piwik no script img

Archiv-Artikel

Freigegeben zur Verfolgung

INTEGRATION Als Junge im Wedding wurde Arye Shalicar bedroht, weil er einen Davidstern trug. Heute lebt der Deutsch-Iraner in Israel und arbeitet bei der Armee. Seine Erlebnisse in Berlin hat er zu einem Buch verarbeitet

„Ich habe ein Berlin der Vorurteile erlebt. Ich fühlte mich nicht mehr frei“

ARYE SHALICAR

VON CHAIM NOLL

Ein jüdischer Junge an einer Schule in Berlin. Die Mitschüler sprechen nicht mit ihm, rufen ihm Schimpfworte hinterher, nennen ihn „Scheißjude“. Lauern ihm an der Straßenecke auf, um ihn zu verprügeln. Wann spielt die Geschichte? Das kann nur in der Hitler-Zeit sein, in den dreißiger, vierziger Jahren. Die anderen Kinder, das sind die Kinder von Nazis. Doch Arye Shalicars Geschichte spielt im Berlin unserer Tage. Die Kinder, die den jüdischen Jungen verhöhnen und verprügeln, sind „Deutsche mit Migrationshintergrund“, Kinder und Enkel von Türken und Arabern.

Als Arye Shalicar in Israel seine Lebensgeschichte aufschrieb, die dieser Tage unter dem Titel „Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude“ erscheint, wusste er nichts von Sarrazin und der Debatte über „Integration“. Er wollte sich drückende Erinnerungen von der Seele schreiben: an seine Kindheit und Jugend in Berlin. Arye, geboren 1977 in Göttingen, ist der Sohn von nach Deutschland eingewanderten Persern, die sich von anderen Einwanderern aus islamischen Ländern in einem unterscheiden: sie sind Juden. Der Umstand, dass sie ihr Judesein verschweigen, sagt genug über die Lage der Juden im Iran. Sehr aufschlussreich ist das Kapitel des Buches, in dem Arye aus Erzählungen seiner Eltern und Verwandten das Leben der winzigen jüdischen Gemeinde im Reich der Mullahs rekonstruiert.

Die Mauern blieben stehen

Sein Vater ist noch in der Mellah geboren, dem traditionellen Judenghetto der muslimischen Länder, im Iran Mahle genannt. Anders als in Europa sind die Mauern dieser Ghettos nicht gefallen: keine Französische Revolution, kein Code civil, keine „bürgerliche Emanzipation der Juden“. 1948, gleich nach Gründung des Staates Israel, wurde fast eine Million Juden aus islamischen Ländern vertrieben, eine Vertreibung, die man – anders als die palästinensische – kaum je erwähnt. Es liegt auch daran, dass der jüdische Staat diese knappe Million Menschen in kürzester Zeit aufnahm und sozialisierte, während die palästinensischen Flüchtlinge in Syrien, Jordanien oder im Libanon bis heute in Flüchtlingslagern leben.

Arye Shalicars Familie gehörte zu den wenigen, die blieben. Zunächst. Die Schikanen der Behörden und die Feindseligkeiten von Nachbarn sorgen aber dafür, dass die Familie allmählich auswandert, teils in die USA, teils nach Israel oder – wie Aryes Eltern – nach Deutschland. Der Vater findet Arbeit bei Karstadt, die Mutter macht sich in Berlin mit einer Boutique selbständig. Eine Einwandererfamilie, die sich erfolgreich „integriert“. Man wohnt im Wedding. Arye und seine Geschwister besuchen deutsche Schulen, Hauptschule oder Gymnasium.

Im Sommer fliegt die Familie nach Israel, wo Verwandte leben, auch die beiden Großmütter. Sie schenken ihrem Enkel, ehe er nach Berlin zurückkehrt, ein goldenes Kettchen mit einem Davidstern-Anhänger und denken nichts Arges dabei. Der sechseckige Stern ist heute ein so alltägliches Symbol, dass es außerhalb ihrer Vorstellbarkeit liegt, er könnte in einem demokratischen, westlichen Land wie der Bundesrepublik Ärgernis erregen. Arye trägt den Davidstern-Anhänger, als er im Herbst wieder in seine Berliner Schule geht. Auch er denkt sich nichts dabei, tragen doch viele Jungs in seiner Klasse goldene Ketten mit Anhängern, sein türkischer Banknachbar zum Beispiel ein goldenes Schwert. Vergebens versucht Aryes Vater seinen Sohn zu überreden, den Davidstern unter dem T-Shirt zu verbergen. Der Sohn hält sich nicht daran. Damit beginnt sein Martyrium, das Martyrium eines Juden im heutigen Deutschland.

