: Schattenseiten einer Kolonie
AUS DUISBURG ANNIKA JOERES
Abdul Bati hat genug von seinen Landsleuten. „Ich möchte wieder Deutsche sehen“, sagt der türkischstämmige Kaufmann. In Duisburg-Hochfeld lebten viel zu viele Türken. „Das hat sich hier alles sehr verschlechtert“, so der 35-Jährige im weißen Kittel. Bati fühlt sich nicht mehr wohl in seinem Viertel. „Ich bin hier ausgegrenzt.“ Dabei ist Abdul Bati mehrsprachig, seinen KundInnen bietet er Kürbisse, zehn Sorten Schafskäse und Sesamkringel auf Kurdisch, Türkisch, Italienisch und Serbokroatisch an. Sein Deutsch ist in den vergangenen Jahren aber immer schlechter geworden, sagt er. Deutsche KundInnen verirrten sich nur noch selten in seinen Laden.
„Hochfeld ist eine ethnische Kolonie“, sagt Rauf Ceylan. Der Politikwissenschaftler hat für seine Doktorarbeit 83 Interviews geführt, mit Cafébesitzern, Mitgliedern von Moscheevereinen, HändlerInnen und PassantInnen. Als Türkisch sprechender, gebürtiger Duisburger hatte er keine Probleme, mit den Hochfeldern in Kontakt zu kommen, viele kannte er noch aus seiner Jugend. Heute läuft er mit Sakko und einer Zeitung in den Händen durch die Straßen, grüßt junge und alte BewohnerInnen.
Bei seinen monatelangen Recherchen stieß der 35-Jährige auf eine Kolonie mitten in der Stadt, eine kleine Welt für sich, die die BewohnerInnen nicht oft verlassen. Hier leben ihre FreundInnen, hier kaufen sie ein, hier arbeiten sie. Oder suchen eine Arbeit. Mehr als 30 Prozent von ihnen sind ohne Job. „Die Menschen sind nicht freiwillig hier“, sagt Ceylan. Dabei war Hochfeld mal ein wohlhabender Stadtteil, zentral gelegen, links und rechts Boutiquen, Bäcker, Restaurants. Heute sind links Wettbüros, rechts Dönerbuden. Mehr als ein Drittel der BewohnerInnen kommt aus dem Ausland oder hat ausländische Eltern.
Rauf Ceylan hat lange Zeit gezögert, seine Ergebnisse zu veröffentlichen. „Ich hatte Angst, sie würden instrumentalisiert.“ Seine Berichte von illegalen Spielhöllen, Zwangsprostitution und Hehlerei könnten in den Medien für „eine neue Hetze“ benutzt werden, befürchtete er. Aber dann haben viele Wissenschaftler ihm geraten, seine Erkenntnisse zu veröffentlichen. „Die Menschen in Hochfeld haben wenig Chancen auf ein anderes Leben,“ sagt er immer wieder.
Die Häuserzeilen in Hochfeld wurden lange nicht renoviert. Der Putz bröckelt, die Fassaden sind mit Graffiti beschmiert. Die einzige Stadtbücherei ist längst geschlossen, heute werden dort Erotikvideos angeboten. „Die Menschen hier sind auf sich allein gestellt“, sagt Ceylan. In seinen Interviews haben sie oft schockierende Geschichten erzählt. Hinter dem Tresen in einigen Cafés stehen bulgarische Frauen mit befristetem Visa, sie kassieren zwanzig Euro am Tag. Macht sechshundert Euro im Monat, immer noch doppelt so viel wie in ihrer Heimat.
In einigen Cafés verkaufen Frauen nicht nur Tee, sondern auch ihren Körper. „Prostitution ist ein neues Phänomen“, so Ceylan. Während sich die einen Cafébesitzer weigern, überhaupt Frauen zu beschäftigen, bieten andere Sex an. Viele lassen die Frauen, die oft illegal eingereist sind, bei sich wohnen. „Dann kommt mehr Kundschaft“, haben sie zu Ceylan gesagt. Und auch: „Ich habe sie bei mir arbeiten lassen und habe sie nach Hause gebracht und gefickt. Daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht“, erzählt ein junger Cafébesitzer.
In vielen Hochfelder Cafés floriert das Glücksspiel, wird Alkohol ausgeschenkt, mit Drogen gehandelt. Viele Männer sind verschuldet. So steht es in Ceylans Arbeit – auf der Haupstraße ist dieses Schattenreich nicht zu erahnen. Männer sind selten zu sehen, hier schleppen meist Kopftuch tragende Frauen pralle Einkaufstüten. Sie laufen schnell und wollen nicht mit der Presse sprechen. Gegenüber Ceylan haben sie ihr Schweigen gebrochen und erzählt, wie ihre Männer das Geld verspielen. Wie sie die Spielsucht erst bemerken, wenn ihr Schmuck fehlt. Ihre Goldketten sind dann längst im Pfandhaus. „Oft zeigen die Frauen ihre eigenen Männer an“, sagt Ceylan.
Gegen die illegalen Spiele mitten in der Stadt scheinen die Behörden machtlos zu sein. Dort will man nicht öffentlich über die Kriminalität in dem Viertel sprechen. Eine Mitarbeiterin des Ordnungsamtes hat sich dennoch anonym geäußert. Sie wird oft beschimpft, wenn sie und ihre MitarbeiterInnen die Betriebe kontrollieren. Schließen sie eine illegale Teestube, öffnet ein paar Tage später die nächste, zwei Häuser weiter. Die Beamtin sagt: „Ich habe schon Spielhöllen gesehen, das ist zum Abwinken: mit allen Schikanen ausgestattet, im Hinterhof, mit riesigen Spieltischen, gesichert wie ein Bunker.“ Wenn die OrdnungsbeamtInnen an den Videokameras und Spionen vorbei zu den Tischen gelangen, ist meistens kein Geld mehr da.
