: Das Geld für Schulbücher fehlt
Ilse Wolter arbeitet in einem Berliner Kiez, wo die „Unterschicht“ lebt, wie manche sagen. Sie berichtet, wie sie mit anderen versucht, das Elend zu lindern
PROTOKOLL VON PLUTONIA PLARRE
Ich bin Quartiersmanagerin im Reuterkiez in Berlin Neukölln. Ein Gebiet, das schon vor Jahren als sozialer Brennpunkt ausgewiesen worden ist. Arbeitslosigkeit und verfestigte Armut erlebe ich hier tagtäglich. Das ist hier Alltag. Viele Politiker kommen nie in Kontakt mit der Bevölkerung. Sie können sich gar nicht vorstellen, unter was für Bedingungen manche Leute leben. Diese Menschen Unterschicht zu nennen, finde ich unglaublich diskriminierend.
Mir ist völlig schnuppe, wer die Debatte angestoßen hat. Aber sie zu führen ist überfällig. Ich sage nur: Rütli-Schule – die Hauptschule, die im Frühling in einem offenen Brief vor den Verhältnissen an der Schule kapituliert hat. Das war der Anstoß für eine Bildungsdebatte, die bis nach Österreich und in die Schweiz reichte. Damit ist das Bewusstsein geweckt worden, dass Reformen auf den Weg gebracht werden müssen.
Die Rütli-Schule befindet sich mitten im Reuterkiez. Das 70 Hektar große Gebiet ist überwiegend ein Wohngebiet. 18.500 Menschen wohnen hier. Wir haben hier seit Jahren eine Arbeitslosigkeit von 35 bis 40 Prozent. Dazu kommt noch eine versteckte Arbeitslosigkeit, die in keiner Statistik auftaucht. 30 Prozent der Einwohner haben keinen deutschen Pass. Der Bevölkerungsanteil nicht deutscher Herkunft ist aber weit größer. Die Migranten sind von der Arbeitslosigkeit besonders betroffen. Viele sind als angelernte oder ungelernte Arbeitskräfte nach Berlin gekommen und nach der Wende sukzessive arbeitslos geworden. Genauso gibt es einen erheblichen Anteil deutscher Haushalte, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Nach dem Mauerfall hat auch eine Segregation eingesetzt. Die Mittelschicht, auch arabischer und türkischer Herkunft, ist in wohlhabendere Gegenden weggezogen – spätestens, wenn ihre Kinder in die Schule gekommen sind.
Die Armut nimmt seit Jahren zu und verfestigt sich. Wir vom Quartiersmanagement haben 2003 eine Schuldnerberatung eingerichtet, die kontinuierlich voll ist – obwohl es noch andere Beratungsstellen im Kiez gibt. Die Nachfrage nach der Kleiderkammer, wo kostenlos gebrauchte Kleidungstücke ausgeben werden, ist konstant hoch.
Von den Kindertagesstätten wissen wir, dass ein Großteil der Eltern von Transferleistungen, Sozialhilfe oder Hartz IV abhängig ist. Die Kitas können keine Ausflüge machen oder ins Kindertheater gehen, weil die Eltern nicht in der Lage sind, die Zusatzkosten aufzubringen. Das Quartiersmanagement hat ein Programm, das Kitas in den Stand versetzt, einmal im Jahr für einen Tag in den Wald am Stadtrand zu fahren. Wir übernehmen an diesem Tag die Transportkosten. In den Schulen können 80 Prozent der Eltern die Kosten für die Lehrmittel wie Schulbücher und ähnliches nicht aus eigener Tasche bezahlen.
Den alten Leuten geht es meist auch nicht besser. Viele holen sich ihre Kleider aus der Kleiderkammer. Gerade bei den Älteren gibt es eine versteckte Armut. Sie ist ihnen peinlich. Sie gehen nicht auf die Straße und reden nicht darüber. Von einer Frau weiß ich, dass sie nur ihren Ofen beheizt, weil es billiger ist, obwohl ihre Wohnung zentral geheizt wird. Seit sie die Kohlen nicht mehr schleppen kann, organisieren wir ihr eine Hilfe, die ihr dreimal die Woche die Kohlenpakete nach oben trägt.
Die Kaufkraft ist seit der Wende dramatisch zurückgegangen. In den Läden hat eine große Fluktuation eingesetzt, viele Geschäfte stehen leer.
Am schlimmsten sind aber die Kinder und Jugendlichen betroffen. Das ist einfach furchtbar. Sie haben wesentlich geringere Bildungschancen und einen schlechteren Gesundheitszustand. Ärzte berichten, dass viele Eltern wegen der Praxisgebühr ganz genau überlegen, ob und wann sie mit ihrem Kind zum Arzt gehen. Es geht einfach ums Sparen an ganz vielen Stellen. Den Kindern Nachhilfestunden zu finanzieren, ist für die Eltern in so einer Situation noch viel weniger drin. Die Armut schränkt die Entfaltungsmöglichkeiten der Kinder ungemein ein.
Ilse Wolter, 57, ist Quartiersmanagerin. Das Quartiersmanagement, gefördert vom Senat, versucht, die Lebensverhältnisse in benachteiligten Stadtteilen etwa durch Vernetzung verschiedener Initiativen zu verbessern