: Aus dem Leben gerissen
EINGESCHRÄNKTE ERWERBSFÄHIGKEIT Mit 52 Jahren konnte Hans-Jürgen Jahn nicht mehr arbeiten. Bis er eine Rente eingeklagt hatte, war seine Familie wirtschaftlich am Ende
Eine Hauptaufgabe des Sozialverbandes Deutschland (SoVD) ist es, Rentenansprüche vor Gericht durchsetzen. Das Behindertenrecht, das Krankenkassenrecht samt Pflege und die Unfallversicherung sind weitere Aufgabenfelder.
■ Während in Norddeutschland der SoVD stark ist, ist es in Süddeutschland der Sozialverband VDK. Bundesweit hat der SoVD 550.000 Mitglieder, in Schleswig-Holstein rund 127.500.
■ Von den 15.000 Rechtsverfahren, die der SoVD Schleswig-Holstein 2013 betreute, bezog sich jedes zweite auf Rentenverfahren und Grundsicherung im Alter – über 60 Prozent mehr, als vier Jahre zuvor: 2009 waren es rund 9.000 Verfahren, davon die Hälfte Rentenfälle.
■ Der SoVD Niedersachsen mit rund 278.300 Mitgliedern führte 2013 2.600 Verfahren, von denen sich etwa 1.300 auf das Rentenrecht bezogen. 2003 waren es etwa 2.500 Verfahren, rund 1.400 davon bezogen sich auf das Rentenrecht.
■ Der SoVD Bremen mit etwa 12.000 Mitgliedern führte 2013 etwa 500 Rechtsverfahren, davon rund 200 Rentenverfahren. 2003 waren es noch 700 Rechtsverfahren, davon etwa 300 Rentenfälle.
■ Der Landesverband Hamburg mit aktuell rund 18.200 Mitgliedern führte 2002 über 2.000 Verfahren, davon knapp die Hälfte im Rentenrecht.
VON ANNE PASSOW
Es war ein gutes Leben, das Hans-Jürgen Jahn führte: Der gelernte Heizungsmonteur aus Husum hatte sich zum Bauleiter einer großen Tiefbaufirma hochgearbeitet. Er verdiente ordentlich, fuhr einen Firmenwagen und konnte seiner Familie ein Haus kaufen.
Das Haus ist heute weg. Und auch sonst ist nicht mehr viel geblieben von Hans-Jürgen Jahns früherem Leben. Extreme Wassereinlagerungen und Probleme mit seinen Lymphknoten haben ihn mit 52 Jahren arbeitsunfähig gemacht. Und bei seinem jahrelangen Kampf für eine Frührente hat er fast alles verloren.
Wie Hans-Jürgen Jahn geht es vielen Menschen, die eine Rente wegen eingeschränkter Erwerbsfähigkeit beantragen. „Oft ziehen sich die Verfahren über Jahre hin. Für viele ist das zu lang. Sie sind dann wirtschaftlich am Ende“, sagt Torsten Mehrings, Leiter der Rechtsabteilung beim Sozialverband Deutschland in Schleswig-Holstein (SoVD).
Denn nach Kranken- und Arbeitslosengeld prüfen die Behörden, was bei den Betroffenen zu holen ist, bevor sie Leistungen nach Hartz IV bekommen. Im Fall von Hans-Jürgen Jahn bedeutete das, dass er sein Haus abgeben musste. Auch das Handarbeitsgeschäft, das er mit seiner Frau aufgemacht hatte, konnte das Paar nicht halten.
Jahns Antrag auf „Rente wegen Erwerbsminderung“, den er 2008 stellte, wurde abgelehnt. In den Jahren, in denen er mit Hilfe des SoVD seine Rente einklagte, bekam er keinen Cent vom Staat. Er, seine Frau und seine Tochter lebten von dem, was seine Frau verdiente – ein Lohn, der ein paar Euro über dem Hartz-IV-Satz lag. „Dass man nach jahrzehntelanger Arbeit plötzlich so allein gelassen wird, das hätte ich nicht gedacht“, so Jahn.
Meist sind es Menschen, die ihr Leben lang körperlich hart gearbeitet haben, die eine Frührente beantragen. In Schleswig-Holstein werden das immer mehr: 2013 betreute der Landesverband des SoVD etwa 7.500 Verfahren, die mit Rente und Grundsicherung im Alter zu tun hatten. Über 60 Prozent mehr als vier Jahre zuvor, als es noch etwa 4.500 Fälle waren. Ein Grund: Weil durch gebrochene Erwerbsbiografien und prekäre Beschäftigungsverhältnisse nur geringe Rentenanwartschaften zusammen kämen, könnten immer mehr Menschen von ihrer Altersrente nicht mehr leben, so Guido Bauer, Pressesprecher des SoVD Schleswig-Holstein.
„Viele, die eine Erwerbsminderungsrente beantragen, waren in der Pflege oder auf dem Bau tätig. Nach 30 Jahren Arbeit sind sie körperlich am Ende“, berichtet Frank Waehling, der als Anwalt für SoVD-Mitglieder vor die Sozialgerichte zieht. Mit kardiologischen, orthopädischen und Wirbelsäulenerkrankungen kämen viele Mandanten zu ihm. Wer wegen einer Krankheit oder Behinderung täglich weniger als sechs Stunden arbeiten kann, erfüllt zwar die medizinischen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung. Doch das nachzuweisen ist für die Betroffenen oft schwierig.
Auch Hans-Jürgen Jahns Problem war, dass über Jahre kein Arzt seine Symptome richtig deutete. Er habe eine Essstörung oder würde simulieren, bekam Jahn zu hören. Erst eine lymphologische Fachklinik im Schwarzwald stellte fest, dass Jahn an unter anderem an Ödemen litt.
Sechs Jahre nachdem Jahn seinen Rentenantrag gestellt hatte, bekam er Anfang 2014 mit Hilfe des SoVD vom Gericht endlich eine monatliche Rente von etwas über 1.000 Euro plus eine Nachzahlung von 73.500 Euro zugesprochen. Eine Erleichterung für den heute 58-Jährigen. „Damit habe ich nicht mehr gerechnet“, sagt er. Statt die Arbeitsbeeinträchtigungen der Antragsteller mit eigenen Ärzten festzustellen und bei Zweifeln erst danach weitere Gutachten anzufordern, sollten die Rentenversicherungen gleich unabhängige Gutachter einsetzen, fordert Jahn. „Dann gingen die Verfahren viel schneller über die Bühne.“
Auch wenn Jahn etwa ein Drittel der Nachzahlung versteuern und Schulden zurückzahlen musste, haben er und seine Familie nun genug, um ein paar aufgeschobene Anschaffungen zu machen: Ein neues Bett ist dringend nötig. Und Jahn freut sich darauf, seiner Tochter nun öfter mal ein Eis zu spendieren.
Seine Erkrankung ist Jahn nicht losgeworden. Er bekommt Morphium. „Die Schmerzen nachts sind oft so stark, dass ich es nicht mehr aushalte“, berichtet er. Seine Familie gibt ihm dann Kraft, weiterzumachen. „Ohne meine Frau hätte ich längst aufgegeben“, sagt er. Nach seiner erstrittenen Rente will Jahn sich nun mit seiner Frau einen lang gehegten Wunsch erfüllen: „Wir planen eine Reise nach Norwegen.“
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