„Sie haben alle die Hoffnung auf einen schnellen Gewinn“, sagt Ceylan. Die lokale Ökonomie aus Callshops und Dönerbuden biete nur wenig Möglichkeiten, die KundInnen haben kein Geld für teure Mäntel oder ein gutes Essen im Restaurant. „Die wenigen Arbeitsplätze im Viertel beruhen auf Selbstausbeutung“, so der Wissenschaftler. Die Verkäufer in den Dönerbuden würden nur die Produkte berechnen, nicht aber ihre Arbeitszeit. Oft stehen sie 16 Stunden neben dem heißen Dönerspieß, sieben Tage die Woche. Auch die sieben Frisöre führen einen Preiskampf. Ein Haarschnitt für Männer kostet in Hochfeld sechs Euro.
Bei Dieter Kohn ist eine neue Frisur noch 16 Euro wert, Waschen, schneiden, legen „für die Damen“ 20 Euro. Seinen „Frisör-Laden“ hat er vom Vater übernommen, aber jetzt bleiben die KundInnen aus. „Hier geht es den Bach runter“, sagt der 59-Jährige. Seine Haare sind akkurat zurück gegelt, seinem faltigen Kunden streicht er Pomade ins graue Haar. Zu viele türkische Frisöre drängelten sich auf seiner Straße, sagt er. „Früher war das hier ein wunderbarer Stadtteil, wir hatten alles.“ Aber dann musste er die vergangenen fünfzehn Jahre zusehen, wie junge Familien wegzogen. „Die Stadt ist schuld“, sagt er, der Senior mit Pomade im Haar nickt.
Zur „guten Zeit“ von Kohn war Duisburg-Hochfeld ein wohlhabender Stadtteil mit Parks und einem stadtbekannten Feinkostmarkt. Bis Ende der 1960er Jahre wohnte hier die so genannte Mittelschicht, junge Familien. Dann gingen tausende Arbeitsplätze in der Industrie verloren, zogen deutsche Mittelschichtsfamilien weg und türkische Familien nach. Seit Beginn der 1990er Jahre ließen sich auch Kriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien sowie Spätaussiedler aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion nieder. 35 Prozent der Bevölkerung sind ausländischer Herkunft. Gefühlt sind es aber viel mehr. Bei einer Umfrage gaben sowohl deutsche als auch türkische Bewohner an, 80 Prozent der Hochfelder seien türkisch.
Bei seinen Forschungsarbeiten traf Ceylan auf viele verschiedene Gruppen in dem kleinen Stadtteil. „Die türkische Community ist vielfältig“, sagt er. Jedes Café wirbt um andere Gäste: aus der Schwarzmeerregion, aus dem Osten der Türkei, aus Griechenland, Alte oder Junge. Nur Frauen trinken ihren Cay zu Hause. In ganz Duisburg haben sich 49 Moscheevereine gegründet, in Hochfeld gibt es sieben verschiedene mit hunderten von Mitgliedern. „In diesen Vereinen spielt sich das Leben ab“, sagt Ceylan. Er findet, die Stadt sollte dieses „bürgerschaftliche Engagement“ fördern, bisher seien die Vereine nur verteufelt worden. „Über sie kommt die Stadt an die Bewohner heran“, sagt er.
Der Moscheeverein in einer Seitenstraße ist an einer faustgroßen Plakette neben der Haustür zu erkennen. Im Flur hängen Bilder der verstorbenen Mitglieder und eine riesige Pappe: Jede Familie hat eine Feld. Ein X bedeutet, der Monatsbeitrag von fünf Euro wurde schon bezahlt. Die meisten zahlen viel mehr als den obligatorischen Fünfer.
Das Café ist renoviert, helle Holzmöbel, bunte Tischdeckchen und gepolsterte Eckbänke sehen fast unbenutzt aus, auf einem riesigen Flachbildschirm läuft ein türkischer Sender. Die vier Männer am Tisch haben alle mit angepackt. „Wir haben das alle zusammen gebaut“, sagt Abdullah Kabadai stolz. Er verbringt seine Tage hier im Café, spielt Karten, geht fünf Mal täglich in die Moschee, nur eine Tür weiter. „Mein Leben ist hier“, sagt der 66-jährige Rentner. Früher hat er bei Mannesmann gearbeitet und in einer Werkswohnung gelebt. „Das war ein offenes Gefängnis“, sagt er. In den Werkswohnungen gab es deutsche Aufseher, Besuch war nur zu bestimmten Zeiten erlaubt, beten nur heimlich. Auch auf der Arbeit wurden die Nationalitäten getrennt. „Ich hatte einen deutschen Vorarbeiter, der konnte nicht einmal seinen Namen schreiben“, sagt der kleine schwarzhaarige Kabadai. Aber die 17 türkischen Arbeiter, „allesamt kompetent“, mussten seinen Befehlen folgen.
Heute sieht Kabadai selbst aus wie ein Chef, er trägt einen Nadelstreifenanzug, Weste, Schlips, sein dunkler Schnurrbart ist in Form gelegt. Für Kabadai hat erst später, mit den eigenen Wohnungen, den Cafés, der Moschee, das schöne Leben begonnen. „Sicher, früher haben wir bessere Kontakte zu den Deutschen gehabt.“ Kabadai zuckt mit den Schultern. Aber die seien ja alle weggezogen, und so seien sie jetzt wieder unter sich. „Ist schade“, sagt er, „schöner ist es gemixt.“
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