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Archiv-Artikel

„Irgendwas stört die Berliner immer“

Jakob Hein

„Berliner können sich besonders gut auf Eröffnungsfeiern von Bahnhöfen und Einkaufszentren drängeln. Da sind sie führend. Bei Blasmusik und Freibier gibt’s kein Halten mehr“

„Wenn ich meine Stammkneipe betrete“, schreibt Jakob Hein in seinem gerade erschienenen Buch ‚Gebrauchsanweisung für Berlin’, „ruft mir der Wirt freundlich zu: ,Du siehst heute aber beschissen aus!‘ ,Immer noch besser als du‘, erwidere ich seine Zuneigung und setze mich zu ihm.“ An diesem Abend jedoch nicht, denn Hein gibt im Hinterzimmer des Cafés Mandelmond in Prenzlauer Berg ein Interview zu seinem Buch und der Stadt, von der es handelt. Es ist 21 Uhr. Hein, Jahrgang 1971, hat einen langen Arbeitstag als Arzt an der Charité hinter sich. Der Feierabend-Schriftsteller wurde bekannt durch seine DDR-Jugenderinnerungen „Mein erstes T-Shirt“ und die Lesebühne „Reformbühne Heim und Welt“ im Kaffee Burger in Mitte

Interview David Denk

taz: Herr Hein, sind Sie ein Berliner?

Jakob Hein: Obwohl ich in Sachsen geboren bin und für viele Urberliner deswegen immer Sachse bleiben werde: ja. Das gilt für mich, aber auch für den Mosambikaner von nebenan. Wer hier lebt, ist Berliner – ohne Wenn und Aber. Welches Recht hat ein Pole, der vor drei Generationen gekommen ist, zu sagen: „Der ist weniger Berliner als ich“?

Wohnen Sie hier im Kiez?

Ja. Aber „Kiez“ sage ich nicht so gern. Ich halte das für ein Unwort.

das aber in aller Munde ist.

Gerade deswegen. Das Wort nehmen vor allem Leute in den Mund, bei denen ich immer einen Hintergedanken vermute: etwa dass sie ein Konzept verkaufen oder Fördergelder haben wollen.

Wann haben Sie zuletzt an Umzug gedacht?

1997. Da bin ich aus Boston zurück nach Berlin gezogen. Währenddessen habe ich mir geschworen: Nie wieder!

Dabei ist Umziehen doch ein Berliner Volkssport.

Ich hab für das Buch mit dem Statistischen Landesamt telefoniert. In Berlin finden pro Jahr an die 400.000 Umzüge statt, davon vollzieht sich allerdings weit mehr als die Hälfte im selben Bezirk.

Warum machen sich die Berliner darüber so viele Gedanken?

Weil man in gewisser Hinsicht in eine andere Stadt zieht, wenn man zum Beispiel von Lichtenberg nach Kreuzberg geht – obwohl „nur“ zehn S-Bahn-Stationen dazwischenliegen. Es gibt völlig andere Läden, eine völlig andere Einwohnerstruktur, ein völlig anderes Lebensgefühl. Und deswegen ist es nicht unwichtig, wo in Berlin man wohnt.

Sie schreiben: „Es ist unmöglich, ein Buch über Berlin zu schreiben, mit dem nur eine kleinere Gruppe von Berliner zufrieden wäre.“ Sie haben es trotzdem gewagt. Warum?

Der Verlag fragte mich, ob ich das schreiben wollen würde. Daraufhin hab ich drüber nachgedacht, ein paar Probetexte geschrieben und zugesagt, weil’s mir Spaß gemacht hat. Aber nur unter der Voraussetzung, dass ich von vornherein sagen darf: Das geht gar nicht.

Warum diese im Vorwort vorausgeschickte Entschuldigung?

Ich habe mir überlegt, ob es irgendein Thema gibt, zu dem man etwas Allgemeingültiges sagen kann. Aber zu allem, was es in Berlin gibt, existiert auch das Gegenteil. Also ist immer auch das Gegenteil wahr.

Das Buch ist ja innerhalb der Reihe „Gebrauchsanweisung für …“ erschienen. Wie streng waren die Vorgaben des Verlags?

