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Archiv-Artikel

Geschichte im Fluss

LANDSCHAFT Die Memel hat viele Namen. Denn an kaum einem anderen europäischen Strom treffen so viele Kulturen aufeinander

Die Memel

Der Fluss: Die Memel heißt auf Weißrussisch Njoman, auf Litauisch Nemunas und auf Russisch Neman. Sie entspringt südlich von Minsk. Sie passiert Grodno und Kaunas und mündet nach 937 Kilometern ins Kurische Haff an der Ostsee. Über die Euroregion Memel suchen Belarus, Litauen, Polen und Russland die grenzüberschreitende Zusammenarbeit.

Die Natur: Wie die Oder und die Elbe ist die Memel einer der letzten freifließenden Ströme Mittel- und Osteuropas. Nur bei Kaunas wird sie zur Stromgewinnung aufgestaut.

Die Kultur: Die Memel ist ein Fluss der Literatur. Johannes Bobrowski hat sie beschrieben oder Polens Nationaldichter Adam Mickiewicz. Das deutsch-litauische Memelland lebt fort in den Dichtungen von Hermann Sudermann oder Ernst Wichert.

VON UWE RADA

Hierzulande weckt der Name des Flusses – Memel – bleierne Bilder vom verlorenen Strom der Deutschen. Ganz anders in Polen. Zwar ist die Memel auch dort ein verlorener Fluss, denn auf der Potsdamer Konferenz 1945 wurden die Grenzen Polens weit nach Westen verschoben. Seither fließt die Memel durch Weißrussland und Litauen. Auf ihren letzten 110 Kilometern vor der Ostsee wird sie zum Grenzfluss zwischen Litauen und dem ehemaligen Ostpreußen, dem heutigen Kaliningrader Gebiet. Doch das polnische Interesse an der Memel – dem Niemen – gilt weniger der Vergangenheit als der Gegenwart und der Zukunft der östlichen Nachbarländer. Der Blick auf einen Strom hängt eben von der nationalen Brille ab. Bei der deutschen Brille sind die Gläser verschmutzt.

Einer, der daran Anteil hatte, ist August Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Als der Breslauer Professor für Germanistik am 26. August 1841 auf der Fahrt nach Helgoland sein „Lied der Deutschen“ schrieb, war die Rheinkrise in vollem Gange. Frankreich beanspruchte die linksrheinischen Gebiete und den Rhein als „natürliche Grenze“. Die nationalbewussten Deutschen hingegen wollten den ganzen Rhein für sich und schrieben Hasslieder wider die Welschen.

In dieser erhitzten Atmosphäre war von Fallersleben klug genug, sich in seinem Lied, das 1922 zur Nationalhymne erklärt wurde, nicht zur Rheinfrage zu äußern. Bei der Memel war er unvorsichtiger. „Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“, textet er im Jahr 1841.

Dabei wollte Hoffmann mit seiner Aufzählung der Flüsse weniger territoriale Ansprüche bekunden, sondern eine grobe Skizze auf der Agenda der deutschen Einigung entwerfen. Dass sowohl die Maas, aber auch Etsch und Kleiner Belt von jeher gemischtsprachige Regionen waren, hat von Fallersleben weder gestört noch in seinem Patriotismus angestachelt. „Lied der Deutschen“ hatte er sein Stück genannt. Zum „Deutschlandlied“ wurde es erst später.

Mehr noch als Maas und Etsch war die 937 Kilometer lange Memel alles andere als ein „deutscher Strom“, wie der Schriftsteller Johannes Bobrowski einst schrieb: Er sei beiderseits der Memel aufgewachsen, notierte er 1961, „wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit“.

Bis heute durchfließt die Memel multiethnische Gebiete. In Belarus leben Polen, Weißrussen und so genannte „Hiesige“ an seinen Ufern und in Litauen auch Polen und Memelländer, Nachfahren der preußischen Litauer aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Und das Kaliningrader Gebiet ist noch immer eine Sowjetunion en miniature, in der Russen, Weißrussen, Kasachen und andere ethnische Minderheiten leben.

Grenzüberschreitende Flüsse, das zeigt das Beispiel der Memel, haben ihre eigene Geschichte. Sie erzählt etwas anderes als die Geschichte der Staaten, die sie durchfließen, oder die der Völker, die an ihm leben. Sie bilden auch gesellschaftliche Wahrnehmungen ab. Schon die vielen Namen der Memel machen das deutlich. So bezeichnet „Memel“ im Sprachgebrauch der Deutschen nur den 110 Kilometer lange Abschnitt in Ostpreußen. Der 827 Kilometer lange Mittel- und Oberlauf des Stroms war demgegenüber ein fremder Strom. Ihn nannte man auch in Deutschland beim slawischen Namen – Njemen.

