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Archiv-Artikel

Retter, die keine Helden waren

ZEITGESCHICHTE Marie Jalovicz Simons Autobiografie über ihr Überleben als verfolgte Jüdin dekonstruiert den Mythos von den uneigennützigen Helfern

VON KLAUS HILLENBRAND

Stille Helden: Diese Bezeichnung hat sich für all diejenigen Deutschen eingebürgert, die während der NS-Zeit den vom Tode bedrohten Juden halfen und sie in ihren Wohnungen versteckten. „Helden“, weil sie es gewagt hatten, trotz hoher Strafandrohung bis hin zum Todesurteil Menschen uneigennützig zu unterstützen, die ab Oktober 1941 von dem Regime in die Todeslager im Osten deportiert werden sollten. Das Adjektiv „stille“ gilt diesen Rettern, denn sie machten aus ihrer Hilfe nach dem Krieg in aller Regel keine große Sache.

Eine ganze Reihe von Biografien überlebender Juden lobt zu Recht das Werk dieser wenigen Deutschen – im ganzen Reich mögen es einige Tausend gewesen sein. Dank ihrer altruistischen Motive konnten so vielleicht 5.000 Menschen vor dem Holocaust gerettet werden – aber 10.000 weitere untergetauchte Juden entkamen den Verfolgungen der Gestapo nicht.

Nun ist ein Buch erschienen, das Zweifel an der holzschnittartigen These von den selbstlosen Helfern sät. Hermann Simon, Leiter des Centrums Judaicum in Berlin, und die Publizistin Irene Stratenwerth haben die Erinnerungen von Simons verstorbener Mutter Marie Jalowicz vorgelegt, die von 1942 bis 1945 im Berliner Untergrund überlebt hat. Grundlage sind 77 Tonbandkassetten, auf denen diese ihre Überlebensgeschichte erzählt hat.

Um es gleich zu sagen: Dies ist ein großartiges Buch geworden. Voller sprachlicher Brillanz und mit fast schon verstörendem Witz berichtet Marie Jalowicz über diese drei Jahre der Verfolgung. Dutzende der Figuren scheinen einem Roman entsprungen zu sein, so seltsam, bizarr, ja bisweilen geradezu idiotisch ist ihr Verhalten.

Da ist etwa ein glühender Hitler-Anhänger, der von allen ob seiner Gebrechen nur „Gummidirektor“ genannt wird, weil er nach einer überstanden Krankheit weder Gliedmaßen noch seine Sprache unter Kontrolle hat, und der hoch erfreut darauf reagiert, dass die junge Marie, von deren jüdischer Existenz im Untergrund er selbstverständlich keine Ahnung hat, sich nichts sehnlicher wünscht, als ausgerechnet bei ihm einzuziehen. Da taucht eine hilfsbereite Prostituierte auf, deren geistige Beschränktheit so weit geht, dass sie ihren beiden Kindern den selben Vornamen „Veronika“ gibt.

So entfaltet sich ein Panoptikum schräger Gestalten von der alternden Artistin über eine kommunistische Neuköllnerin bis hin zur von den Nazis begeisterten Rentnerin, die Marie dennoch aufnimmt, um ihre Mieteinnahmen zu steigern.

Nein, das Überleben von Marie Jalowicz hing nur in den allerseltensten Fällen von altruistisch denkenden gutbürgerlichen Deutschen ab. Und selbst diejenigen, die ganz offensichtlich aus unzweifelhaft edleren Motiven halfen, waren keineswegs frei von Tadel – so wie der Arzt Bruno Heller und dessen Frau Irmgard, die die verzweifelten Juden bei Patientinnen unterbrachten, die ihnen noch einen Gefallen schuldeten. „So waren die Hellers: Sie setzten einerseits heldenmütig ihr Leben aufs Spiel, um anderen zu helfen. Andererseits war ihnen ihr glänzendes Parkett genauso wichtig wie der Widerstandskampf gegen die Nazis“, schreibt Marie Jalowicz.

Jalowicz nimmt in ihrem Buch keinerlei Rücksichten – weder den Helfern noch den Tätern, aber auch sich selbst gegenüber nicht. Sie nennt die sexuellen Dienstleistungen, zu denen sie sich gegenüber einigen Helfern gezwungen sah, beim Namen. Sie macht deutlich, dass manche ihrer Unterstützer auch deshalb zu Helfern wurden, weil sie damit zum ersten Mal Gebieter der Macht über eine abhängige Person werden konnten.

Jalowicz berichtet von der Eifersucht, die manche Helfer gegenüber anderen Unterstützern ihres Schützlings hegten. Und aus ihrem Buch geht hervor, dass es vor allem Berliner Randexistenzen und links gesinnte Proletarier waren, die überhaupt zur kurzfristigen Hilfe bereit waren. Einmal den Nazis schaden, das bewog so manchen Arbeiter zur Rettung.

Aber „unbesungene Helden“ waren die allerwenigsten von ihnen. Sie nahmen mal Geld, manchmal Sex und immer verlangten sie Wohlverhalten. Ja, sie wollten – sieht man von Ausnahmen ab – den Verfolgten helfen und dem Regime schaden. Aber es waren alles andere als Lichtgestalten, sondern Menschen, die persönliche Defekte besaßen, bisweilen unsinnig oder irrational handelten und keineswegs immer die Vorbildfunktion besaßen, die ihnen heute zugeschrieben wird. Das ist realistisch – und fast schon beruhigend.

Marie Jalowicz Simon: „Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940 bis 1945“. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2014, 415 S., 22,99 Euro