: Zeit für Alternativen
STADTPOLITIK Bei den „Experimentdays 10“ geht es um die Zukunft gemeinschaftlicher Wohnprojekte im internationalen Vergleich
Vertreter internationaler Wohnprojekte diskutieren vom 25. bis zum 31. Oktober die Chancen und Potenziale unterschiedlicher Ansätze, um gemeinsam nach zukunftsfähigen Strategien zu forschen. Ziel ist der Aufbau einer europäischen Plattform zum Austausch gemeinschaftlicher Wohnprojekte. Die diesjährige Veranstaltungsreihe wird bei Projekten in Berlin zu Gast sein, die seit Jahren selbstorganisierte Räume betreiben, u. a das Haus Schwarzenberg, ExRotaprint, K9, die Initiative Möckernkiez, die Regenbogenfabrik sowie die Forum Factory am Blumengroßmarkt. Weitere Informationen unter: www.experimentdays.de
VON MICHAEL LA FOND, LENA KURT UND MAREEN SCHOLL
In Berlin wie auch in anderen europäischen Metropolen sind die Auswirkungen der ökonomischen, ökologischen und sozialen Veränderungen auf die städtische Entwicklung längst spürbar. Neue Lösungsansätze werden gebraucht, will man nicht, dass sich die mal als Finanzkrise, mal als Globalisierung oder auch als Gentrifizierung diskutierten aktuellen Prozesse zu einer langfristigen Fehlentwicklung verfestigen.
Einen Teil zur Lösung tragen gemeinschaftlich orientierte, selbstorganisierte Wohnmodelle bei, die in Berlin seit Jahrzehnten praktiziert und weiterentwickelt werden. Wohnprojekte, Genossenschaften und neuerdings Baugemeinschaften erproben und fördern innovative Anwendungen für Umwelttechnologien, neue Ansätze für Wohnformen und Sozialstrukturen, Strategien des alternativen Umgangs mit Grund und Boden sowie Beteiligungsmöglichkeiten an städtebaulichen Entwicklungen.
Um die Krise als Chance zu gestalten, bedarf es aber des konkreten Willens zur Veränderung, der eine Vielfalt an Möglichkeiten und Alternativen erlaubt und Mutige unterstützt, ihre Visionen und Experimente zu leben. Die Stadtgesellschaften sind heute unter verschärften Bedingungen wieder aufgerufen, Alternativen zu wagen und mit neuen Lebens-, Arbeits- und Wohnformen zu experimentieren. Diesen Gründergeist überhaupt zu ermöglichen, ist wiederum eigentliche Aufgabe der politischen Rahmensetzungen, die auch ausdrücklich nicht kommerzielle Projekte mit einbeziehen müssen.
Nicht nur im Kontext des europäischen Jahres gegen Armut und Ausgrenzung müssen Fragen der Bezahlbarkeit gemeinschaftlicher Wohnprojekte und des Erhalts der Vielfalt an Ansätzen und Konzepten diskutiert werden. Die Forderung nach einer zukunftsfähigen Bodenpolitik und der Weiterentwicklung von Modellen einer spekulationsfreien Nutzung von Grundstücken und Immobilien wird drängender.
Jedoch wird der Raum für selbstorganisierte gemeinschaftliche Wohn- und Kulturprojekte in Berlin enger. Die Stadt beugt sich dem vermeintlichen Druck einer rein profitorientierten Verwertung landeseigener Grundstücke und gibt damit die Mittel einer sozialen und integrativen Entwicklung Berlins aus der Hand. Betrachtet man die Rahmenbedingungen von gemeinschaftlichen Wohnprojekten, lassen sich daraus trotz einer veränderten gesellschaftlichen Situation Empfehlungen für einen nachhaltigen und sozialen Umgang mit landeseigenen Grundstücken ableiten.
Langfristige Erbpachtverträge, die es einer Stadt ermöglichen, die Nutzung der Grundstücke mitzubestimmen und in öffentlichem Besitz zu belassen, anstatt sie zu privatisieren, sind eine selten genutzte Option, die beispielsweise die seit 30 Jahren bestehende ufaFabrik in Tempelhof ermöglichte. Das internationale Wohn- und Kulturprojekt gründete sich durch eine „friedliche Wiederinbetriebnahme“ der ehemaligen UFA-Film Kopierwerke 1979. Seitdem realisiert der gemeinnützige Verein auf dem Gelände bezahlbare Kultur, gemeinschaftliches Wohnen sowie soziale und ökologische Initiativen und schafft zugleich mehrere hundert Arbeitsplätze.
