“ vorgesehene Kunstwerke für die Bundesrepublik verwaltet; zum Beispiel, weil ein geflohener Kunstsammler die Bilder aus der sicheren Schweiz heraus verkauft hatte.
Diese Geschichten und noch viele mehr veröffentlichte Stefan Koldehoff im Jahr 2009. Der Historiker und einstige taz-Redakteur Götz Aly lobte das Buch, eine übermäßige Verbreitung fand es nicht.
Der Markt für Sachbücher ist ein schwieriger, also denken die Verleger stets über Marketing nach. Jetzt müssen sich der Galiani Verlag und Koldehoff gedacht haben: Alle Welt redet von Gurlitt – also propfen wir auf ein altes Buch noch den prominenten Namen auf. Nun heißt der Untertitel des ansonsten so gut wie nicht überarbeiteten Werkes: „Das Geschäft mit der Raubkunst und der Fall Gurlitt.“
In der Neuausgabe finden sich lediglich 28 Seiten über den Fall Gurlitt, geschrieben mit dem Handicap, dass noch nicht einmal das Ermittlungsverfahren gegen Gurlitt abgeschlossen ist, geschweige dass die Wege der in München beschlagnahmten Bilder klar wären. Die Aufklärung steckte noch in ihren Anfängen, als Stefan Koldehoff sein Manuskript abliefern musste. Das ist misslich. Das Schreiben von Geschichte vom Ende her hat auch seine Tücken, aber das Schreiben ohne das Wissen um das Ende kann eigentlich nichts werden. Denn zu vieles bleibt unerwähnt und ungeklärt. Die in Salzburg von Gurlitts Anwälten inzwischen geborgenen 63 Bilder, die meisten Ölgemälde, viele französische Impressionisten, tauchen bei Koldehoff nicht auf. Die Frage, ob die rechtswidrige Beschlagnahmung aller Bilder von Gurlitt aufrechterhalten wird, muss unbeantwortet bleiben.
Was verschärfend hinzukommt: Bei vielem, was im Fall Gurlitt geklärt ist, finden sich in Koldehoffs Buch Fehler. Flüchtigkeitsfehler. Da hat dann Cornelius Gurlitt einen österreichischen Personalausweis und ist Österreicher, obwohl er nur die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Statt von einer Anklage schreibt Koldehoff von einer Klageschrift; Hildebrand Gurlitts Unterstützer Gerhard von Pöllnitz wird zu Baron Karl von Pöllnitz.
Eine Passage ist wohl aus dem Spiegel abgeschrieben, aber im Detail falsch. Aus dem Kunstsammler Julius Wollf wird Wolff; ein bestimmtes Bild verkaufte er 1935 statt 1936, und er wurde bei Koldehoff 1943 in ein KZ deportiert. In Wahrheit starb er schon im März 1942. Fazit: eine erhebliche Fehlerdichte.
Vielleicht wendet jemand bei diesen Details ein, solche Kleinigkeiten spielten keine Rolle. Aber das ist falsch. Die Fakten müssen stimmen, wenn Geschichte geschrieben wird. Gerade bei der Provenienzforschung ist Genauigkeit entscheidend.
Angesichts des schwachen Gurlitt-Stückes erscheint es am sinnvollsten, von Koldehoffs Buch antiquarisch die alte Ausgabe zu kaufen. Das Buch ist interessant und wichtig. Wer aber mehr und Hintergründiges über den Fall Gurlitt erfahren möchte, muss sich noch gedulden, bis Genaueres bekannt ist. Und bis irgendwann ein ordentliches Buch erschienen ist.
■ Michael Koldehoff: „Die Bilder sind unter uns“. Galiani Verlag, Berlin 2014 (Neuauflage)
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