: Unter Verdacht
ETIKETTENKOSMETIK „Ohne Glutamat“, „ohne künstliche Zusatzstoffe“ – das klingt erst mal gut. Aber ist Chemie in Lebensmitteln wirklich nur schlecht? Und Natürliches immer gesund? Zeit, mit ein paar Vorurteilen aufzuräumen
■ Das Gesetz: Bei verpackten Lebensmitteln müssen Zusatzstoffe im Zutatenverzeichnis aufgeführt werden. Ihre Kennzeichnung setzt sich aus zwei Teilen zusammen: ihrem technologischen Nutzen, also wozu der Stoff eingesetzt wurde, und ihrem Namen. Als Name gilt entweder die E-Nummer oder die chemische Bezeichnung. Werden beispielsweise Trockenfrüchte mit Sorbinsäure länger haltbar gemacht, steht dort „Konservierungsstoff: Sorbinsäure“ oder „Konservierungsstoff E 200“.
■ Der Buchstabe: Das „E“ steht für Europa, denn in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gelten dieselben Bezeichnungen. In den Achtzigerjahren hingen die Küchen voll mit E-Listen; die Furcht vor krebserregenden Zusatzstoffen – zum Beispiel E 123 – war groß.
■ Die Infos: Unter www.zusatzstoffe-online.de finden sich Informationen zu Gesetzgebung und Allergien. In Hamburg gibt es seit 2008 sogar ein Zusatzstoffmuseum: www.zusatzstoffmuseum.de.
VON CHRISTINA REMPE
Gummibärchen sollen bunt, der Fruchtaufstrich darf nicht zu flüssig sein. Bei der Tütensuppe ist Würze und eine schnelle Zubereitung gefragt. Wünsche, die Zusatzstoffe problemlos erfüllen können. Trotzdem will sie niemand haben: Sie rauben den Lebensmitteln die Unschuld, sind Sinnbild der hochindustrialisierten Lebensmittelherstellung. Das wissen auch die Hersteller und setzen daher auf „Clean Label“ – „reines Etikett“. Die einfache Botschaft von Hinweisen wie „ohne künstliche Farbstoffe“ oder „ohne Glutamat“ lautet: Wir verzichten auf zulassungspflichtige Zusatzstoffe.
Schnell kommt der Gedanke, dass die Produkte dadurch natürlicher, besser und gesünder sind. So einfach ist das aber nicht. Denn Zusatzstoffe lassen sich nicht generell als künstlich und damit schlecht abstempeln. Einzelne Personen können zwar auf bestimmte Zusatzstoffe empfindlich reagieren, Asthmatiker beispielsweise, oder Menschen mit Neurodermitis.
Seit Juli 2010 müssen Azofarbstoffe wie Azorubin, Tartrazin und Chinolingelb sogar durch einen Warnhinweis auf der Verpackung kenntlich gemacht werden – die Farbstoffe stehen unter Verdacht, Konzentrationsprobleme und Hyperaktivität bei Kindern auszulösen und sind in vielen Süßigkeiten und Getränken enthalten.
Einen Generalverdacht rechtfertigt das allerdings nicht. Zusatzstoffe haben einen Nutzen – und viele von ihnen kommen auch in der Natur vor. Ob ein Stoff schädlich ist oder nicht, hängt nicht zwangsläufig mit seiner Herkunft zusammen.
Die Zutatenliste auf dem Etikett soll den Verbraucher informieren. Darin finden sich aber oft Namen, die mehr an Chemie als an Lebensmittel erinnern: Farbstoff Chinolingelb, Säuerungsmittel Calciumcitrat oder Verdickungsmittel Propylenglycolalginat steht da geschrieben. Wahlweise auch schlicht ein Zahlenschlüssel, kombiniert mit einem großen „E“: Zusatzstoffe.
Nach dem Lebensmittelrecht gelten Zusatzstoffe als Lebensmittel. Sie dürfen nicht gesundheitsschädlich sein. Das zu beweisen, ist Aufgabe der Hersteller: In einem aufwendigen Zulassungsverfahren wird festgelegt, in welchen Mengen und für welche Lebensmittel ein Zusatzstoff verwendet werden darf. Zusatzstoffe werden Lebensmitteln absichtlich zugesetzt, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Zum Beispiel verbessern sie die Haltbarkeit oder sorgen dafür, dass die Farbe eines Lebensmittels länger stabil bleibt. Zusatzstoffe dürfen den Verbraucher aber nicht täuschen. Deshalb müssen sie nicht nur auf verpackter, sondern auch bei loser Ware gekennzeichnet werden.
