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Archiv-Artikel

Platte, Brache, Lärm und Megashopping

STADTBEGEHUNG Die Landsberger Allee gilt als besonders autogerecht unter den Berliner Ausfallstraßen. Zu Recht: Läuft man die elf Kilometer vom Platz der Vereinten Nationen bis an den Rand Marzahns mal zu Fuß, hat man hinterher viel Dreck in der Nase und ein Rauschen im Ohr

TEXT NINA APIN FOTOS WOLFGANG BORRS

12 Uhr mittags, Platz der Vereinten Nationen. Die Sonne bescheint den Volkspark Friedrichshain, doch von Lieblichkeit keine Spur: Das Vogelgezwitscher geht im Motorenlärm unter. Von allen Seiten drängen Autos und Lastwagen auf die Landsberger Allee, die hier ihren Anfang nimmt. In ihrer Mitte glänzt der Schienenstrang der Straßenbahn. So sieht eine Verkehrsader aus, die das Innen mit dem Außen verbindet: Funktional. Für möglichst viele Verkehrsteilnehmer ausgelegt. Am wenigsten für Fußgänger. Vielleicht aber verspricht eine Wanderung entlang dieser längsten Berliner Radialstraße, die von Friedrichshain über Lichtenberg und Hohenschönhausen bis nach Marzahn führt, einige Erkenntnis über die Stadt. Wie fühlt sich der Übergang vom Innen ins Außen an? Wie lebendig, wie lebenswert ist die Verkehrsader aus einer Fußgängerperspektive?

Am Straßenrand wirbt das Schild einer Immobilienfirma für das Wohnprojekt „My Berlin“. Der Slogan: „Mein Vorgarten heißt Volkspark Friedrichshain“ klingt wie ein Witz. „Na ja, nach hinten raus geht’s“, kommentiert ein Bauarbeiter das, was er gerade am Straßenrand hochzuziehen hilft. Nach vorne raus haben nicht mal die Toten Ruhe: Im Friedhof gegenüber dem Klinikum am Friedrichshain muss man viele Schritte gehen, bis sich Stille einstellt.

Grün wird überschätzt

Links Wohnbebauung, rechts ein Kino, ein Stoffladen – auf dem Abschnitt bis zur Petersburger Straße präsentiert sich die Landsberger Allee ausgesprochen öde; sonst ist niemand zu Fuß unterwegs. Am Eingang zum ehemaligen Kunsthaus in der Nummer 54 klebt die Plakette einer Securityfirma, aber die Tür ist offen. Auf dem Brauereigelände sind noch die bunten Spuren der Künstler zu sehen, die Ende 2011 das Gelände verlassen mussten. Im ehemaligen Kantinenhäuschen schiebt ein Wachmann Dienst, das Interieur mit dem Kohleöfchen und den Holztischen ist original DDR. Der Wachmann fragt sich selbst, was er eigentlich bewachen soll: „Bischen Schutt rausgeholt, paar Bäume abgesägt, dann war ewig keiner mehr hier“, beschreibt er die Bauaktivitäten auf dem Gelände. Er selber liebe übrigens die Landsberger Allee, sagt er. Eine tolle Straße sei das, „breit und urban, wie in China“. Grün werde sowieso überschätzt – er schreit es als Abschiedsgruß am Tor, gegen den Autolärm.

An der Kreuzung Petersburger Straße ballt sich noch einmal das innerstädtische Leben: Friedrichshain! Innenstadt! Auf der gegenüber liegenden Straßenseite das Sport- und Erholungszentrum, ein rosa-lila Koloss des Breitensports. Rechts eine Ladenzeile mit Supermarkt, Cafés, Dönerbuden und Bistros, auf der Straße herrscht Betrieb. Auf den Steinstufen vor dem Velodrom sitzt um die Zeit noch niemand. Die Innenstadt endet unspektakulär mit dem hässlichen Forum Landsberger Allee links und dem Blick hinab auf die S-Bahn-Trasse rechts – in der Mitte verschwinden U- und Straßenbahn. Ein unübersichtliches Verkehrsgewusel, in dem man sich zu Fuß verloren fühlt. Immerhin: Ein Schild verspricht die „Herstellung zusätzlicher Fußgängerfurten“.

Die Schilder für Autofahrer

Hinter dem S-Bahn-Ring endet das Stadtzentrum, beginnt die Außenstadt. Der Fußmarsch stadtauswärts wird spätestens ab hier exotisch. Große Schilder weisen den Weg – dem Autofahrer: Links geht es nach Weißensee, rechts nach Lichtenberg, geradeaus nach Hohenschönhausen und Marzahn. Hier zählen die großen Distanzen, die Landsberger Allee ist jetzt ein purer Verkehrszubringer. Die Plattenbauriegel links und rechts weichen von der Straße zurück, an den Blockecken nur dürre Grünflächen oder Parkplätze. An der Ecke Karl-Lade-Straße verspricht ein Plakat der Wohnungsgenossenschaft Lichtenberg: „Unsere Mieten machen Urlaub“. Aber wer sonst will hier schon Urlaub machen? Es stinkt nach Abgasen, ein paar Mütter mit Kinderwagen und RentnerInnen verschwinden eilig zwischen den Hochhäusern. Am Anton-Saefkow-Platz zwei fest installierte Holzstühle, zwei ältere Russen plaudern in der Sonne, den Lärm ignorierend, dahinter beginnt die Siedlung Fennpfuhl. Auch sie wendet sich von der Straße ab.