Die Maßgabe war: Schreib nicht, in welchem Hotel man wie viel Geld bezahlt; schreib nicht, in welches Restaurant man gehen soll; und probiere, dich deinem Thema auf eine dir eigene Art zu nähern. Also: Mach, was du willst, aber schreib keinen Reiseführer.

Der Verlag fand das Ergebnis zunächst zu negativ gefärbt. Wie haben Sie darauf reagiert?

Ich habe drüber nachgedacht – dann aber geantwortet, dass ich nicht nur das Nette herausstellen wollte. So nach dem Motto: Hier ist es ganz toll, hier müssen alle leben.

Wie würden Sie die Erzählhaltung des Buchs beschreiben?

Ich hoffe, dass es die Art ist, wie Berliner ihre Stadt sehen. Zumindest ist es die Art, wie ich meinen Besuchern die Stadt präsentiere. Man sagt eben nicht: Das hier ist die Friedrichwerdersche Kirche, ein Meilenstein in der Architektur von Schinkel. Sondern man sagt: Hier ist die Friedrichwerdersche Kirche, da haben sie auch wieder irgendeinen Murks davorgestellt, sieht ja unmöglich aus. Irgendwas stört immer.

Waren Sie in der Schule eigentlich beliebt?

Ich war auf jeden Fall einer von den lauten Jungs, die Ärger machen. Körperlich nicht, da hatte ich ja nichts zu bestellen. Ich ging so Richtung Klassenclown. Meine Lehrer mochten mich auf keinen Fall.

Ich frage, weil ich manche Passagen im Buch etwas bescheidwisserisch und altklug fand, zum Beispiel die vielen Fußnoten.

Gerade wenn man sagt, hey, ich habe keine Ahnung, so wie meiner Meinung nach keiner Ahnung haben kann, finde ich es besonders wichtig, dass man diese Haltung mit ein paar Fakten konterkariert. Dass ich nicht einfach sage, die Berliner Politik ist seit Urzeiten schrecklich, sondern das auch belege. Das soll um Gottes willen nicht besserwisserisch sein. Und die Fußnoten kann man lesen, muss man aber nicht.

Sie nehmen im Buch eine geradezu ethnologische Perspektive ein.

Ich glaube, das ist die richtige Haltung, um mit diesem dezentralen Chaos um einen rum umzugehen. Ich finde eine Wir-Behauptung, also „wir machen dies“ und „wir machen das“, ganz schrecklich.

Warum nimmt die Subkultur der Lesebühnen, in der Sie sich auskennen, im Buch so wenig Raum ein?

Wenn man eine Gebrauchsanweisung für Berlin schreibt, ist es doch wichtig, wahrzunehmen, welch kleinen Ausschnitt von der Stadt man nur mitbekommt. Das bisschen, das über die Lesebühnen im Buch steht, ist übrigens auf Anregung des Verlags ins Buch gekommen. Ich wollte meinen eigenen kleinen Tellerrand nicht zum Maßstab für alle machen.

Früher haben Sie regelmäßig Platten aufgelegt, eine weitere Gemeinsamkeit mit Ihrem Lesebühnen-Freund und Kollegen Wladimir Kaminer. Warum ist der eigentlich so ungeheuer beliebt?

Weil er den Deutschen und besonders den Berlinern viele Vorurteile gegen Russen genommen hat, die ja nach der Wende plötzlich überall waren. Er hat gezeigt, wie die Russen so drauf sind, und hat einen besonderen ethnologischen Blick auf Deutschland. Außerdem sieht Wladimir sehr gut aus, ist unglaublich charmant …

und wahnsinnig erfolgreich, nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Veranstalter der „Russendisko“. Wie konnte das passieren?

Ich war schon länger nicht mehr da. Aber in den Anfangsjahren, als vor allem Russen da waren, kam man rein, hängte die Jacke auf und fing an zu tanzen. Weil man garantiert keins der Lieder kannte, hatte es keinen Sinn, auf sein Lieblingslied zu warten, zu dem man ideologisch korrekt tanzen kann.

Warum war in Berlin eigentlich früher alles besser?