Denn Aryes Berliner Schule hat einen großen Anteil muslimischer Schüler. Bisher haben sie Arye für einen der Ihren gehalten, weil er aus dem Iran stammt und Persisch spricht. Weil er das Kind von Migranten in Deutschland ist wie sie. „Als schwarzhaariger, dunkeläugiger, dunkelhäutiger Junge orientalischen Ursprungs war ich akzeptiert. Fast alle um mich herum sahen genauso aus.“ Der Traum von der Gemeinsamkeit platzt, als er den sechseckigen Stern zeigt, das Geschenk seiner Großmutter. Damit hat er freiwillig getan, was die deutschen Juden in der NS-Zeit per Dekret tun mussten: sich äußerlich als Jude gekennzeichnet. Er ist fortan in den Straßen um den Bahnhof Gesundbrunnen, Jahrzehnte nach Hitler, mitten in einer Gesellschaft, die ihre Vergangenheit bewältigt, aus ihren Fehlern gelernt zu haben erklärt, zur Verfolgung freigegeben, ein Gezeichneter, ein Opfer.

Auch in diesen Kapiteln bewahrt Arye Shalicars Buch seinen kühlen, leidenschaftslosen, hintergründig humoristischen Ton. Er beschreibt genau, wie man ihn gemobbt, erniedrigt, misshandelt hat. „Bisher hatte ich zur Mehrheit gehört“, schreibt er, „jetzt war ich zur Minderheit der Christen bzw. Nicht-Muslime verstoßen“. Die Jungen in seiner Klasse sprechen nicht mehr mit ihm. Auf der Straße tritt ihm ein junger Türke, der bisher Fußball mit ihm gespielt hat, in den Weg und droht: „Jude, ich will dich hier nie wieder sehen. Wenn ich dich das nächste Mal sehe, wird es dir schlecht ergehen.“ Das Absurde an diesen Mitteilungen ist, dass sie in deutscher Sprache erfolgen, der einzigen Sprache, die all diesen Einwanderer-Kindern halbwegs gemeinsam ist.

Es ist ein buntes Völkergemisch: Türken, Libanesen, Araber, Perser, Kurden. Untereinander gibt es ethnische Spannungen, Hass und Rivalitäten, aber nach außen, gegen Christen und Deutsche, auch gegen Arye, den jüdischen Paria, eint sie die große Gemeinsamkeit, Muslime zu sein. Wer die Geschichte des Islam auch nur ungefähr kennt, weiß, wie wenig diese Gemeinsamkeit trägt. Bis heute ist der Mittlere Osten zerrissen von den Kämpfen und Kriegen zwischen Schiiten und Sunniten, Arabern, Persern, Türken, Kurden. Doch hier, im Berliner Migranten-Biotop, scheint der Koran einigende Kraft zu besitzen.

Aus seiner bedrängten Lage wurde Arye durch einen arabischen Kurden befreit, den sein Judesein nicht interessierte, der ihm Protektion durch seinen mächtigen Clan anbot. Allerdings um den Preis, dass Arye Mitglied seiner Straßenbande wurde. „Ich hatte die Wahl, mitzumachen oder ein Opfer zu sein“, sagte Arye, als wir dieser Tage in Jerusalem darüber sprachen. „In Berlin wäre ich heute entweder kriminell oder tot.“ Arye wurde verhaftet, wäre fast ins Gefängnis gekommen, doch man hielt ihm zugute, dass er zur Bundeswehr gehen wollte. Dort, unter Deutschen, hat er keinerlei Verfolgung mehr erlebt.

Er leistete seinen Wehrdienst ab, anschließend verbrachte er ein Jahr bei Verwandten in den USA. Dann entschied er sich für Israel. Dort ging er nochmals zur Armee, wo er es inzwischen zum Hauptmann gebracht hat, und wurde an der Hebräischen Universität graduiert. Auf Grund der vielen Sprachen, die er spricht, engagierte ihn das Verteidigungsministerium als Armeesprecher für Europa. Vor einigen Wochen hat er in Jerusalem geheiratet: ein Mädchen, das aus Deutschland eingewandert ist.

Die Autobiografie dieses 33-Jährigen ist atemberaubend. „Ein ganz normaler Berliner Junge“, ist eins der Kapitel überschrieben, und wirklich: der israelische Offizier Arye Shalicar ist eigentlich ein Berliner. „Dieser Stadt habe ich heute den Rücken gekehrt“, schreibt er. „Mein Berlin war nicht das Berlin der Nachrichten, der Touristen oder Künstler. Ich habe ein Berlin des Hasses und der Vorurteile erlebt (…) Ich fühlte mich dort bedrückt und gequält. Ich fühlte mich nicht mehr frei.“

■ Arye Sharuz Shalicar: „Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude“. Die Geschichte eines Deutsch-Iraners, der Israeli wurde. Mit einem Vorwort von Richard C. Schneider. dtv-Verlag, München 2010, 240 Seiten, 14,90 Euro