: Chancengebiet statt Gefahrengebiet
PROBLEMKIEZ In Wilhelmsburg, einem „sozialen Brennpunkt“ Hamburgs, beginnt ein Schulversuch der besonderen Art. Waldorflehrer und Pädagogen einer staatlichen Grundschule kooperieren dort miteinander
VON ANGELIKA SYLVIA FRIEDL
Schulen in sozialen Brennpunkten haben einen schweren Stand. In Leistungsvergleichen liegen sie regelmäßig auf den hinteren Plätzen. Bildungsbewusste Eltern fahren oft kilometerweit, damit ihre Kinder eine andere Schule besuchen können. Oder sie gründen gleich eine neue Schule. Einen anderen Weg versucht die staatliche Grundschule Fährstraße in Hamburg-Wilhelmsburg: Ab dem nächsten Schuljahr steht Waldorfpädagogik im Lehrplan.
In Wilhelmsburg, Deutschlands größter bewohnter Flussinsel, leben Menschen aus 40 Nationen. Mehr als ein Viertel der Einwohner des Stadtteils bezieht Hartz IV, mehr als die Hälfte hat einen Migrationshintergrund, bei den Jugendlichen sind es 75 Prozent. In der Grundschule Fährstraße beträgt der Anteil 90 Prozent. Doch seit einigen Jahren erlebt Wilhelmsburg einen Aufschwung. Studenten und Besserverdiener ziehen in den einstigen Arbeiterbezirk, auch weil die Wohnungen hier noch bezahlbar sind. Ihren Nachwuchs wollen sie aber nicht in sogenannte Problemschulen schicken.
„Multikulti finden ja viele toll, aber wenn der Sohn der einzige deutschsprachige Schüler ist, ist das doch bedenklich“, sagt Oliver Domzalski, Vorstandmitglied im Verein Interkulturelle Waldorfpädagogik. Die Initiative, die im Stadtteil bereits zwei Waldorf-Kindergärten betreibt, plante ursprünglich, eine neue Privatschule zu gründen. Bei der Hamburger Schulbehörde stieß der Antrag aber auf wenig Gegenliebe. Stattdessen überraschte die Behörde mit einem Vorschlag: Mithilfe des Vereins sollen zukünftig Elemente der Waldorf-Pädagogik in den Unterricht der Grundschule Fährstraße einfließen – wie zum Beispiel die Epochenphasen, in denen ein Fach sechs Wochen lang bearbeitet wird, musische, künstlerische und handwerkliche Lernangebote sowie größere Projektarbeiten. „Damit möchten wir ein attraktives Bildungsangebot für alle Kinder in Wilhelmsburg entwickeln, egal, ob die Kinder mit Migrationshintergrund, mit Startschwierigkeiten aufgrund von Lernrückständen oder mit besten Leistungsvoraussetzungen in diese Schule kommen“, erläuterte Schulsenator Ties Rabe bei der Vorstellung des Projekts. Erklärtes Ziel des Versuchs: die Schere zwischen armen und wohlhabenden Bürgern nicht noch größer werden zu lassen.
Fast 40 Schüler wurden bereits angemeldet, so können für das kommende Schuljahr ab August 2014 drei erste Klassen gebildet werden. Die beiden bisherigen Elternabende stießen auf reges Interesse – bei Tee und Keksen ließen sich türkische, afghanische, bulgarische, persische und deutsche Eltern per Powerpoint Präsentationen über das neue Schulkonzept informieren. Keine leichte Aufgabe, denn nur für einige Eltern war Waldorfpädagogik kein Fremdwort. Die Schüler der neuen ersten Klassen kommen aus vielen Nationen, etwa sechs sprechen Deutsch als Muttersprache. Im übernächsten Schuljahr werden es noch mehr deutschsprachige Kinder sein. Mit der neuen Zusammensetzung entspannt sich vielleicht in Zukunft die schwierige Situation in der Grundschule Fährstraße. Denn in den vergangenen Jahren mieden viele Eltern die Schule. „Die Lehrer hier machen einen tollen Job, weil sie trotz aller Schwierigkeiten Schule als soziale Organisation aufrechterhalten“, sagt Oliver Domzalski.
Die meisten Lehrer der Fährstraße stehen der Fusion aufgeschlossen gegenüber. 21 haben dafür gestimmt, acht waren dagegen. „Bei unseren Gesprächen mit der Projektgruppe der Schule zeigte sich, dass die Lehrer eine ähnliche Auffassung von Unterricht haben wie wir. Auch sie wollen zum Beispiel keine standardisierten Leistungstests und wünschen sich eine gute Mischung von kognitiven mit nicht kognitiven Elementen und eine größere Zugewandtheit den Schülern gegenüber“, erzählt Domzalski, ein 53-jähriger Lektor.
Doch nicht alle finden den Schulversuch gut. So startete ein Bremer Grundschullehrer im Namen der „Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften“ (GWUP) eine Onlinepetition, um Stimmen gegen das Projekt zu sammeln. Die ehemalige Sektenbeauftragte Hamburgs, Ursula Caberta, nannte es sogar „Klopper des Jahrhunderts“. Die Kritiker eint die Angst vor angeblich antiaufklärerischen und esoterischen Ideen der anthroposophischen Lehre, die nun Einzug ins staatliche Schulwesen halten würden. Die Schulbehörde reagierte gelassen auf die Vorwürfe. Man wolle nicht die Lehre Steiners in die Schulen entsenden, so Schulsenator Rabe, sondern waldorfpädagogische Elemente verwenden, die mit den Bildungsplänen vereinbar seien. Das konkrete Unterrichtskonzept müssen die Planer aber erst noch erstellen. Die Lehrer sind „ordentliche“ Lehrkräfte, haben also das erste und zweite Staatsexamen und brauchen eine Zusatzausbildung in Waldorf-Pädagogik. Zurzeit werden dafür noch drei Lehrer gesucht. So ganz neu ist die Idee einer Kooperation zwischen Staats- und Waldorf-Schule übrigens nicht. Seit 1950 hat auch die Albert-Schweitzer-Schule im Hamburger Bezirk Klein Borstel eine Waldorf-Ausprägung.
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