Diese „semantische Teilung“ schlug sich in den Werken der Historiker nieder. Der Frieden von Tilsit und der Bittgang der Königin Luise bei Napoleon fanden 1807 demnach an der Memel statt. Als die Grande Armée Napoleons fünf Jahre später zum Feldzug gegen das zaristische Russland antrat, überschritt sie den Njemen. Memel und Njemen, das ist, als ob die Donau hinter Passau im Deutschen Dunaj, Duna, Dunav oder Dunarea hieße. Eine derartige Aufteilung eines Stroms in einen „eigenen“ und den „fremden“ war selbst im Europa des aufziehenden Nationalismus einzigartig.

Gleichwohl, die Betrachtung der Ströme durch die nationale Brille hat Tradition – und sie ist hartnäckig. Die erste übernationale Geschichte des zwischen Deutschen und Franzosen für Jahrhunderte umkämpften Rheins erschien erst 1931. Geschrieben hat sie Lucien Fèbvre, der Mitbegründer der französischen Annales-Schule, die sich lieber mit Mentalitäten beschäftigte als mit Ereignis- und Nationalgeschichte.

Seitdem sind eine Reihe weiterer Flussgeschichten erschienen, in denen die Frage, wie ein Fluss die Kultur beeinflusst, im Vordergrund steht und nicht, wie sich Nationalstaaten eines Flusses bemächtigen: Claudio Magris’ Donaubiografie etwa oder vor kurzem Peter Ackroyds Geschichte der Themse.

Auch die Schriftsteller haben sich der Flüsse angenommen. Wunderbar verknüpft Jan Böttcher in seinem Elberoman „Nachglühen“ das Alltagsleben in einem Dorf zu einem deutsch-deutschen Mikrokosmos. Esther Kinsky wiederum beschreibt die Theiß in ihrer Novelle „Sommerfrische“ als Naturgewalt, mit der sich die Menschen einrichten müssen – oder untergehen. Die polnische Autorin Olga Tokarczuk schlägt gar vor, das Europa der Regionen nach den Einzugsgebieten seiner Ströme zu bilden. Ein poetisches Konzept, gewiss, aber was für eins!

Der Blick auf einen Strom hängt von der nationalen Brille ab. Bei der deutschen sind die Gläser schmutzig

Lange bevor die Menschen an all diesen Flüssen siedelten, waren diese schon da. Höchste Zeit also, die nationalen Mythen, die auf den Flüssen lasten, zu dekonstruieren und sie wieder zu dem machen, was sie sind – nicht Markierungen der Geschichte, sondern geografische Marker, die Kulturlandschaften hervorbringen und narrative Räume, die sich um Grenzen nicht scheren.

Dazu braucht es gemeinsame Erinnerungsorte. Auch dafür ist die Memel Beispiel. Lange bevor Deutschland in seinen Luisentaumel verfiel, wurde Preußens Königin im russischen Sowjetsk – dem ehemaligen Tilsit in Ostpreußen – geehrt. Der Bittgang der Luise in Tilsit war nicht nur konstitutiv für das deutsche Bild von der „Königin der Herzen“. Er ist auch nicht wegzudenken als Teil der preußisch-russischen Freundschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Seit 2007 trägt die Memelbrücke, die vom ehemaligen Tilsit nach Litauen führt, wieder ihren alten Namen – Königin-Luise-Brücke.

Was die Luise für Russen, Deutsche und Litauer, ist Czesław Niemen für Weißrussen und Polen. Polens 2004 verstorbene Rocklegende war 1959 als Czesław Wydrzycki aus der Sowjetunion nach Polen gezogen – und nahm den Namen des Flusses an, an dem er geboren war. Memel heißt auf Polnisch Niemen. Verehrt wird der Musiker bis heute auch in Weißrussland.

Memel, Niemen, Njoman, Nemunas, Neman. Mag die Memel noch so viele Namen haben, im Grunde bleibt sie auf ihrem Lauf von der Quelle bei Minsk über Grodno und Kaunas bis ins Kurische Haff ein- und derselbe Fluss. Nur, das mit dem Grenzen-Überschreiten gelingt ihr nicht immer. Gleich zweimal bildet die Memel die Außengrenze der Europäischen Union: zwischen Litauen und Belarus, und zwischen Litauen und dem Kaliningrader Gebiet. Anders als die Oder, die in den vergangenen 20 Jahren von einem Fluss, der trennt, zu einem Fluss wurde, der verbindet, sind an der Memel in den vergangenen Jahren die Grenzen undurchlässiger geworden.

Doch das, sagt der polnische Essayist Krzysztof Czyżewski, der an der Grenze zu Litauen und Weißrussland ein Grenzlandzentrum betreibt, ist nicht das letzte Wort der Geschichte: „Diese Grenzen sind temporäre Grenzen. Früher oder später bringt uns der Fluss wieder zusammen. Gemessen an dem, was die Memel erlebt hat, ist die Gegenwart doch nur Oberfläche.“

Von Uwe Rada erschien im Siedler-Verlag „Die Memel. Kulturgeschichte eines europäischen Stromes. 368 Seiten, 19,95 Euro. Im gleichen Verlag erschien 2009 „Die Oder. Lebenslauf eines Flusses“