: Anpassung und Improvisation
JAZZ Der New Yorker Pianist Vijay Iyer bringt die Erfahrungen seiner indischen Herkunft und die Jazztradition in Einklang. Jetzt tourt er durch Deutschland
Das Lieblingsbuch von Vijay Iyer ist „Notes and Tones“ von Arthur Taylor. Sein Autor, selbst Schlagzeuger, versammelt darin von 1968 bis 1972 geführte Interviews mit Jazzmusikern, von Miles Davis bis Thelonious Monk, von Dizzy Gillespie bis Don Cherry. Solchen Musikern fühlt sich Iyer mehr verbunden als jenen, die heute ihre Laufbahn als Jazzmusiker nach einem Hochschulstudium beginnen.
Iyer selbst hat das Klavier nicht studiert, sondern im Austausch mit unzähligen anderen Musikern beim abendlichen Spielen erkundet und seinen eigenen Klang gefunden. „Ich hatte eine ziemlich amerikanische Kindheit, aber meine Generation musste ihre eigene Identität erst finden“, sagt der heute fast 40-jährige Vijay Iyer. „Meine Eltern waren urbane und kosmopolitische Menschen. Sie mussten improvisieren und sich anpassen können. Indische Kultur bedeutete für mich immer Familie und Zuhause.“ Geboren und aufgewachsen ist Iyer in Rochester, New York. Im Alter von fünf Jahren bekommt er Geigenunterricht, auf dem Klavier spielt er zunächst aus Spaß. Nachdem er seinen Cousin die indische Trommel Tabla hat spielen sehen, trommelt Iyer mit den Fingern auf alle erreichbaren Oberflächen. „Die Tabla ist ein nordindisches Instrument, meine Eltern aber sind aus Südindien. Indische Musik hat mich zwar umgeben, ich war ihr aber nicht ständig ausgesetzt. Erst als Erwachsener habe ich mich eingehender mit ihren rhythmischen Konzepten beschäftigt. Sie haben meine Art, Jazz zu spielen, sehr beeinflusst.“
Mit dem Entschluss, Musiker zu werden, verabschiedet sich Iyer Mitte der 1990er Jahre von einer bürgerlichen Karriere. Nach der Schule und einem Studium der Physik und Mathematik führt ihn ein Promotionsstipendium nach Berkeley, Kalifornien. Er wird Pianist eines Jazzclubs, begleitet Sänger und Saxofonisten. „Ich spielte Standards in allen Tempi und Tonarten. In dieser Zeit habe ich gelernt, wie wichtig das Geschichtenerzählen für die Musik ist. Damit kannst du Verbindungen herstellen zum Publikum. Darum geht es mir, nicht um den sportlichen Aspekt des Spielens.“ Iyer beginnt, die Prozesse beim Musizieren und Musikerleben vor dem Hintergrund afroamerikanischer und westafrikanischer Musik wissenschaftlich zu untersuchen. In seiner daraus entstandenen Dissertation argumentiert er, dass am Groove einer Musik auch beteiligt ist, wie sich die Musiker zum eigenen Instrument und zum gemeinsamen Puls in Beziehung setzen. Musiker und ihr Publikum können Groove wahrnehmen und in Bewegung überführen. Umgekehrt können Klänge Auskunft darüber geben, wie sich Musiker bewegen.
Iyer widmet sich in diesem Zusammenhang dem Pianisten Thelonious Monk, dessen Spielweise von Zeitgenossen als regelwidrig eingestuft wurde, tatsächlich aber Kompositionen hervorgebracht hat, die heute als wegweisend gelten. Laut Iyer schaffte Monk neue improvisatorische und kompositorische Möglichkeiten, weil er einfache Fingersätze rhythmisch und melodisch unkonventionell auf die Tasten übertrug.
Auf Vijay Iyers neuester Aufnahme, seinem ersten Soloalbum, interpretiert er neben einem Titel von Monk auch Duke Ellington. Bedacht bringt er in fünf eigenen Stücken die Klanggeschichten bekannter Jazzmusiker mit den Prägungen seiner Herkunft zusammen. Sein Spiel wirkt von unverfänglich bis nachdrücklich, mal hochwirbelnd, mal verweilt er intensiv. Die große Geste von „Historicity“, dem 2009 erschienenen, in der Tat bemerkenswerten Album des Vijay Iyer Trios, fehlt auf seinem neuen Album „Solo“ keine Sekunde. Dass sich europäische Hörer ein Klangbild von Iyer machen können, ist keineswegs selbstverständlich. In den USA hatt das Trio bereits zwölf Alben veröffentlicht. Niemand aber habe Anstrengungen unternommen, ihn im Rest der Welt, speziell in Europa, zu vermarkten, sagt er. Hierzulande profitiert das Publikum in diesem und den kommenden Monaten bei Konzerten zu seinen beiden neuen Alben. Ob Iyer zu Fingerschnipsen, Fußwippen und Kopfnicken einlädt, wird sich hören und sehen lassen. FRANZISKA BUHRE
■ Vijay Iyer Trio: 17. 10. Köln, 19. 10. Berlin; 20. 10. Saarbrücken, 21. 10. Freiburg; Vijay Iyer Solo: 9. 12. Bonn, 10. 12. Mannheim