Dieses Thema zieht sich seit den späten 60er-Jahren durch die Westberliner Geschichte, seit den 80ern auch durch die Ostberliner. Bei der Reformbühne bekommen wir immer zu hören, dass wir doch um Himmels willen Underground und alle Sozialhilfeempfänger bleiben sollen, während unser Publikum sein Studium beendet und in akademischen Berufen viel Geld verdient. Die wollen aber zu den Lesebühnen kommen, wo sie früher waren, und da ein vertrautes Gefühl vermittelt bekommen. Und dann natürlich die goldenen 70er in Schöneberg, als die Popstars David Bowie und Iggy Pop da wohnten, um sich vom Heroin zu lösen. Natürlich waren auch die Straßenkämpfe der 70er prägend für diese Stadt und die Hausbesetzungen der 80er. Immer wieder gingen für die Stadt prägende Dinge verloren. Dieses Verlustgefühl gab’s immer – und wird’s auch immer geben.

Was ist das Besondere an Berlin?

Dass die Stadt eine unüberschaubare Zahl von Gegensätzen vereint und aushält. Das hat Modellcharakter – und Potenzial. Keine Spur also von dem berühmten Bush-Schwachsinn: Bist du nicht mit uns, bist du gegen uns.

Und das Besondere am Berliner?

Dass die Leute in einer multilateralen Welt leben und das durchaus genießen.

Sie schreiben, dass die Berliner überhaupt nicht unfreundlich sind – eine steile These.

Die Berliner sind zwar sehr direkt, aber deswegen auch sehr offen. Wenn man ein leises Auftreten gewöhnt ist, wirkt das erst mal unfreundlich. Nachdem man eine Weile in Berlin gelebt hat, ist es einem aber lieber, dass die Dinge beim Namen genannt werden. Der Berliner ist ja auch nicht nachtragend. Er schnauzt dich an – und gibt Ruhe.

Was können Berliner besonders gut?

Sich auf Eröffnungsfeiern von Bahnhöfen und Einkaufszentren drängeln. Da sind die Berliner führend. Bei Blasmusik und Freibier gibt’s kein Halten mehr.

Warum nicht?

Der Berliner und der Großstädter allgemein hat eine Sehnsucht nach dem Kleinstädtisch-Dörflichen.

Warum wohnen die Leute in der Stadt, wenn sie eigentlich das Dorf wollen?

Die Stadt ist ihr Dorf. Es ist doch unmöglich, in der Stadt Berlin zu wohnen, jeden Tag in einem anderen Bezirk zu sein. Jeder möchte sich doch wohlfühlen und in eine soziale Gemeinschaft eingebettet sein. Deswegen geht man eben meistens in seiner Gegend weg oder trifft seine Cowboyfreunde in der Westernstadt.

Ist in Berlin der Wohlfühlfaktor womöglich höher als in kleineren Städten, wo man mehr Kompromisse schließen muss?

Für manche Leute sicher. Wer einem bestimmten Stern folgt, hat es in Berlin leichter, Gleichgesinnte zu finden. In seinem Heimatdorf wäre er Ortsgespräch.

Wenn man allerlei Tücher auf dem Kopf trägt und über den Helmholtzplatz in Prenzlauer Berg streift, fällt man selbst da auf.

Das stimmt schon. Aber man wird deswegen nicht angefeindet.

Wo gehen Sie hin, um ein starkes Berlin-Gefühl zu haben?

Ins Kaffee Burger. Da sind viele Leute, die ich kenne, und viele Touristen. Die Atmosphäre ist völlig entspannt: Man kann machen, was man will; man kann sagen, was man will; man kann anziehen, was man will.

Und um Berlin zu vergessen?

Nach Vorpommern, in den Garten. Da fahre ich ungefähr jedes zweite Wochenende hin.

Haben Sie Angst davor, künftig als Berlin-Experte in den Medien rumgereicht zu werden?

Ne, ich kann ja immer sagen: Tut mir leid, ich kann heute nicht. Und morgen auch nicht.

Der letzte Satz Ihres Buches ist sehr versöhnlich, fast kitschig. Er lautet: „Nirgendwo anders will ich sein.“ Haben Sie den Ihrem Verlag zuliebe reingeschrieben?

Nein, weil es genau so ist. Ihre Annahme beruht auf einem Missverständnis. Dass ich Berlin kritisiere, bedeutet ja nicht, dass ich hier wegmöchte – ganz im Gegenteil. Ich kritisiere Berlin, weil die Stadt mir wichtig ist und wir’s hoffentlich noch lange miteinander aushalten.

Das Buch ist bei Piper erschienen, hat 153 Seiten und kostet 12,90 €