Weiter geradeaus, quer durch Lichtenberg, dem Endpunkt Marzahn entgegen. Rechts die Backsteingebäude des Zwischenpumpwerks Lichtenberg. Laut Klingelschild wohnen auch Privatleute auf dem Gelände. „Bestimmt sehr schöne Wohnungen“, sagt die Pförtnerin. Für die Hälfte des Geländes, das verkauft werden soll, finde sich aber einfach kein Investor: „Bowlingbahn, Restaurant – irgendwie wird das hier nix.“ Sie empfiehlt, gegenüber beim Schlachter Mittag zu essen: „Sonst kommt bis Marzahn nix mehr!“

13.30 Uhr, kurze Rast. Im „Alt-Berliner Schlachthof“ sagt man nicht „Guten Tag“, sondern „Mahlzeit“. Die Portionen sind riesig, Kohlroulade oder Bratkartoffeln mit Bulette und Mischgemüse. Unvermutet idyllisch wird es eine Kreuzung weiter, am Wasserwerk. Wenige Meter parallel zur Straße windet sich ein neu asphaltierter Fuß- und Radweg durch die Laubenkolonie „Weiße Taube“. Erstmals stellt sich beim Gehen ein Anflug von Wanderlust-Gefühl ein. Das Idyll wird zerschnitten von der Siegfriedstraße. Die Landsberger Allee wird zum Land der Rieseneinkaufszentren. Es staubt gewaltig, Bagger knabbern an einem Stahl-Glas-Bau im Achtziger-Jahre-Stil. „Hier war der Möbel-Max“, erzählt ein Ehepaar auf dem Weg zur Tram. Ein schönes Zentrum sei das gewesen, mit Supermarkt, Bäcker, Kneipe. Und jetzt? „Kommt zur Abwechslung ein Möbelladen rein – wo direkt dahinter Ikea ist“, schnaubt die Frau. Möbel haben sie genug, aber ein Lebensmittelladen in Laufnähe, das wär’s!

Ohrenbetäubend der Lärm

Globus-Baumarkt und Ikea: Megashopping mit Straßenbahnanschluss. Gegenüber eine große Brache mit Investorenschild: „Am Schönsten ist es hier bei uns zu Hause“, dahinter Einfamilienhäuser älteren Datums. Die Landsberger Allee geht jetzt bergab. Unten in der Senke, Ecke Rhinstraße, stinkt es. Die Gerüche aus dem Pumpwerk vermischen sich mit denen der Tankstellen und Autowaschanlagen. Die Tram verlässt hier die Fahrbahnmitte und fährt links, um dem Autostrang noch mehr Platz zu machen. Ohrenbetäubender Lärm. Zu Fuß geht man hier nicht: Marzahn.

Die Bahntrasse, äußerer Ring. Unten das Orwo-Haus, eine altes Hochhaus, in dem Musiker proben. Schwach klingt Schlagzeuggetrommel aus den offenen Fenstern. Schnell über die Brücke. Plötzlich endet der Weg. Die drüben ankommenden Trampassagiere verschwinden durch ein Loch nach unten. Geradeaus geht es nur für die Autos, die auf die Plattenbauskyline von Zentral-Marzahn zufahren wie in einem Science-Fiction-Film. Fußgänger müssen durch die Unterführung, runter zum Gewerbepark „Otto Knorr Bremse“, über dem die Autos donnern. Eine Tafel vor dem Gelände erinnert an den namengebenden Ingenieur, der auf dem Gebiet der „pneumatischen Steuerung der Bremsen von Schienenfahrzeugen“ Pionierarbeit geleistet hat. Hier unten scheint Marzahn Downtown weit. Ein DHL-Fahrer erklärt, wie man zu Fuß rüberkommt: Eine rostige DDR-Überführung leitet zum S-Bahnhof Marzahn, dem Zentrum der Draußenstadt.

Das Eastgate, eine geschwungene Mega-Mall, ragt zwischen zwei Straßenkreuzungen auf. Hier ist alles groß und viel – die Kinos, die Straßen, die Busse, die in Reih und Glied warten. Man hört Russisch, Vietnamesisch und breites Berlinerisch. Sonnenbankbräune, Männer mit Glatzen und Muckis, blondierte Frauen mit künstlichen Fingernägeln. Drinnen heißen die Läden „Gina Laura“ und „Forever 18“, es riecht nach Raumspray.

Hin zur Landsberger Allee dann doch unvermutete Kleinteiligkeit: Marktstände mit Hundezubehör und China-Nippes für 99 Cent das Stück. Inmitten der Großsiedlung wirkt die mächtige Verkehrsader fast dezent, sie gleitet gleichmütig an endlosen Plattenbaureihen vorbei, während stadtauswärts plötzlich alles klein und niedlich wird: „Das Angerdorf Marzahn, mit Windmühle und Stüler-Kirche“, erklärt eine Passantin stolz. Der Tierhof mit seinen Hühnern und Ziegen wirkt wie ein Zeichen, dass es mit dem Stadtraum bald zu Ende geht. Hinter dem Blumberger Damm die Autobahnschilder, gegen 16 Uhr drängt der Verkehr auswärts. Die Ungeduld einer Fußgängerin gegenüber ist spürbar – an den Zufahrten zu Tankstellen und Autocentern heißt es beiseitespringen. Am Brodowiner Ring noch ein Highlight: das denkmalgeschützte Haus Nummer 563 mit dem Wandbild des Künstlers Otto Schack erinnert an den Einzug der Roten Armee 1945.

16.30 Uhr, Ecke Zossener Straße. Hier wird die Landsberger Allee zur Chaussee. Nach elf Kilometern und viereinhalb Stunden ist die Wanderung von innen nach außen zu Ende. Bilanz: beim Schnäuzen ein schwarzes Taschentuch und ein Dauerrauschen im Ohr.