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Archiv-Artikel

Düstere Gegenwartsdiagnosen mit Wenzel, und „es hilft nicht einmal mehr der Rausch“

Dass Rauschmittel in der Geschichte der Kunstherstellung eine nicht ganz unwesentliche Rolle spielen, mag ja ein Allgemeinplatz der Kulturgeschichte sein. Aber in den postmodernen, gesunden Zeiten hat das Kreativdoping mittlerweile keinen allzu guten Stand mehr. Schriftsteller spielen in Fußball in der Autoren-Nationalmannschaft, Rapper versuchen sich als Basketball-Profis, Rentner dürfen keinen Eierlikör mehr schlürfen, sondern werden zum Gehirnjogging verdonnert, und selbst die Punks sind immer öfter straight edge. Nein, das Saufen ist auch nicht mehr das, was es mal war. Selbst bei Wenzel nicht.

Dabei hat sich doch Hans-Eckardt Wenzel in seiner langen Karriere um die Ehrenrettung des durch Alkohol induzierten Rausches durchaus immer wieder verdient gemacht. Nicht nur, weil er manches Lied darüber geschrieben und gesungen hat, wie Vergorenes das Leben erträglicher macht. Sondern auch, weil er als studierter Kulturwissenschaftler wohl ganz problemlos die dazugehörige Theorien aufsagen könnte.

Was müssen wir aber nun auf seinem neuen Album „Kamille und Mohn“ hören? Da singt der mittlerweile 55-jährige Wenzel zwar von einer „Jugend in S.“, und der „steht die Welt so offen wie eine Flasche Fuselwein“, aber diese Jugend ist, und das findet der Dichter dann doch bedenklich, „früh um sieben schon besoffen“ und will nachmittags zur Bundeswehr gehen, um in fremden Ländern auf Staatskosten Menschen totzuschießen. „Alle Mühen sind vergebens, keine Sau braucht hier Statistik“, schlussfolgert Wenzel und lässt dann seine Protagonisten fordern: „Gebt uns Geld und leckt uns richtig.“

Es ist, zumal für Menschen, die das eine oder andere ostdeutsche Dörfchen kennen, eine durchaus angemessene Einschätzung. Aber sie ist vor allem recht symptomatisch für „Kamille und Mohn“. Ein so düsteres Album hat Wenzel schon lange nicht mehr herausgebracht. Die Musik, gern verziert mit der wehmütig trötenden Tuba und dem kaum minder melancholischen Fagott, schleicht oft mit eingezogenem Kopf daher, und die von Wenzel gewohnten Ausflüge in den derben Humor sind selten geworden. „Tristes Zimmer“ heißt ein Lied, und an anderer Stelle singt Wenzel: „Alles Schöne ist längst gewesen.“ Die schlechte Laune gipfelt in „Schöne Welt“, in dem Wenzel von der Finanzkrise über den Missbrauch in katholischen Einrichtungen bis zu schwitzenden Russen und streitenden Schwaben kaum ein Übel der aktuellen Zeiten auslässt.

So schlimm ist die Welt, da geistern dann natürlich trotzdem wieder fröhlich die Rauschmittel durch die Lieder. Und nicht nur durch die. Innen in der CD sind Bilder, auf denen raucht Wenzel demonstrativ, und im liebevoll gestalteten Booklet sind neben den Texten allerhand Kräuter abgebildet, die nicht nur rein medizinischen Zwecken dienlich sind. Der Mohn aus dem Albumtitel, ist da zu lesen, verschafft „schöne Träume“. Aber, wie es Wenzel in seinem Lied „Joseph Roth in Paris“ selbst feststellt: „Es hilft nicht einmal mehr der Rausch.“ THOMAS WINKLER

■ Wenzel: „Kamille und Mohn“ (Matrosenblau/Indigo), Record-Release-Konzert am 24. 11. im Maxim-Gorki-Theater bereits ausverkauft