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Archiv-Artikel

DIE TORSTRASSE UND DAS BLUT-UND-BODEN-PROBLEM DER GENTRIFIZIERUNGSKRITIK Wir sind die Schurken von morgen

VON ULRICH GUTMAIR

Letztes Wochenende erschien die Berliner Illustrirte Zeitung, das ist die Wochenendbeilage der Morgenpost, mit einem Multiple-Choice-Test auf dem Aufschlag. Frage: „Berlins coolste Straße?“ Mögliche Antworten: Kastanienallee. Fasanenstraße. Torstraße. „Auflösung Seiten 4 und 5.“ Dort erklärten unter anderem zwei Stenze, die eben einen neuen Stenzeladen für irgendwelche Gadgets auf der Torstraße eröffnet haben, selbige habe das Zeug zur neuen Kastanienallee. Na sauber, sagt da der grantige Mann in mir.

Wenn die Straßen und Plätze in der Stadt, die einem über die Jahrzehnte ans Herz gewachsen sind, entblößt und aller Welt als das Coolste überhaupt verkauft werden, dann stellt sich im Gemüt ein Gefühl der Heimatlosigkeit ein. Nicht mal das ist mehr meins, seufzt es von ganz tief unten. Können sie einem denn gar nichts lassen, die Bürgerkinder aus Wiesbaden, die Trendscouts und Schuhverkäufer, die Fashion Victims und Facebook-Opfer, die hippen Dinger in den Redaktionsstuben? Muss denn jede Straßenecke an der Innenstadtfront neu vermessen und auf ihr Potenzial in den Verwertungszusammenhängen untersucht werden?

Ja sicher, das muss, antworte ich der leicht weinerlichen Stimme von ganz tief unten. Erst mal Gegenfrage: Was heißt hier überhaupt „meins“? Gehört uns vielleicht ein Grundstück, ein Haus oder wenigstens eine Wohnung in Mitte? Die ganze Weinerei über die Gentrifizierung besteht in der unsauberen Operation, einfach mal „meins“ zu sagen. Durch Pioniertaten habe man sich irgendwie Anteile an der Straße, dem Kiez, dem Bezirk erworben, wird behauptet. Jetzt wolle man gefälligst ein Wörtchen mitzureden haben.

Nichts gegen Mikropolitik, wenn sie sich vernünftig begründet. Das Problem ist die moralisierende Verwechslung eigener Verwurzelungstendenzen mit Ansprüchen, die man politisch nennen darf. Das führt dann etwa in Kreuzberg gern mal dazu, dass langhaarige Exhausbesetzer rassistisch gefärbten Unsinn über ihre türkischen Nachbarn zum Besten geben. Dabei waren Letztere nun wirklich vorher da und haben gemäß der infantilen Heimatlogik auch die tieferen Wurzeln. Man könnte es das Blut-und-Boden-Problem der Stammtisch-Gentrifizierungskritik nennen.

Investments in Grundstücke und Häuser sollen sich lohnen, sonst würde man sie nicht tätigen, außer man hat grade massiven Abschreibungsbedarf. Wenn junge, nicht allzu abgerissene, irgendwie kreativ tätige und womöglich akademisch gebildete Leute einem die Gegend aufwerten, dann ist das für Investoren eine schöne Sache, die den jungen Leuten auch bekannt ist. Die Ausprache des G-Worts macht ihnen keine Schwierigkeiten. Trotzdem turnen sie mit den ältesten Rebellionsgesten durch ihre Straßen, ganz so, als hätte es die Witze Malcolm McLarens nie gegeben. Sie machen bunte Läden auf, kaufen und verkaufen, sind trendy und immer online. Zwischendurch regen sie sich über Gentrifizierer auf, die nicht sie selber sind. Dann und wann sprühen sie „Schwabe raus“ an irgendeine Wand. Als Wiesbadener sind sie ja fein raus.

Die Pioniere, die sich von der wilden Berliner Mitte schlucken ließen, wie einst die Neuamerikaner, die lieber in die Wälder gingen, als sich mit Ackerbau und Viehzucht kaputtzumachen, waren auch naiv. Aber zumindest das wussten sie besser: Wenn man nicht gentrifizieren will, darf man auch keinen Wind machen. Sie schrieben keine Blogs. Das Fotografieren an den Orten ihrer Freizeitaktivitäten verboten sie sich. Ihre Klamotten kauften sie im Kilo beim Second Hand, um mehr Zeit zum Herumlungern zu haben. Klar, sie waren ja auch Paranoiker, was den gefährlichen Einfluss medialer Exposure auf soziale Kleinstbewegungen angeht. „Sometimes paranoia’s just having all the facts“, hatte ihnen der alte William Burroughs zugeraunt, deswegen verschwanden sie lieber gleich in einer Grauzone. Wenn sie sich heute zufällig auf der Torstraße treffen, zwinkern sie sich unauffällig zu.