Gerade in Berlin gibt es zahlreiche Beispiele von Projekten und Initiativen, die es geschafft haben, über alle internen und externen Unwägbarkeiten hinweg zu bestehen, von denen es auch auf europäischer Ebene zu lernen gilt und die es zu erhalten lohnt. Eine Vielzahl an Baugemeinschaften realisieren beispielsweise energieeffiziente Häuser, wie das Nullemissionshaus Boyenstraße, das Passivhaus Engeldamm oder auch das Moabit Haus Village e. V. Ehemals besetzte und neu entstehende Hausprojekte wie die K9 oder das Stadtgut Blankenfelde schaffen solidarische Strukturen, die weit über den Wohnraum hinausreichen, Förderinstitutionen wie die Stiftung trias sichern den Erhalt spekulationsfreier Immobilien.
In Berlin waren die Voraussetzungen für die Entwicklung solcher Projekte in den letzten Jahrzehnten noch günstig. Wo sich die Stadt jedoch mit ihren im europäischen Vergleich relativ preiswerten Mieten bisher noch auf der sicheren Seite wähnte und die Politik Berlin als kreatives Stadtmodell propagiert, schwinden inzwischen die kreativen Freiräume und sozialen Inseln, die Mieten werden vor allem im Innenstadtbereich teurer, Wohnraum wird zum Spekulationsobjekt, öffentlicher Raum privatisiert und segmentiert.
Vom 25. bis 31. Oktober 2010 in Berlin
■ Montag 25. Oktober, 16–19 Uhr. ExRotaprint, Diskussion: Nachhaltig-partizipative Strategien hinsichtlich Wohnen, Arbeiten, Bildung und Kultur vor Ort. Wie weiter im ExRotaprint Quartier in Berlin und darüber hinaus?
■ Dienstag 26. Oktober, 16–19 Uhr. Möckernkiez Initiative, Exkursion & Diskussion: Besichtigung des entstehenden Projekts „Möckernkiez“
■ Mittwoch 27. Oktober, 16–19 Uhr. Mit der NetzwerkAgentur Exkursionen: Wohnprojekte, Genossenschaften, Baugemeinschaften
■ Donnerstag 28. Oktober, 16–19 Uhr. Mit der NetzwerkAgentur Exkursionen: Wohnprojekte, Genossenschaften, Baugemeinschaften. 20 Uhr Kino in der Regenbogenfabrik, Short Films: Views of housing cultures. With international guests from Milan, Vienna, Bucharest, Paris, Stroud, Stockholm, Taipei.
■ Freitag 29. Oktober, 10.30 Uhr Haus Schwarzenberg, Discussion: Collaborative culture, diversity and sustainable urban development. 13 Uhr Haus Schwarzenberg, Discussion: International comparison of collaborative housing strategies. 17.30–21.30 Uhr Forum Factory, Blumengroßmarkt: International Conference, Collaborative Housing: sexy, cheap & available?
■ Samstag 30. Oktober, 10–21 Uhr Forum Factory, Blumengroßmarkt: Projektbörse für gemeinschaftliche Wohnprojekte: Ausstellungen, Präsentationen usw.
■ Sonntag 31. Oktober, 14–18 Uhr Friedrichshain Walking tour: More than a century of housing projects.
Der Vergleich mit anderen Metropolen eröffnet neue Einsichten in unterschiedliche urbane Strukturen, von denen sich Strategien für eine soziale Entwicklung Berlins ableiten lassen können. Während beispielsweise in Wien der Wohnungsmarkt weitestgehend kommunal organisiert ist, wodurch einerseits niedrige Mieten gesichert, andererseits aber zivilgesellschaftliches Engagement ausgebremst werden, verlaufen die Entwicklungen in Bukarest weitestgehend ungesteuert. Sozial orientierte Projekte können in der Konsequenz dem Konkurrenzdruck des Immobilienmarktes kaum standhalten.
In Paris wiederum können selbstorganisierte Wohnalternativen in der Innenstadt allenfalls noch temporär und symbolhaft umgesetzt werden. Wohnraum im Zentrum ist rar und für einkommensschwache Bürger oder soziale und kulturelle Initiativen kaum bezahlbar. Die Gruppe Jeudi Noir macht immer wieder mit medienwirksamen Aktionen auf die grassierende Wohnungsnot aufmerksam – zuletzt mit einer Schlossbesetzung.
Um Änderungen der politischen Rahmenbedingungen zu erreichen, die Formen gemeinsamen Wohnens ermöglichen, sind Netzwerke wichtig – wie zum Beispiel das Kollektivhus NU in Stockholm, das Öffentlichkeit über Mittel und Möglichkeiten informiert und versucht, behördliche Bestimmungen zur Gründung und zum Erhalt von Projekten zu beeinflussen. Berliner und internationale Beispiele machen die Möglichkeiten gemeinschaftlicher Wohnprojekte deutlich, einer spekulationsorientierten Stadtentwicklung privates Engagement entgegenzusetzen und selbstorganisierten sowie bezahlbaren Wohn- und Lebensraum zu erhalten.
■ Die Autoren sind Stadt- und Kulturplaner und organisieren für id22: Institut für kreative Nachhaltigkeit die Experimentdays 10 sowie die Experimentcity Europe Plattform
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