Doch gerade diese Kennzeichnung macht sie offenbar verdächtig, denn ihre Namen und umso mehr ihre „E“-Nummern lassen an künstliche Verfahren denken, die nichts mit der Natur gemeinsam haben. Oftmals ist das ein Trugschluss, da viele Zusatzstoffe natürlichen Ursprungs sind. So ist der Konservierungsstoff Benzoesäure (E 210) auch in Blaubeeren zu finden. Das Verdickungsmittel Agar-Agar (E 406) wird aus Rotalgen gewonnen und das Antioxidationsmittel Zitronensäure (E 330) kommt in zahlreichen Obst- und Gemüsearten vor. Und mengenmäßig lässt sich die Natur nicht lumpen: Einhundert Gramm Tomaten enthalten rund dreihundert Milligramm Zitronensäure, dieselbe Menge Orangen enthält mehr als dreimal so viel. Das ist sehr viel mehr Säure, als das bisschen, das den Senf vor dem Braunwerden schützt.
Auch Erfrischungsgetränke wie Eistee haben ungefähr denselben Zitronensäuregehalt wie Tomaten. Dass Zitronensäure schlecht für die Zähne ist, gilt als erwiesen. Die Säure in den Tomaten und die im Eistee sind also gleichermaßen schlecht für die Zähne. Nur bei Tomaten beschwert sich niemand.
Ob es nun um den Zusatz natürlicher Stoffe geht oder um natürlich zusammengesetzte Lebensmittel: Der Begriff „natürlich“ ist zweifellos positiv besetzt. Dabei sind viele natürlich vorkommende Inhaltsstoffe tatsächlich weitaus gefährlicher als die synthetisch hergestellten Reinsubstanzen, wenn diese kontrolliert zugesetzt werden. Die häufigsten Allergieauslöser sind beispielsweise natürliche, unverarbeitete Lebensmittel wie Kuhmilch oder Nüsse.
Die besondere Kennzeichnung der Zusatzstoffe in der Zutatenliste sollte den Verbraucher eigentlich schlicht besser informieren. Doch das System hat einen Haken. Denn einige Stoffe, die aus Lebensmitteln isoliert werden und wie Zusatzstoffe wirken, fallen nicht unter deren gesetzliche Definition. Damit müssen sie nicht zugelassen werden, erhalten keine E-Nummer und müssen auch nicht als Zusatzstoff gekennzeichnet werden.
Ein klassisches Beispiel dafür ist der Ersatz des Geschmacksverstärkers Glutamat durch Hefeextrakte. Hefeextrakt enthält nämlich selbst große Mengen Glutamat. Der Emulgator Sojalecithin (E 322) wiederum lässt sich durch hochverarbeitete Milchproteine ersetzen, die im Salatfertigdressing Fett und Wasser zusammenhalten, aber nicht unter die Zusatzstoffdefinition fallen. Und damit entfällt die entsprechende Kennzeichnung. Natürlicher wird das Dressing mit dem Milchprotein sicher nicht, dafür ist das Etikett sauber.
Das Konzept funktioniert auch bei den Farbstoffen: Färbende Zutaten wie Fruchtsäfte, Kurkuma oder echtes Karamell sorgen auf natürliche Weise für bunten Genuss und können kennzeichnungspflichtige Farbstoffe ersetzen. Der Hinweis „ohne künstliche Farbstoffe“ prangt dann groß auf dem Etikett. Dabei sind zahlreiche Farbstoffe, die als Zusatzstoff zugelassen sind, ebenfalls natürlichen Ursprungs. Die färbenden Zutaten sind meist ähnlich hoch chemisch verarbeitet wie Zusatzstoffe.
Letztlich ist die „ohne“-Werbung nicht mehr als ein Marketinginstrument, das die wissenschaftlich nicht fundierte Diskriminierung kennzeichnungspflichtiger Zusatzstoffe geschickt auszunutzen weiß. Besser, gesünder und natürlicher sind die Lebensmittel mit den „sauberen Etiketten“ nicht automatisch. Denn ob ein Lebensmittel gesund ist, lässt sich nicht allein an der Zahl seiner Zusatzstoffe messen.
■ Christina Rempe ist Lebensmittelchemikerin und hat Bücher über Lebensmittelkennzeichnungsrecht und Verbraucherschutz geschrieben