: Radio in Eigenzeit
ZUKUNFT Wie werden wir hören? Wie sich das Radio im Internetzeitalter verändert
Am Sonntag startet SWR 2 das neue Medienmagazin „Mehrspur. Radio reflektiert“ (19.30 Uhr). In der ersten Ausgabe jagt taz-Mitgründer Tom Schimmeck die Sau durchs Dorf – und der Medientheoretiker Norbert Bolz analysiert, welche neuen Rollen sich dem Radio in der digitalen Welt eröffnen. Die taz wird sich regelmäßig an der Diskussion beteiligen. Mehr auf: www.blogs.taz.de/spurensuche
VON NORBERT BOLZ
Das Radio ist das erste Massenmedium, das zu reflektieren begonnen hat – zunächst über die Folgen der Digitalisierung und jetzt über sein Verhältnis zur Internetkultur. Anders als Printmedien und Fernsehen reagiert das Radio auf die Herausforderung durch das Web 2.0 nicht trotzig und hinhaltend, sondern offensiv. Es gibt nämlich drei Stufen dieser Reflexion: Erstens, das Radio selbst macht Online-Angebote. Das ist mittlerweile selbstverständlich und gehört auch zum Repertoire anderer Massenmedien. Zweitens: Die Sender stellen sich darauf ein, dass viele ihrer Hörer das Radio zeitsouverän im Internet nutzen wollen. Und drittens zeichnet sich für die nahe Zukunft ab, dass die Hörer selbst am Programm mitwirken.
Es gibt einen sehr deutlichen Trend: Die Sendungen werden den Hörern nicht mehr einfach nur vorgesetzt, sondern als Fülle von Optionen angeboten – Digitalisierung macht’s möglich. Wir können nicht nur zwischen verschiedenen Sendern wählen, sondern auch innerhalb eines Senders zwischen verschiedenen Programmen – jeder hat seine eigene Mediathek.
Es sieht also so aus, als würden die Radio-Aktiven die Macht übernehmen. Aktive Nutzung heißt Selbstselektion. Es gibt keinen starren Zeitrahmen mehr, dem man sich fügen müsste. Die Vorteile liegen auf der Hand: Wer selbst bestimmen kann, was er wann hören möchte, versäumt nichts mehr und wird nicht mehr mit Dingen belästigt, die ihn nicht interessieren. Diese zeitsouveräne Nutzung des Sendeangebots passt gut in eine Gesellschaft, in der ein individueller Lebensstil vor allem an der Freiheit erkennbar ist, über die eigene Lebenszeit zu disponieren: Radio in Eigenzeit.
Doch heißt das auch: Radio ohne Programm? Werden am Ende nur noch Sendungen ins Netz gestellt, die dann beliebig abgerufen werden können? Ich glaube nicht an das programmlose Radio, wohl aber an ein virtuelles Programm der Sender, zu dessen Optionen natürlich auch das klassische Radio gehört. Dafür gibt es im Wesentlichen vier Gründe. Zunächst einmal darf man nicht die simple Tatsache vergessen, dass Radio für die meisten Menschen ein wohliges Hintergrundrauschen bietet. Man schaltet ein, um abzuschalten. Man will nur ganz leicht angeregt werden – um anderes zu tun oder um die Wonnen der Passivität zu genießen.
Zweitens gibt es im Umgang mit Medien ein Phänomen, das die Engländer „Serendipity“ nennen: Wie im Märchen die Prinzen von Serendip stoßen wir als Leser oder Hörer auf einen Schatz, den wir gar nicht gesucht haben – die zufällige Begegnung mit dem Faszinierenden. Hier kann gerade der die schönsten Überraschungen erleben, der gar nicht genau weiß, was er sucht. Drittens: das Agenda-Setting als die klassische und auch in Zukunft unverzichtbare gesellschaftliche Funktion der Massenmedien, große Themen anzusagen und ein Bild von der Welt zu entwerfen. Und viertens: Radio lebte immer schon von der Faszination dessen, was hier und jetzt geschieht. Live-Sendungen haben ihre eigene Aura der Präsenz. Diese Echtzeit ist die einzige Zeit, die man nicht unter die Regie der Eigenzeit bringen kann.
Doch die Prominenz des Internets sollte uns nicht dazu verleiten, den Tod der klassischen Massenmedien zu verkünden. Beide Welten, Massenmedien und Internet, haben Schwächen, die sie nicht mit Bordmitteln bekämpfen können. Das Internet hat ein permanentes Aufmerksamkeitsproblem. Und die Massenmedien haben Schwierigkeiten, den Veränderungen des Kundengeschmacks zu folgen. Deshalb sind beide aufeinander angewiesen: Das Internet braucht die Massenmedien, um die Aufmerksamkeit zu generieren, und die Massenmedien brauchen das Internet, um in Kontakt mit Zielgruppen zu kommen.
Klar ist, dass sich der Schwerpunkt der Mediennutzung in Richtung der Medienaktiven verschoben hat. Früher dachte man beim Stichwort „Medien“ vor allem an Informationsverarbeitung und Informationsübertragung. Doch spätestens mit dem Erfolg des Web 2.0 wurde deutlich, dass es den Menschen nicht primär um Information, sondern um Kommunikation geht.
Heute steht ein weiterer Paradigmenwechsel bevor: von der Kommunikation zur Partizipation. Dieser wird die Zukunft des Radios, ja die Zukunft des Verhältnisses aller Massenmedien zum Internet bestimmen: Die Hörer mixen nicht nur ihr Programm, sie machen es auch – wie wir das heute bereits im Verhältnis von YouTube und Fernsehen erleben. YouTube ist der Probelauf für die Zukunft des Fernsehens. Ähnlich könnte auch das Radio die Kreativität der Vielen abschöpfen. Projekte wie „YouFM“ gibt es schon. Es wird spannend, zu sehen, wie die Radio-Profis mit der narzisstischen Kränkung umgehen werden, dass alle Hörer kreativer sind als jeder Redakteur im Studio.