piwik no script img

Essen von fremden Tellern

Hungernde Kinder gibt es in Berlin nicht – aber chronisch hungrige. Private Einrichtungen helfen

VON SOPHIE HAARHAUS

Vor dreizehn Jahren war alles anders in Neukölln, erinnert sich Volker Reetz. Damals brachte er seine ältere Tochter zur Kita und sah den Kindern zu, wie sie ihr Frühstück auspackten. „Da herrschte noch Friede, Freude, Eierkuchen“, sagt er. Das mit dem Eierkuchen ist sozusagen wörtlich gemeint. Zehn Jahre später, als seine zweite Tochter dieselbe Kita besuchte, stellte Reetz fest, dass nur noch die Hälfte der Kinder ein Frühstück mitbrachte – und während die einen ins Käsebrot bissen, mussten ihnen die anderen dabei zugucken.

200.000 Kinder leben in Berlin unterhalb der Armutsgrenze, meldet der Deutsche Kinderschutzbund zum heutigen Weltkindertag – die Zahl hat sich in den vergangenen fünf Jahren fast verdoppelt. Nicht alle starten hungrig in den Tag, aber es ist ein weit verbreitetes Symptom. Weil öffentliche Einrichtungen den Bedarf an Kindermittagstischen nicht mehr auffangen können, kümmern sich immer mehr private Organisationen um die Versorgung von Grundbedürfnissen.

Und der Andrang auf die freien Träger wächst weiter: Die Arche, die seit Jahren in Hellersdorf einen Mittagstisch organisiert, bekam im vergangenen Jahr großen Zuwachs: Jetzt erhalten 350 Kinder am Tag eine warme Mahlzeit – fast 100 mehr als vor der Einführung von Hartz IV. Dabei müssen die Träger das Essen über Spenden finanzieren. Sie erhalten zwar von den Bezirken Mittel für Kinder- und Jugendprojekte, aber nach geltendem Recht dürfen sie keine öffentlichen Gelder für Lebensmittel ausgeben.

Auch Volker Reetz hat inzwischen eine private Hilfsorganisation gegründet. Erst brachte er den Spielkameraden seiner Tochter jeden Morgen Lebensmittelspenden aus Bäckereien und Geschäften. Mittlerweile beliefert der Verein Kittis e.V. im Rahmen der Aktion „Frühstück für Kinder“ rund 40 Neuköllner Kindertagesstätten. Auch Schulen haben bereits bei Reetz angefragt. Denn auch zum Unterricht kommen immer mehr Kinder ohne zweites Frühstück oder Pausenbrot.

Während sich der Kinderschutzbund in einem seiner Projekte um die Finanzierung von Kita-Essensgeld für arme Familien kümmert, hat auch auch das Deutsche Rote Kreuz einen Kindermittagstisch in Marzahn eröffnet. „Viele Kinder kommen aber nicht zu uns, weil sie wirklich hungern müssen, sondern weil sie einfach vernachlässigt sind“, erklärt DRK-Sprecher Rüdiger Kunz. Viele Familien würden den Wert von gemeinsamen Mahlzeiten und einer festen Tagesstruktur überhaupt nicht mehr kennen, sagt er.

Der Leiter der Arche, Kai-Uwe Lindloff, warnt hingegen davor, die Kinder nur als Opfer von Verwahrlosung zu sehen. Immer mehr kämen ab der Monatsmitte – wenn im elterlichen Etat einfach kein Geld mehr für das Mittagessen übrig ist.

Durch die Hartz-IV-Regelungen steht den betroffenen Familien weniger Geld zur Verfügung, mit dem sie entsprechend verantwortungsvoll umgehen müssen. Besondere Anschaffungen für die Kinder sind nicht mehr über Gutscheine geregelt wie im alten Sozialhilfesystem. Das bedeutet, dass die Eltern monatlich einen Teil ihres ohnehin knappen Budgets zur Seite legen müssen, um ihren Kindern beispielsweise einen Wintermantel kaufen zu können. Wenn das Geld am Anfang des Monats eintrifft, scheitern aber viele Familien schon daran, die Lebensmitteleinkäufe für die kommenden Wochen zu kalkulieren. Und wenn das Essen in den Familien wirklich knapp wird, sind die Kinder die Leidtragenden.

Ganz unproblematisch ist die Versorgung der Kinder durch private Organisationen nicht, sagt Sabine Walther, Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes. So wollen etwa die privaten Stifter des Spandauer Jugendhauses Jona „den Kindern Gottes Liebe weitergeben“, indem sie gemeinsam vor dem Essen beten. Damit finde, so Walther, über die Grundbedürfnisversorgung eine klare Einflussnahme statt. Trotzdem hält sie private Einrichtungen für notwendig.

„Das soziale Gefüge in Berlin funktioniert nicht mehr“, glaubt auch Volker Reetz. „Wenn diesen Kindern geholfen werden soll, bleibt uns nichts anderes übrig, als das selber zu tun.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen